Meinung

Erst Revolution, dann Kollision? Was ein kommender Elitenwechsel in Europa für Russland bedeutet

Der Sieg einer Rechtskoalition bei den italienischen Wahlen ist vielleicht nicht der Anfang, aber das erste Signal eines längeren Prozesses des politischen Elitenwechsels in Europa. Eine Analyse aus russischer Perspektive.
Erst Revolution, dann Kollision? Was ein kommender Elitenwechsel in Europa für Russland bedeutetQuelle: www.globallookpress.com

Von Timofei Bordatschow

Russland sollte nicht erwarten, dass die neue italienische Regierung in der Lage sein wird, das Abgleiten der Europäischen Union in einen verhängnisvollen Konfliktstrudel mit Russland zu verhindern. Dafür ist die Zeit noch nicht reif. In jedem Fall ist die wichtigste Aufgabe jeder Opposition, den Kurs nach innen zu ändern, nicht nach außen. Die europäische Opposition hat den letzten "Marsch" an die Macht hoffnungslos verloren – die etablierten Parteien konnten durch die Bekämpfung des Coronavirus ihr Machtmonopol zurückgewinnen. Die neuen politischen Kräfte in Europa erhalten nun eine zweite Chance, deren Umsetzung wird jedoch sehr zeitaufwendig.

Einer der wichtigsten Faktoren, der die politisch-militärische Krise in Europa unvermeidlich machte, war die Entwicklung der europäischen politischen Eliten nach der Beendigung des Kalten Krieges. Richtiger wäre es natürlich, diesen Prozess als Degradierung zu bezeichnen, wie es nationale und europäische Beobachter oft tun. Heute sehen die herrschenden Kreise der führenden EU-Länder keine Möglichkeiten zur Lösung der aufgelaufenen sozioökonomischen Probleme und versuchen lediglich, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit mit externen Herausforderungen abzulenken – einer COVID-19-Pandemie oder der "russischen Bedrohung". Diese Versuche wirken nicht überzeugend genug.

Wir sollten nicht vergessen, dass der gegenwärtige Zustand der herrschenden Eliten nicht nur in den führenden Staaten, sondern in allen Staaten der Alten Welt eine objektive Folge eines historischen Prozesses ist, den niemand beeinflussen kann. Und nun werden wir sehr wahrscheinlich Zeuge des Beginns eines großen Wandels und des Aufstiegs einer neuen Generation von Politikern. Die Frage ist: Sollte Russland darüber beunruhigt sein?

Die Erfahrung mit Europa legt nahe, dass eine Revolution westlich der russischen Grenzen für Russland immer ein gefährliches Phänomen ist. Zweimal in den letzten 200 Jahren haben radikale Veränderungen in den politischen Systemen Europas zu Invasionen auf russischem Territorium geführt, die fast katastrophale Verwüstungen verursachten. Napoleon, die Schöpfung der Französischen Revolution, hat die alte Ordnung buchstäblich zerstört. Auch die nationalsozialistische Revolution in Deutschland fegte die alten Eliten hinweg und versuchte, einen neuen Staat zu schaffen. Beide Male, 1812 bis 1814 und 1941 bis 1945, musste Russland die Eindringlinge vertreiben und schließlich die alte Ordnung in Europa wiederherstellen.

Der Sieg Russlands über Nazi-Deutschland führte nämlich dazu, dass ausgerechnet die Europäer, die genau betrachtet maßgeblichen Anteil am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatten, nämlich die Briten und die Franzosen, wieder an die Spitze zurückkehrten. Bereits 150 Jahre zuvor hatte der Einzug der russischen Armee in Paris das europäische Gleichgewicht der Kräfte wiederbelebt, dessen Teilnehmer keinerlei Sympathien für Russland hegten. Darüber hinaus brachte der gemeinsame Kampf gegen den Nationalsozialismus und dessen Niederlage die US-Amerikaner nach Europa, was die Europäer selbst der Möglichkeit beraubte, ihre eigene Politik zu bestimmen. So hat Russland in seiner Geschichte weder den radikalen Veränderungen in Europa noch den daraus resultierenden Niederlagen etwas Gutes abgewinnen können. Dies ist für viele ein Grund zur Besorgnis – mit der wahrscheinlichen Machtübernahme der europäischen Rechten könnten sich die gefährlichen Ereignisse für Russland wiederholen.

So könnte Russland aufgrund früherer Erfahrungen mittelfristig wieder vor der Alternative zwischen einer feindlichen Stagnation einerseits und noch feindlicheren revolutionären Bewegungen andererseits stehen. Bei den radikalsten Entwicklungen ist nicht auszuschließen, dass bereits in zehn bis 15 Jahren in den großen europäischen Staaten politische Regime errichtet werden, die sich radikal von dem unterscheiden, an das wir uns in den letzten 80 Jahren gewöhnt haben. Dabei geht es nicht um Feindseligkeit an sich: Aufgrund ihres Mangels an Ressourcen werden die europäischen Nachbarn Russland in jedem Fall als Konkurrenten und potenzielles Übernahmeobjekt betrachten. Interessant ist vor allem die Einschätzung, wie schnell ein Elitenwechsel in Europa diese Mächte auf Kollisionskurs mit Russland bringen und welche Formen dieser Wettbewerb annehmen wird.

Bislang kann man davon ausgehen, dass es für Russland strategisch viel sicherer wäre, diejenigen an der Macht zu halten, die Europa in die gegenwärtige Sackgasse geführt haben. Diese Eliten sind nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und haben ihre Macht gerade im Zuge der Entmachtung Europas erhalten. Die Anwesenheit von Politikern wie Scholz oder Macron an der Spitze ist die beste Garantie dafür, dass alle Vorschläge, Europa aufzurüsten oder es zu einem wichtigen Sicherheitsakteur zu machen, auf dem Papier bleiben. Es ist klar genug, dass die in diesem Jahr angekündigten Pläne zur Aufrüstung Deutschlands, der führenden Macht in Europa, bisher nicht sehr alarmierend aussehen. Die bisher angekündigten Verteidigungsausgaben – rund 100 Milliarden Euro – können keineswegs als ausreichend angesehen werden, um das gesamte Paradigma der militärischen Entwicklung dieses Landes zu verändern.

Dies umso mehr, als diese Entscheidungen ohnehin von politischen Eliten getroffen werden müssen, die eng mit den USA verbunden sind. Warum müssen sie denn nun fähig sein, die auf den Trümmern Europas nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Entwicklung zu ändern? Wir haben bereits festgestellt, dass ihre wichtigste Funktion darin besteht, Deutschland und Europa, das Berlin zunehmend kontrolliert, unter US-Kontrolle zu halten. Auch die USA selbst werden Europa keine Autonomie gewähren, auch nicht unter dem Vorwand, Russland oder China zu bekämpfen. Erstens könnte es den Europäern die Illusion vermitteln, dass sie die Beziehungen zu Russland auf der Grundlage der Erfahrung eines komplexen, aber diplomatischen Engagements über mehrere Jahrhunderte hinweg wiederherstellen können. Zweitens ist die eigenständige Rolle Europas gegenüber China völlig überflüssig – in einem Konflikt mit Peking können die Europäer nur klar definierte Unterstützungsaufgaben für die USA übernehmen.

Der einzige Weg für die führenden europäischen Staaten, sich von der US-Vormundschaft zu befreien und eine eigene politisch-militärische Identität zu schaffen, besteht daher in einem tiefgreifenden innenpolitischen Wandel in der Alten Welt. Dies sollte eine Revolution sein, die wirklich die alten Eliten hinwegfegt und auf das Überleben der europäischen Staaten unter den neuen turbulenten Bedingungen abzielt. Wir sehen, dass die Reserven für eine solche Revolution bisher begrenzt sind.

Trotz der Bewegung des öffentlichen Meinung nach rechts, der unter dem Druck der Wirtschaftskrise und des Zustroms von Migranten unvermeidlich ist, haben alternative Bewegungen und Parteien in Deutschland und Frankreich noch nicht ausreichend an Stärke gewonnen. Das Beispiel Italiens könnte hier interessant sein, denn in diesem Fall wird die neue Regierung bereits auf einer Koalition der Rechten und eines Teils der traditionellen Elite, vertreten durch Silvio Berlusconi, aufgebaut sein. In den wirtschaftlich und bevölkerungsmäßig stärksten Ländern der EU gibt es jedoch nichts Vergleichbares.

Auch die allmähliche Ablösung der traditionellen Eliten durch neue Kräfte wird nicht sofort zu einem radikalen Wandel in der Außenpolitik führen. Das Ausmaß der wirtschaftlichen und ordnungspolitischen Probleme ist so groß, dass jede neue Regierung damit fertig werden muss, insbesondere in einem schwierigen internationalen Umfeld und unter Druck von außen.

Auch das Ausmaß der Verwüstungen, die Europa in der Mitte des 20. Jahrhunderts erlebte, sollte nicht unterschätzt werden; die Folgen haben sich möglicherweise so tief in das Gedächtnis der Europäer eingebrannt, dass es unmöglich wäre, ihr Verhalten radikal zu ändern. Die Nationalsozialisten kamen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg fast unmittelbar nach der demütigenden Niederlage an die Macht, eine Bewegung, die sich auf Menschen stützte, die den Krieg überlebt hatten und davon überzeugt waren, Opfer eines inneren Verrats geworden zu sein. Jetzt werden wir es mit Europäern zu tun haben, die 80 Jahre relativ friedlicher Existenz hinter sich haben. Mit anderen Worten: Sollte Europa, das sich in einer neuen, schnellen oder schleichenden Revolution erneuert, eine Bedrohung für Russland darstellen, so würde dies erst nach einer sehr, sehr langen Zeit geschehen.

Übersetzt aus dem Russischen.

Zuerst erschienen bei Wsgljad. Timofei Wjatscheslawowitsch Bordatschow (geboren 1973) ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der HSE Universität in Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.

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