Meinung

Zwischen Jubel und Mobilmachung – Reaktionen zu Kiews "großem Sieg" bei Isjum

Nachdem im ersten Teil die realen Ereignisse um Isjum betrachtet wurden, geht es nun um die Reaktionen darauf. Im Westen wie im Osten. In den NATO-Staaten wird schon der Sieg der Ukraine gewittert, in Russland wird Eskalation gefordert, und Analytiker fordern bessere Kommunikation. (Teil 2)
Zwischen Jubel und Mobilmachung –  Reaktionen zu Kiews "großem Sieg" bei IsjumQuelle: www.globallookpress.com © Ukraine Presidential Press Service

Von Dagmar Henn

Es muss nicht wundern, dass die westlichen Medien von der Geschichte des ukrainischen "Sieges" trunken sind, selbst wenn eine Oma mit Krückstock geräumte Stellungen besetzen könnte. Die FAZ beispielsweise schreibt: "Die russischen Angreifer hatten in den vergangenen Tagen fluchtartig weite Teile des Gebiets Charkiw verlassen." Das ZDF interviewt einen pensionierten Oberst, der erklärt: "Es ist noch keine strategische Wende, also das Ende des Krieges ist noch nicht absehbar. Aber es ist ein großer Erfolg für die ukrainischen Streitkräfte." Die Süddeutsche holt sich ihren Zeugen von der Bundeswehrhochschule: "Wenn die russische Armee sich nicht mehr richtig formieren könne und die Front im Süden zusammenbricht, bestünde sogar die Möglichkeit, dass der Krieg noch in diesem Jahr endet." Direkt zitiert wird dieser Professor Masala mit dieser Aussage: "Einige kleinere Einheiten verhandeln wohl schon die Kapitulation. Wenn diese Front zusammenbricht, dann sieht es echt übel für die Russen aus."

Genau diese Sicht findet sich dann auch in der Aussage von Bundeskanzler Olaf Scholz zu seinem Telefonat mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin: "Leider kann ich Ihnen nicht sagen, dass dort jetzt die Einsicht gewachsen ist, dass das ein Fehler war, diesen Krieg zu beginnen." Als wäre die ukrainische Inszenierung tatsächlich ein Grund für Putin, seine Positionen zu ändern.

Die deutsche Presse ist da auf einer Linie mit den angelsächsischen. Bloomberg: "Nach der Erniedrigung durch blitzschnelle ukrainische Gewinne auf dem Schlachtfeld steht der russische Präsident Wladimir Putin sich verringernden Optionen gegenüber, während er sich bemüht, die Gezeiten für seine sich seit sieben Monaten abkämpfende Invasion zu wenden. (...) Aber Russlands Truppen halten immer noch Schlüsselstellungen in der Donbass-Region der Ukraine und liefern deren Truppen bei Cherson im Süden schwere Kämpfe."

Das klingt, als würden die alliierten Truppen gerade noch einen kleinen Zipfel halten und wären nicht gerade dabei, Awdejewka und Artjomowsk einzunehmen. Noch einen Schritt weiter geht die Propagandistin Anne Applebaum in ihrem Text in The Atlantic: "Während ich dies schreibe, sollen ukrainische Truppen am Stadtrand von Donezk kämpfen, einer Stadt, die Russland seit 2014 besetzt hat. (...) Eine neue Wirklichkeit wurde geschaffen. Die Ukrainer könnten diesen Krieg gewinnen."

Die Voraussetzungen für die Reaktionen auf russischer Seite unterscheiden sich natürlich; unter anderem dadurch, dass die Informationen über ukrainische Repression allgemein verbreitet sind. Es ist nicht das geräumte Gelände, das Emotionen auslöst, sondern die Sorge um die Zurückgelassenen. Und das ist kein Wunder, wenn Bilder wie dieses zirkulieren:

Die Fahne rechts zeigt unverkennbar den Totenkopf der SS, und die bunte in der Mitte ist die der tschetschenischen Islamisten.

Gleichzeitig finden sich Meldungen über eine zunehmende Zahl ausländischer Söldner. Der Schriftsteller Sachar Prilepin, der selbst eine Zeit im Donbass gekämpft hatte, berichtet beispielsweise unter Bezug auf eine militärische Quelle: "Sie [die Ukrainer] schickten ihre Vorhut die Autobahn entlang – wir haben sie abgeschnitten und gefangen genommen. Das Ergebnis war eine ausreichende Zahl gefangener Feinde. Die meisten sind Söldner. Alle sind Briten oder Polen."

Wenn man sich an die Prozesse gegen bereits gefangene Söldner in Donezk erinnert, ging es dabei auch darum, den Regierungen ihrer Heimatländer zumindest einen Anreiz zu geben, einzugestehen, dass sie in offiziellem Auftrag unterwegs waren. Auch die Vermutung, dass ein großer Teil der Bedienmannschaften etwa der HIMARS-Raketenwerfer nicht ukrainisch ist, sondern mehr oder weniger formal als "Söldner" entsandt wurden, ist sehr verbreitet. Das muss man wissen, um die Kommentare zu verstehen.

So zum Beispiel der populäre Kriegsberichterstatter VoenkorKotenok (Voenkor ist nur die Abkürzung für Kriegskorrespondent) auf seinem Telegram-Kanal: "Nicht zuzugeben, dass Russland einen Krieg führt, ist die größte Dummheit, um das Mindeste zu sagen. Der Unwillen, nüchtern zu werden, wird sich in die Tatsache verwandeln, dass sie dich zwingen werden, nüchtern zu werden. Und es werden nicht die Kriegskorrespondenten sein, die sie zwingen, sondern das Leben selbst, von der Koalition [NATO] ganz zu schweigen, die bereits heimlich Militärkontingente in die Ukraine schickt."

Oder Alexander Kots, Kriegsreporter der Komsomolskaja Prawda: "Je schneller wir begreifen, dass es zwecklos ist, eine besondere Militäroperation (SMO) gegen die NATO zu führen, sondern dass wir einen Krieg führen müssen, desto besser ist es. Denn der Konflikt ist bereits in eine existenzielle Phase eingetreten. Es ist ein Kampf ums Überleben. Entweder wir siegen oder nicht. NATO-Ausrüstung, Ausbilder, Aufklärung, Daten von Satelliten, Überwacher von HIMARS-Mannschaften, Söldner, private Militärunternehmen, die Verträge des Pentagon erfüllen, einäugige Unterstützung durch westliche Medien ... Abgesehen von dem Fleisch aus den Mobilmachungen ist nichts Ukrainisches in diesem Konflikt mehr übrig."

Eher im Bereich der Andeutungen bleibt ein weiterer Reporter, Alexander Sladkow, und schickt sogar noch die Bemerkung voraus: "Jungs, ich bin kein Experte. Das ist nur die persönliche Meinung eines Reporters", und schreibt dann: "Unser ganzes Mutterland muss antworten. Andernfalls werden die ukrainischen Streitkräfte, wo sie endlich unseren schwachen Punkt gefunden haben, all ihre Reserven hineinstecken."

Viele Beiträge auf diesen Kanälen werden hin- und hergeteilt, beispielsweise auch auf dem Kanal Rybar. Das macht es schwer zu schätzen, wie viele Leser diese Mitteilungen erreichen; es dürften weit mehr sein, als die Zahl der Abonnenten dieser Kanäle erkennen lässt. Aber es ist bereits aus dieser kleinen Auswahl zu ersehen, dass hier von Mobilmachung die Rede ist.

Polen und Briten tauchen auch in der Berichterstattung etwa in der Zeitung Wsgljad auf, die den Vorsitzenden einer prorussischen Vereinigung aus Saporoschje zitiert: "Nebenbei, beim Abhören der Funkmeldungen hört man Polnisch und Englisch, das heißt, gegen uns kämpft bereits eine Art Internationale, unterstützt von den Oligarchen mehrerer Länder." In einem weiteren Artikel derselben Zeitung macht der Botschafter der Lugansker Volksrepublik, Rodion Miroschnik, folgende Aussage: "Wir haben es mit einer gut geölten westlichen Maschine zu tun, die jahrelang daran gearbeitet hat, die ganze Ukraine umzuformen. Und meiner Meinung nach ist der wichtigste Schluss, der heute gezogen werden muss, dass Russland nicht länger halbherzig kämpfen kann."

Es gibt aber auch gegenteilige Meinungen, etwa von Alexander Chodakowski, dem Kommandeur der Brigade Wostok in Donezk: "Glücklicherweise haben wir nur Mist gebaut – das kann repariert werden." Er wendet sich explizit gegen eine allgemeine Mobilmachung: "Ich sehe, wie einige wollen, dass der Präsident diese Entscheidung trifft, und Einflussagenten werden genutzt, die versuchen, die Meinung zu erzeugen, dass wir ohne allgemeine Mobilmachung nicht siegen werden – seid vorsichtig: Wenn inkompetente Kommandeure unausgebildete Massen ungesicherte Leute antreiben, um die Lage zu korrigieren – dann endet das weder militärisch noch sozial gut. Jetzt, in dieser Phase, ist es nötig, die Wirksamkeit dessen, was wir haben, zu verbessern, und die Freiwilligenbewegung in Russland zu aktivieren."

Auch auf die politische Ebene ist diese Debatte bereits vorgedrungen; der Vorsitzende der KPRF forderte die Mobilmachung, Putins Sprecher Peskow erwiderte: "Im Moment – nein, das ist nicht die Frage." Boris Roschin, ein bekannter Blogger, kommentierte das auf seiner Webseite so: "Dreht den Hahn auf."

Neben diesen auf Problemlösung orientierten Kommentaren führte der auch für das russische Publikum erst einmal überraschende Rückzug gekoppelt mit massiv verbreitetem ukrainischem Siegesgeschrei zu großer Verunsicherung. Der britische Analytiker Alexander Mercouris kommt zu dem Schluss, das sei der zweite Teil des Angriffs gewesen, und an diesem Punkt zeige Russland echte Schwächen. Man müsse nämlich davon ausgehen, dass die Panik, die der längst laufende Rückzug dennoch ausgelöst habe, auch bis zu den kämpfenden Einheiten vordringe, einschließlich solcher Meldungen, die behaupten, die Front würde zusammenbrechen. Auf diese Weise hätte aus einer Fiktion Wirklichkeit werden können. Sein Fazit: Das russische Verteidigungsministerium solle sich ein Vorbild an der Kommunikation des Außenministeriums nehmen.

Auf einer ähnlichen Ebene liegt die Analyse von Andrei Raewski vom Saker. Er geht so weit, anzunehmen, der Westen habe inzwischen seine Strategie geändert und versuche, Russland politisch nicht mehr über russische Liberale zu sprengen, sondern über Nationalisten, die Panik verbreiten und ständig von drohender Niederlage schreiben. Auch seine Konsequenz zielt auf den Umgang mit Informationen, den Mangel an Erklärungen, und nicht auf einen Mangel an Personal oder eine Erweiterung des Einsatzes.

Bei der Einschätzung der realen Ereignisse geht er allerdings mit den meisten anderen konform. Martianow hat sich ausführlicher mit der Vorgehensweise der Ukrainer befasst und merkt an, dieser sei der Ursprung im "Blitzkrieg" der Nazis deutlich anzumerken, und er liefert einige interessante Informationen über die Nähe der US-Militärstrategie zu diesem Vorbild.

Alle diese Analytiker vertraten von vornherein die Ansicht, es handele sich um einen Konflikt zwischen Russland und der NATO, nicht einen zwischen Russland und der Ukraine. So auch Pepe Escobar. Aber sein Fazit ähnelt dem der russischen Kriegsberichterstatter: "Es könnte jetzt schmerzlich offenkundig sein, dass man, wenn der kollektive Westen gegen einen Krieg führt – hybrid und kinetisch, mit allem von massiver Aufklärung bis zu Satellitendaten und Söldnerhorden – und man darauf besteht, eine unklar definierte besondere Militäroperation (SMO) durchzuführen, mit einigen bösen Überraschungen rechnen muss. Also dürfte der Status der SMO sich bald ändern: Sie muss zu einer antiterroristischen Operation werden. Dies ist ein existenzieller Krieg. Das amerikanische geopolitische/geoökonomische Ziel ist, offen gesagt, Russlands Einheit zu zerstören, einen Regimechange zu erzwingen und all diese ungeheuren Ressourcen zu plündern. Die Ukrainer sind nur Kanonenfutter."

Teil 1 finden Sie hier.

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