Meinung

China und Taiwan: Die Kunst des Bluffs oder doch die letzte Warnung?

Seit dem Besuch von Nancy Pelosi, der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, in Taiwan letzte Woche hat sich die politische und militärische Lage in der Region dramatisch verändert. Ist alles nur ein Bluff oder folgt demnächst die von Peking angestrebte Wiedervereinigung?
China und Taiwan: Die Kunst des Bluffs oder doch die letzte Warnung?Quelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Christian Ohde

Gastkommentar von Dr. Karin Kneissl

Am Mittwoch veröffentlichte das Büro für Taiwan-Angelegenheiten des chinesischen Staatsrats ein Weißbuch mit dem Titel "Die Taiwan-Frage und Chinas Wiedervereinigung in der neuen Ära". Eine der eigentlich seit jeher bekannten Aussagen lautet: "Wir sind ein China und Taiwan ist ein Teil von China. Dies ist eine unbestreitbare Tatsache, die durch die Geschichte und das Gesetz gestützt wird. Taiwan war nie ein Staat; sein Status als Teil Chinas ist unabänderlich", heißt es in dem Weißbuch. Die beiden Vorgängerdokumente stammen aus den Jahren 1993 und 2000.  In der aktuellen Version pochen die Autoren darauf, dass die Wiedervereinigung zu beschleunigen sei. Unter anderem ist die Rede davon, ähnlich wie bei der Befreiung Pekings im Jahre 1949, die Insel zu umzingeln und mit friedlichen Mitteln zu übernehmen.

Kommt eine Blockade mit Wirtschaftskrieg?

Die Veröffentlichung dieses Papiers fällt mit der vorläufigen Einstellung der massiven chinesischen Manöver zusammen. Die chinesischen Streitkräfte simulierten eine militärische Übernahme der Insel, die nach Souveränität strebt. In dem Weißbuch heißt es, dass der Einsatz militärischer Mittel nur das allerletzte Mittel sei. Doch was bedeutet dies?

Peking kann angesichts der von der Staatsspitze mehrfach angekündigten harten Reaktionen und der angeheizten Stimmung unter der wachsenden Gruppe von Nationalisten nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Es ist eine Erwartungshaltung entstanden, welche der Staatsrat und das Politbüro bis zum kommunistischen Parteikongress in irgendeiner Form einlösen müssen. Bislang wurden zahlreiche bilaterale Dossiers zwischen den USA und China abgebrochen, landwirtschaftliche Produkte aus Taiwan kamen wie anderes auf die Sanktionsliste.

Wenn ich die Zusammenfassung dieses Weißbuchs richtig lese, dann sollen bestimmte Maßnahmen beschleunigt werden. Doch würde auch hier ein handfester Wirtschaftskrieg Chinas die weltweite Halbleiterproduktion, die auf Taiwan gleichsam konzentriert ist, ins Wanken bringen. Das trifft alle – so, wie Sanktionen immer zum Bumerang werden.

China befindet sich zweifellos in einem handfesten Dilemma, das mit einem Gesichtsverlust nach innen wie nach außen einhergeht.

Das russische Sprichwort von der "letzten chinesischen Warnung"

Die letzte "chinesische Warnung" ist ein Begriff, der in der UdSSR während der Verschärfung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen in den 1950er und 1960er Jahren genau wegen Taiwan geprägt wurde. Die erste Warnung wurde von China am 7. September 1958 in der Taiwan-Krise während des Zweiten Konflikts um die Küsteninseln herausgegeben. Die Vereinigten Staaten, die das kommunistische Regime in China nicht anerkannten, wohl aber das Regime von Chiang Kai-shek auf Taiwan, führten Aufklärungsflüge über den Hoheitsgewässern Chinas durch. Die Volksrepublik China registrierte alle Verletzungen ihres Luft- und Wasserraums durch die Vereinigten Staaten. Für jeden dieser Verstöße sandte die Regierung der Volksrepublik China über diplomatische Kanäle eine sogenannte "Warnung an die amerikanische Seite", ergriff jedoch keine Maßnahmen.

Daher nannten die Sowjets es scherzhaft "последнее китайское предупреждение", also die "letzte chinesische Warnung".

In Russland fand dieser Begriff als geflügeltes Wort Eingang in die Alltagssprache. Man hat den Eindruck, die Sowjetunion verfügte infolge der Jahrzehnte des Auf und Ab in den Beziehungen zwischen den beiden Nachbarn und in ihrer ideologischen Konkurrenz über eine tiefe, vielleicht auch richtige Einschätzung chinesischen "Kriegsgetrommels".

Staatenvertreter bluffen oft, wie auch Geschäftsleute bei Verhandlungen. Doch um erfolgreich aus einem Spiel der roten Linien und Drohungen hervorzugehen, müssen die Szenarien tatsächlich in all ihren Folgen richtig erfasst werden. Für jede Option und Unteroption militärischer Eskalation müssen Handlungsanleitungen vorliegen, die dann an die jeweilige Situation anzupassen sind. Noch ist unklar, ob und, falls ja, mit welchen Schritten Peking die Drohungen wahrmacht, die rund um die Provokation der Taiwan-Reise Pelosis angekündigt wurden.  Falls es nach dem neuen Weißbuch, das heißt eine angekündigte "Umzingelung" mit friedlichen Mitteln wie einst im Kampf um Peking im Bürgerkrieg von 1949, geht, dann ist wohl noch mit wirtschaftlichen Blockaden aller Art zu rechnen. Wie die USA und ihre Verbündeten reagieren könnten, lässt sich aus deren bisherigen Ankündigungen dahingehend interpretieren, dass der Westen sehr wohl bereit ist, sich auf einen Wirtschaftskrieg mit China einzulassen. Die EU will sämtliche mögliche Sanktionen der USA mittragen.

Die Welt organisiert sich neu

China seinerseits begann bereits vor dieser jüngsten Eskalation, sich von den USA abzukoppeln. Dies hat bedeutende Auswirkungen auf die US-Staatsanleihen, welche China jahrzehntelang aufkaufte und so die Schuldenpolitik der USA ermöglichte. Eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Beziehungen zu Europa wird massive Folgen für die deutsche Automobilindustrie haben, die über 50 Prozent ihres Umsatzes in China macht.

Mit Blick auf die Sicherheit will Peking sich stärker in neue regionale multilaterale Foren einbringen. Dazu gehört BRICS oder die Shanghai Cooperation Organisation (SCO). Während die chinesische Volksbefreiungsarmee im Jahre 1979 in Vietnam das letzte Mal militärisch zum Einsatz kam, verfügen die russischen Streitkräfte über tatsächliche Kampferfahrung.

Die USA müssen sich nun fragen, ob die Taiwan-Frage es wert ist, so hoch zu pokern. Von der Möglichkeit, einen Zweifrontenkrieg zu führen, ist in US-Fachmagazinen nun seit bald einem Jahr die Rede. Manche Autoren sind der festen Überzeugung, dass dies möglich sei, andere hingegen warnen davor. Viel ist davon abhängig, welche Ergebnisse das teure US-Engagement in der Ukraine zeitigt. Billionen US-Dollar wurden und werden in Waffen für die Ukraine investiert, das Budget für die eher fragile taiwanesische Armee und die gesamte Pazifikflotte ist hingegen mager.

Zur Erinnerung: Bis zur Annäherung der USA an die Volksrepublik China und zum Treffen zwischen Präsident Richard Nixon und Mao Zedong im Jahre 1971 saß Taiwan im UNO-Sicherheitsrat und unterhielt Beziehungen zu vielen westlichen Staaten. Die Staaten des Comecon hatten ihrerseits hingegen bereits zuvor Festland-China, also die Volksrepublik China, anerkannt. Der erste westliche Staat, der diplomatische Beziehungen mit Peking aufnahm, war Frankreich im Jahr 1964 unter Charles de Gaulle. In den 1970er Jahren wurde Taiwan infolge der Volte der USA, welche Außenminister Henry Kissinger mit seinem chinesischen Gegenüber, Premier Zhou Enlai, in geheimen Missionen vorbereitet hatte, fallengelassen. Washington pflegte fortan Beziehungen zu China, hielt aber mit der Politik der "strategischen Ambivalenz" an einer militärischen und politischen Unterstützung Taiwans fest.

Aber auch strategische Ambivalenz hat ihre Kosten. Es hat den Anschein, dass der Wirtschaftskrieg, der ohnehin gegenüber China spätestens seit den US-Strafzöllen unter US-Präsident Trump und der Huawei-Affäre geführt wird, in naher Zukunft noch an Intensität zunehmen wird. Zu den größten Verlierern wird Deutschland zählen, dessen Automobilindustrie das Rückgrat des Exportüberschusses bildet. Sanktionen werden von Politikern beschlossen, Unternehmer und die betroffene Bevölkerung müssen sie ausbaden.

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