Meinung

Emmanuel Macron und seine Visionen für die Zukunft der EU

Emmanuel Macron steht schon wieder in einem Wahlkampf und will zugleich die Europäische Union reformieren. Dafür greift er tief in die Annalen der Geschichte dieser EU sowie auch zu "grünen" Verheißungen.
Emmanuel Macron und seine Visionen für die Zukunft der EUQuelle: AFP © Emmanuel Dunand

von Pierre Lévy

Emmanuel Macron befindet sich – ganz inoffiziell – im Wahlkampf, um am 12. und 19. Juni eine Mehrheit der Abgeordneten in Frankreich zu gewinnen, die ihn unterstützen werden. Die meisten Umfragen deuten darauf hin, dass er dieses Ziel erreichen dürfte. Seine provisorische Regierung verspricht soziale Maßnahmen – wohl wissend, dass das Spiel vor allem auf dem Gebiet der Kaufkraft entschieden wird.

Der am 24. April wiedergewählte Präsident hütet sich davor, den aktuellen und künftigen Anstieg der Energiepreise mit den von der EU gegen Russland bereits verhängten oder vorbereiteten weiteren Sanktionen in Verbindung zu bringen. Außerdem ist er sich bewusst, dass er seine Wählerschaft nicht vergrößern kann, indem er über "Europa" spricht. Am 9. Mai hielt er jedoch eine Rede vor dem Plenum der Abgeordneten des "Europaparlaments" in Straßburg. Er nannte sie sogar ganz schlicht "Die Straßburger Eide".

Der (bis zum 30. Juni) amtierende Ratspräsident der Europäischen Union (EU) wollte damit die vor einem Jahr von der "EU" ins Leben gerufene "Konferenz über die Zukunft Europas" abschließen. Was denn, Sie wussten nichts davon? Seit Monaten haben doch 800 "europäische Bürger" hart gearbeitet und schließlich 49 "Bürgervorschläge" mit 325 Maßnahmen ausgearbeitet ... Die Teilnehmer dafür wurden natürlich ganz zufällig und demokratisch ausgelost, und – oh Wunder! – alle Vorschläge verlangen euphorisch und fieberhaft nach noch mehr "EU". Und zwar sogar in den verschiedensten Bereichen, von der Verteidigung über die Bildung bis hin zu einer noch "föderaleren" Reform all ihrer Institutionen.

Da die Lächerlichkeit dessen diejenigen nicht umbringt, die so tun, als würden sie von dieser spontanen "Europhilie" schwärmen, plädierte auch der französische Präsident für eine "unabhängigere" und noch "effizientere" EU. Ersteres müsse sich seiner Meinung nach in den Bereichen Militär, Umwelt, Ernährung und Information niederschlagen. Die Effizienz müsse "durch eine Reform auch unserer Texte, das ist klar" und somit durch die Einberufung eines Konvents zur Revision der Verträge der Europäischen Union gestärkt werden – ein ferner Nachfolger des "Europäischen Konvents" 2002/2003, angeregt von Valéry Giscard d'Estaing, der den Entwurf der EU-Verfassung mit dem bekannten Erfolg zur Welt brachte. Der heutige französische Präsident erntete also das Hurra der föderalistischsten aller europäischen Staats- und Regierungschefs, angefangen von Ursula von der Leyen, der Präsidentin der Europäischen Kommission, bis hin zu Mario Draghi, dem italienischen Ministerpräsidenten, der einen "föderalistischen Idealismus" befürwortet.

Doch kaum hatte Macron seine Rede gehalten, veröffentlichten dreizehn Mitgliedsstaaten (skandinavische und osteuropäische) einen gemeinsamen Brief, in dem sie jede Aussicht auf eine Änderung der EU-Verträge ablehnten. Einige der Ideen Macrons erfordern aber diesen Umweg gar nicht. Dies gilt zum Beispiel für die Einführung länderübergreifender Listen für die nächsten "Europa"-Wahlen. Dennoch gibt es vor allem einen Punkt, der die Drahtzieher in Brüssel und ebenso wie in Berlin mobilisiert: das Ende der verbrieften Notwendigkeit einer einstimmigen Beschlussfassung. Diese Regel, die es nur einem einzigen Land oder wenigen Ländern ermöglicht, ein EU-Projekt zu blockieren, weil es ihren Interessen zuwiderläuft, gilt in Wirklichkeit bereits nur noch in Sozial- und Steuerfragen sowie in der Außenpolitik.

In der Außenpolitik müsse dieser Riegel gesprengt werden, so die deutschen Politiker, was seit dem Krieg in der Ukraine noch dringlicher geworden sei. Und das aus gutem Grund: Derzeit ist Ungarn notorisch zögerlich, wenn es darum geht, auf russisches Öl oder Gas zu verzichten – zumal die Regierenden in Budapest ohnehin verdächtigt werden, nicht ausreichend feindselige Gefühle gegenüber Moskau zu hegen. Aber abgesehen von einer Reform der Verträge, erfordert ein Wechsel zur Mehrheitsregel, wenn auch letztmalig, von allen 27 Mitgliedsländern – die Einstimmigkeit. Die aber ist unwahrscheinlich.

Und noch ein letzter Vorschlag prägte das Plädoyer aus dem Élysée-Palast: die Schaffung einer noch größeren "Europäischen Politischen Gemeinschaft", die neben den derzeitigen EU-Mitgliedsstaaten auch noch all die Länder mit einbeziehen würde, die ihr irgendwann einmal beitreten wollen oder sollen, insbesondere die Ukraine. Denn, so der französische Präsident, deren tatsächlicher Beitritt zur hehren EU würde Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern können. Der ukrainische Präsident beklagte sich verärgert über eine derart zweitklassige Integration. Schließlich schlug Emmanuel Macron vor, dass dann eben einige Länder innerhalb der 27 eine besonders vorwärtsweisende "Avantgarde" bilden sollten, wie es bereits beim "Euro" oder beim "Schengen-Abkommen" der Fall ist.

Ein Konvent für eine föderalere EU, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, eine Konfrontation zwischen Befürwortern der Erweiterung und Anhängern der Vertiefung: Die angeblichen "Neuerungen", die Emmanuel Macron jetzt ausgegraben hat, verweisen auf seltsame Weise auf die Jahrzehnte nach 1990 und 2000, heute jedoch mit noch weitaus schärferen Bruchlinien und Streitigkeiten als damals. Die erträumten Reformen sind also höchstwahrscheinlich wieder einmal eine Totgeburt.

Zumal diese "Europäische Union" trotz des Bestrebens ihrer höchsten Repräsentanten, Russland in den abstoßendsten Zügen darzustellen, in den Augen vieler Menschen heute noch weniger attraktiv ist als gestern schon. Und morgen wird es höchstwahrscheinlich noch schlimmer, da die EU-Führer einen unverschämt kriegslüsternen Kurs auf allen Ebenen eines "Kampfes" einschlagen, der unweigerlich für die EU selbst zu weiteren Energiepreissteigerungen und Appellen an die neue "Sparsamkeit" als Vorwand für verzehnfachte Austerität führt.

Letztere könnte leichter durchgesetzt werden, wenn sie in ein "grünes" Gewand gekleidet wird, meint man zweifellos in Brüssel. Doch damit geht die Kommission vor allem das Risiko ein, überall "Gelb" zu ernten – das Gelb der Westen.

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Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.