Meinung

Irrer Iwan – oder doch logische Folgen des Überschreitens roter Linien

Russische Truppen sind tatsächlich in die Ukraine einmarschiert. Für Putins Gegner hat sich bestätigt, dass der russische Präsident aggressiv ist und die ehemalige Sowjetunion wiederherstellen will. Enttäuscht und ratlos bleiben diejenigen zurück, die immer glaubten, Putin und Russland gegen solche Vorwürfe verteidigen zu müssen.
Irrer Iwan – oder doch logische Folgen des Überschreitens roter LinienQuelle: Gettyimages.ru © Mondadori Portfolio

von Rüdiger Rauls

In ihrem Beitrag "Pessimismus" vom 25. Februar 2022 führte die Frankfurter Allgemeine Zeitung nicht ohne erkennbare Genugtuung die prominentesten der sogenannten Putin-Versteher auf, die eingestanden, mit ihren Prophezeiungen und Einschätzungen über Putins Handeln falsch gelegen zu haben. Manche entschuldigten sich öffentlich dafür. Das jüngste Beispiel ist die allgemein als Putin-Kennerin angesehene ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz.

Es soll hier nicht Rechthaberei betrieben werden, ob die FAZ mit ihren Zitaten einzelne Aussagen falsch interpretierte. Wenn schon, dann sollte eher über den Sinn und Unsinn von Prophezeiungen gesprochen werden, zumal wenn deren Umsetzung in den Händen anderer liegt, auf die der Prophet keinen Einfluss hat. Viel wichtiger aber ist zu hinterfragen, inwieweit Putins Handeln tatsächlich dem widerspricht, was er bei früherer Gelegenheit gesagt hatte. Die Frage ist also, ob Putin wissentlich und bewusst die Öffentlichkeit belogen hat. Hatte er von vorneherein die Absicht, die Ukraine zu überfallen? Waren seine Beteuerungen, keinen Krieg zu wollen, nur Heuchelei oder gar widerwärtige Hinterhältigkeit? Oder ist er vielleicht sogar geisteskrank, verrückt geworden, getrieben von Machtgier und charakterlichen Defiziten – wie sich sogenannte Experten die Welt und Psyche eines Mannes zurechtzufummeln versuchen, mit dem sie nie ein Wort gewechselt haben?

Aber nicht nur die Laien im politischen Geschäft, sondern selbst diejenigen, die sich besser in der Welt der Politik und Diplomatie auskennen sollten, scheinen immer seltener zur sachlichen Analyse der Verhältnisse in der Lage zu sein. So warf auch Macron Putin "Doppelzüngigkeit" vor. Er unterstellte ihm, bewusst den Krieg vorbereitet zu haben, "als wir noch über den Frieden verhandelten." Es ist richtig, dass der russische Präsident immer wieder beteuert hatte, dass er keinen Krieg wolle und auch keinen plane. Was westliche Medien, Politiker und Meinungsmacher aber inzwischen immer unter den Tisch fallen lassen, sind die roten Linien, die er vorher ebenso klar und deutlich in der
Öffentlichkeit gezogen hatte.

Putin hatte immer wieder auch darauf hingewiesen, dass man militärtechnische
Mittel einsetzen werde, wenn die Menschen im Donbass, die inzwischen zu weiten Teilen russische Bürger sind, angegriffen würden. Gerade aber diese Situation trat ein, als die Kiewer Truppen ab dem 20. Februar 2022 eine Offensive gegen die selbsternannten Volksrepubliken starteten. Dabei wurde sogar russisches Gebiet beschossen.
Zehntausende Menschen wurden aus dem Donbass nach Russland evakuiert. Der Wertewesten berichtete indes nur dünn darüber. Und Meinungsmacher versuchten gar den Eindruck zu erwecken, als handele es sich dabei um eine Operation unter falscher Flagge, ohne aber Beweise dafür zu bringen. Die Vermutung genügte ihnen.
Die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken durch Russland war eine Reaktion auf diese Ereignisse. Der Einmarsch russischer Truppen in den Donbass war zuerst als Schutz gedacht, entsprechend den vorher erklärten roten Linien – auch wenn westliche Meinungsmacher diesen Umstand weitgehend versuchen außer Acht zu lassen oder gar anders darzustellen.

Aber selbst in den westlichen Medien sind diese Informationen zu finden, wenn man auch vermeidet, diesen Zusammenhang deutlich zu machen. Die Ausweitung der Invasion auf das gesamte ukrainische Staatsgebiet ist die russische Reaktion auf die Rede Selenskijs während der Münchener Sicherheitskonferenz. Dort hatte dieser im Beisein wesentlicher westlicher Politiker das Budapester Abkommen über den ukrainischen Verzicht auf Atomwaffen infrage gestellt. Eine Reaktion des Westens darauf war nicht zu erkennen. In dieser explosiven Situation wurde diese Drohung Selenskijs, in den deutschen Medien zumindest, kaum thematisiert. Nahm man die Ankündigung nicht ernst, oder passte sie sogar dem einen oder anderen ganz gut in den Kram, als zusätzliches Druckmittel gegen Russland?

In Russland jedoch scheint diese Drohung des ukrainischen Präsidenten und das westliche Schweigen dazu als Anlass genommen worden zu sein, die ursprünglich auf den Donbass beschränkte Militäraktion zu einer endgültigen Beseitigung der aus der Ukraine drohenden Gefahren auszuweiten. Denn in Moskau kam man zu der Einschätzung, dass es für die Ukraine leichter sei als beispielsweise für den Iran, zumindest eine schmutzige Bombe herzustellen.

Spaltbares Material und Atommüll waren zur Genüge vorhanden, ebenso wie Erfahrungen noch aus der Sowjetzeit, wenn auch nicht auf dem neusten Stand. Zudem verfügte die Ukraine über Trägerwaffen, die immerhin russische Städte in hundert Kilometern Entfernung erreichen konnten. So schätzten die russischen Verantwortlichen die Lage ein, und deshalb richtete sich einer der russischen Angriffskeile unmittelbar gegen das Atomkraftwerk Tschernobyl. Denn hier lag das Material für die Herstellung von Nuklearwaffen.

In der westlichen Diskussion über die Vorgänge wird dieser Gesichtspunkt so gut wie gar nicht erwähnt, oder als vollkommen überzogen dargestellt. Das ist die westliche Sicht. Aber Russland entscheidet nicht unter westlichen Gesichtspunkten, sondern nach den eigenen Interessen und der eigenen Einschätzung der Lage. Es ist eine weitverbreitete Fehleinschätzung westlichen Denkens, zu glauben oder gar davon auszugehen, dass überall in der Welt nach den eigenen, den westlichen Ansichten gedacht und gehandelt wird oder werden sollte. Andere Staaten und Gesellschaften handeln nach anderen Interessen und Grundsätzen.

Aber auch der Westen hatte sich bei seinem massiven Vorgehen gegen das iranische oder nordkoreanische Atomprogramm nicht von iranischen oder nordkoreanischen Sichtweisen beeinflussen lassen. Hier hatte man, ähnlich wie die Russen in der Ukraine, die eigenen Sicherheitsinteressen als höher eingestuft und entsprechend der eigenen Einschätzung der Lage gehandelt – trotz der Beteuerung des Iran, nur friedliche Absichten zu verfolgen. Dabei war der Iran nicht einmal direkter Nachbar und hatte auch nicht die Unterstützung eines starken Militärbündnisses.

Aber all diese Gesichtspunkte spielen in der westlichen anti-russischen Rhetorik keine Rolle. Für die Meinungsmacher ist klar, dass Putin von vorneherein die Absicht hatte, die Ukraine zu überfallen, und den Westen absichtlich über sein wahres Vorhaben getäuscht hatte. Dass das veränderte Vorgehen Russlands seinen Grund haben könnte in veränderten Bedingungen, die sich im Verlaufe des Konfliktes und der Eskalation der Lage ergeben haben könnten, kommt diesen Leuten nicht in den Sinn. Vielleicht sind sie aber, aufgrund der moralistischen und emotionalisierten Betrachtungsweise im Westen, auch schon gar nicht mehr in der Lage, Vorgänge sachlich zu analysieren, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessen und den sich daraus ergebenden abweichenden Lageeinschätzungen.

So scheint westlichen Meinungsmachern und deren Öffentlichkeit nicht einmal aufzufallen, dass man hierzulande genau dasselbe getan hat, was man Putin und Russland vorwirft. Bis zum vergangenen Wochenende war es deutsches Dogma, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern. Haben deutsche Politiker die Öffentlichkeit gleichfalls über Jahre belogen und betrogen, weil sie innerhalb von nur 24 Stunden diesen Vorsatz über Bord warfen? Oder ist es nicht doch eher so, dass man die eigenen Vorsätze den veränderten Bedingungen angepasst hat bzw. im Interesse der eigenen Interessen anpassen musste?

Und hat Baerbock die eigene Bevölkerung und die Welt gleichfalls wissentlich getäuscht, als sie unmissverständlich erklärte, keine letalen Waffen in die Ukraine zu liefern? Hatte sie von vorneherein die Absicht gehabt, entgegen den öffentlichen Beteuerungen trotzdem solche Waffen zu schicken, oder haben sich einfach nur die Bedingungen verändert? Haben die eigenen, sicherlich gutgemeinten Vorsätze den Veränderungen in der Wirklichkeit einfach nicht mehr standhalten können?

Hatte Bundesfinanzminister Lindner die deutschen Wähler gleichfalls hinters Licht geführt, als er vor der Wahl versprach, die deutschen Staatsfinanzen zu sanieren und die Verschuldung des Staates abzubauen, nun aber widerspruchslos hundert Milliarden aus dem Ärmel schüttelt zur Aufrüstung der Bundeswehr? Hatte er schon vor der Wahl diese Täuschungsabsicht gehabt, oder sah er sich dazu gezwungen, durch den Krieg in der Ukraine? Die guten Absichten sind das eine, die Umständen das andere. Man kann noch so viele gute Absichten und Vorsätze haben, aber wenn die Wirklichkeit ihnen keinen Raum lässt, verkommen sie zu unheilvollen Handlungen. Denn es kann der Gutmütige nicht in Frieden leben, wenn's dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Oder so ähnlich.

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