Meinung

Das Schachspiel der NATO und Russlands auf dem Balkan

USA und NATO versuchen seit über 15 Jahren, Bosnien-Herzegowina zum Beitritt zur Allianz zu bewegen. Die prozentual kleinere Bevölkerungsgruppe der Serben aus dem Landesteil Republika Srpska, von Serbien und Russland unterstützt, betreibt ein riskantes Spiel mit dem Feuer, um dies zu verhindern.
Das Schachspiel der NATO und Russlands auf dem BalkanQuelle: AFP © Elvis Barukcic

Ein Kommentar von Scott Ritter

Die Uhr tickt beim Frieden in Bosnien-Herzegowina, der seit der Auferlegung des Dayton-Abkommens hält, das offiziell als Allgemeines Rahmenabkommen für den Frieden in Bosnien und Herzegowina bekannt ist. Das Dayton-Abkommen wurde nach der Stadt Dayton im US-Bundesstaat Ohio benannt, dem Standort der Wright-Patterson Air Force Base, auf der sich die Parteien des Bosnien-Konflikts am 21. November 1995 auf eine Beendigung des blutigen Bürgerkriegs einigten, der seit dem Zerfall Jugoslawiens Anfang der 1990er-Jahre gewütet hatte.

Das Abkommen wurde am 14. Dezember 1995 in Paris offiziell unterzeichnet. Seitdem wird Bosnien, eine parlamentarische Republik, von einem dreiköpfigen Staatspräsidium regiert, mit Vertretern aus den bosnischen, kroatischen und serbischen Gebieten, die die multiethnische Bevölkerungsstruktur repräsentieren.

Seit 1995 operiert diese Koalitionsregierung unter dem wachsamen Auge des Amtes des Hohen Repräsentanten (OHR) für Bosnien und Herzegowina der UNO. Es wurde eingerichtet, um die bosnische Souveränität und territoriale Integrität zu schützen, indem es die Institutionen des Staatspräsidiums beaufsichtigt, wie das Militär, Justiz, Steuer- und Zollverwaltung sowie Nachrichtendienste, die normalerweise in die alleinige Zuständigkeit eines souveränen Staates fallen.

Am 29. Oktober 2021 wurde diese fragile Koalition und der von ihr überwachte Frieden durch die Ankündigung des serbischen Mitglieds der Staatspräsidiums Milorad Dodik erschüttert, in der er seine Absicht bekannt gab, die Serben aus dem gemeinsamen bosnisch-herzegowinischen Militär abzuziehen, was effektiv die Neugründung der bosnisch-serbischen Armee bedeuten würde – einer Institution, die 2007 vom Internationalen Gerichtshof des Völkermordes während des Bürgerkriegs für schuldig befunden wurde.

Bis Ende November sagte Dodik zu, mehr als 100 Gesetzesvorschläge umzusetzen, was dazu führen würde, dass die Republika Srpska – die serbische Entität innerhalb des gesamten Staates Bosnien-Herzegowina, dessen Präsident er ist – aus der bosnischen Zentralregierung austritt und eigene parallele Institutionen bildet. Setzte er seine Absichten um, würde dies das Ende des Abkommens von Dayton bedeuten.

Dodik hatte zwar schon früher mit solchen Aktionen gedroht, doch diesmal wurde die internationale Gemeinschaft hellhörig. Als Grund für die aktuelle Drohung nennt er zwar ein vom OHR im Juli 2021 verkündetes Gesetz, das die Leugnung des Völkermords verbietet. Die wahren Gründe jedoch liegen im größeren geopolitischen Ringen zwischen Russland und der NATO und fußen auf dem Wunsch Bosnien-Herzegowinas, dem transatlantischen Bündnis beizutreten.

2006 war Bosnien-Herzegowina dem Programm Partnerschaft für den Frieden beigetreten – die erste Phase eines mehrstufigen Prozesses für eine eventuelle Vollmitgliedschaft in der NATO. Vier Jahre später startete die NATO den Membership Action Plan (MAP) – den formellen Mechanismus, mit dem die Mitglieder der Allianz einen Beitrittsantrag prüfen. Der bosnisch-herzegowinische MAP setzt voraus, dass etwa 63 militärische Einrichtungen auf dem Territorium des Landes in die vollständige Kontrolle des Bundesstaates übergehen.

Die Republika Srpska weigerte sich jedoch bisher, die Kontrolle über 23 Einrichtungen auf ihrem Territorium abzugeben. Trotz der Weigerung der Republika Srpska, diese Anforderung zu erfüllen, genehmigte die NATO den MAP. Bisher verzögerte Dodik die Aktivierung des Plans jedoch durch die Ausübung seines Vetorechts. Seine Drohung, die serbischen Streitkräfte aus der Armee von Bosnien-Herzegowina abzuziehen, ist sein jüngster Winkelzug, um eine NATO-Mitgliedschaft zu verhindern.

Dodik ist kein abtrünniger Hitzkopf. Vielmehr muss sein Handeln im Rahmen einer umfassenderen Politik angesehen werden, die sowohl von Serbien als auch von Russland verfolgt wird. Beide Staaten betrachten nicht nur das Abkommen von Dayton als einen auferlegten Frieden und das von ihm geschaffene OHR als Kolonialaufseher, sondern auch den Beitritt Bosnien-Herzegowinas zur NATO als inakzeptable – und im Falle Serbiens existenzielle – Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit.

Im Juli, nach der Verhängung des oben genannten Gesetzes zum Verbot der Leugnung von Völkermord, das von Valentin Inzko, einem österreichischen Diplomaten, angestiftet wurde und der bis zu seiner Abreise im selben Monat als OHR diente, unterstützten Russland und China vor dem UN-Sicherheitsrat eine Resolution, mit dem das OHR seiner Aufsichtsbefugnisse enthoben werden sollte. Dieser Vorstoß scheiterte.

Anfang November gelang es Russland und China jedoch, jede Erwähnung des OHR aus einer Resolution zu streichen, mit der die Verlängerung des Einsatzes von Friedenstruppen in Bosnien-Herzegowina beschlossen werden sollte. Obwohl die Streichung jeglicher Erwähnung des OHR aus dieser Resolution seine Autorität nicht aufhob, gab es Russland die Möglichkeit, Christian Schmidt, den deutschen Diplomaten, der auf Inzko folgte, als "Privatperson" zu bezeichnen, wenn er sich auf einen Bericht des OHR zur Lage in Bosnien bezog, der im Sicherheitsrat die Runde machte.

Diese Abwertung des OHR kommt Dodiks Ziel entgegen, die Institutionen des OHR irrelevant zu machen und die europäischen Richter zu entfernen, die derzeit dem bosnischen Verfassungsgericht vorsitzen. Dodik machte deutlich, dass sein Endziel nicht die Wiederaufnahme des Bürgerkriegs ist. Sein wahres Ziel, und das sowohl Russlands als auch Serbiens, besteht darin, die Aufnahme Bosniens in die NATO zu blockieren und dadurch das geopolitische Profil Russlands und Serbiens in Europa auf Kosten eines Abkommens zu stärken, das lange Zeit als bahnbrechende diplomatische Errungenschaft der USA galt.

Zu diesem Zweck bot Dodik einen Kompromiss an, gemäß dem er aufhören würde, auf die Umsetzung der von ihm angedrohten gesetzgeberischen Maßnahmen zu drängen. Im Gegenzug dafür erwartet er entweder eine vollständige Aufhebung des von ihm sogenannten "Inzko-Gesetzes" gegen die Leugnung von Völkermord oder aber eine Änderung des "Inzko-Gesetzes" dahingehend, dass die Ermordung von Serben durch die mit Hitler-Deutschland verbündeten bosnisch-kroatischen Truppen im Zweiten Weltkrieg im Konzentrationslager Jasenovac davon abgedeckt wird.

Wenn Dodiks Kompromiss umgesetzt würde, stellte dies eine weitere Verschlechterung des Status des OHR dar, das russisch-serbische Ziel der vollständigen Abschaffung dieses Amtes weiter fördern und damit Dodik und die Serben der Republika Srpska ermächtigen, auf Dauer den Antrag Bosnien-Herzegowinas zu blockieren, der NATO beizutreten.

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Übersetzt aus dem Englischen. Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des US Marine Corps. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor bei der Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und von 1991 bis 1998 als UN-Waffeninspektor. Man kann ihm auf Twitter unter@RealScottRitter folgen.

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