Meinung

Gaddafi und der Westen. Gedanken zum zehnten Todestag des libyschen Herrschers

Unter der Führung von Muammar al-Gaddafi wurde Libyen zur reichsten Nation des afrikanischen Kontinents. Mit der Ermordung Gaddafis am 20. Oktober 2011 zerfiel auch der libysche Staat. Der Bürgerkrieg im Land führte auch beinahe zur Vernichtung des libyschen Volkes.
Gaddafi und der Westen. Gedanken zum zehnten Todestag des libyschen HerrschersQuelle: www.globallookpress.com © imago stock&people

Ein Kommentar von Richard Medhurst

Ein Jahrzehnt nach Gaddafis Tod ist das Land durch Stammes-Fehden, Terrorismus und Sklaverei zerrissen, weil der Westen nicht zulassen wollte, dass ein arabischer Staatsführer erfolgreich ist. Dabei gab es in Libyen keinen "Arabischen Frühling" wie in Ägypten oder Tunesien. Die Proteste waren deutlich kleiner. Wie sich mit der Zeit herausstellte, waren extremistische Gruppen und ausländische Kräfte die entscheidenden Akteure. Sie versuchten, Stück für Stück des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen.

Die Bombardierung Libyens durch die NATO und ihre Unterstützung der Rebellen, die Gaddafi stürzen wollten, hatten keineswegs zum Ziel, dass das Land gedeihen sollte. Unter dem Deckmantel von "Menschenrechten" und "Demokratie" half das westliche Militärbündnis vielmehr, einen der prominentesten Führer der arabischen Welt zu ermorden, um Libyens Ressourcen selbst zu verwerten und die westliche Hegemonie auszubauen. Später, als Teil der Operation Timber Sycamore, kam für die CIA ein weiterer Nutzen hinzu, den der Sturz Gaddafis dem Westen brachte: Libyens Waffen- und Munitionsvorräte wurden nach Syrien verfrachtet, um dort Al-Qaida und andere dschihadistische Gruppen zu bewaffnen und dadurch das Regime Assads zu destabilisieren. Libyen, das in den Nachrichten heute kaum noch vorkommt, ist nach zehn Jahren Krieg und Chaos zu einem Schatten seiner selbst geworden. Die Befreiung des libyschen Volks von der Herrschaft Gaddafis gleicht heute einer billigen Inszenierung. So gelangt kaum ins öffentliche Bewusstsein, wie dramatisch sich die Lage des libyschen Volkes nach dem Sturz des Diktators verschlechtert hat.

Von einer blühenden Nation zum "gescheiterten Staat"

Gaddafi, bekannt für seine Extravaganz, prahlte zwar mit einer Garde weiblicher Leibwächter, mit aufwendigen Outfits und hielt endlose, pathetische Reden. Er verwandelte Libyen aber auch von einem der ärmsten Länder der Erde in einen wohlhabenden autarken Staat. Das Land verfügt über die größten Ölreserven Afrikas.

Während seiner 42-jährigen Herrschaft steigerte er die Alphabetisierungsrate seiner Bevölkerung von 25 auf 88 Prozent. Die Libyer genossen eine kostenlose Gesundheitsversorgung, kostenlosen Zugang zu Bildungseinrichtungen und einen hohen Lebensstandard. Grundbedürfnisse wie Strom und Gas standen preisgünstig zur Verfügung und die Bodenschätze des Landes garantierten ein starkes soziales Netz und Wohlfahrtsprogramme. Obwohl Libyen zu 90 Prozent aus Wüste besteht, gelang es Gaddafi, allen Libyern die Versorgung mit frischem Wasser für Konsum und Landwirtschaft zu gewährleisten. Er baute in den 1980er-Jahren das größte Bewässerungsprojekt der Welt, den "Great man-made River" – den großen menschgemachten Fluss. Dieses weltweit größte Leitungsnetz sorgte für 70 Prozent der gesamten Süßwasserversorgung in Libyen. Gaddafi nannte es das "achte Weltwunder". Das Projekt kostete über 25 Milliarden US-Dollar und wurde vollständig selbstfinanziert, ohne Darlehen oder Kredite von ausländischen Banken. Libyen hatte sich bis dahin zu einem wohlhabenden Land entwickelt und keinerlei Auslandsschulden. Die NATO bombardierte im Juli 2011 den "Great man-made River" und zerstörte so einen essenziellen Bestandteil der zivilen Infrastruktur. Ein Kriegsverbrechen.

Der Index für Entwicklung der Vereinten Nationen liefert ein zusammenfassendes Maß über die Gesundheit, Bildung und Einkommen weltweit. Auf diesem Index lag Libyen im Jahr 2010 auf Platz eins der afrikanischen Länder und auf Platz 53 unter insgesamt 189 Ländern und Territorien. Heute ist es im weltweiten Ranking vom 53. auf den 105. Platz abgerutscht. Nach der von der NATO unterstützten "Revolution" leidet Libyen unter ständigen Stromausfällen, das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen. Die Infrastruktur ist in katastrophalem Zustand, der Lebensstandard stark eingebrochen. Nach zehn Jahren hat Libyen nicht einmal mehr eine funktionierende Zentralregierung.

Im März dieses Jahres wurde eine Regierung der nationalen Einheit gebildet, nachdem im Oktober 2020 ein Waffenstillstand ausgehandelt worden war. Obwohl die Waffenruhe bis heute weitgehend eingehalten wurde und Wahlen für kommenden Dezember geplant sind, dauern die internen Machtkämpfe an. Die weitere Entwicklung dieser instabilen Situation ist völlig unklar.

Libyen ist zudem heute ein für jedermann frei zugänglicher Markt für Sklavenhandel. Schmuggler und Menschenhändler beuten Migranten und Flüchtlinge auf der Durchreise nach Europa aus und drängen sie in Verhältnisse der Knechtschaft. Die rivalisierenden Stämme und politischen Fraktionen kämpfen um das Öl und andere verwertbare Ressourcen und sind entschlossen, die Machtstrukturen zu ihrem eigenen Vorteil abzusichern. Gleichzeitig bilden sich Netzwerke und Untergrundstrukturen des Islamischen Staates, Al-Qaida und anderer dschihadistischer Kämpfer, die das vom Krieg zerrüttete Land und seine Nachbarn heimsuchen – Gruppen, die es unter Gaddafi nicht gewagt hätten, derartige Strukturen aufzubauen.

Einst eine wohlhabende Nation, wurde Libyen nach Gaddafis Sturz zur Beute von Terroristen, Opportunisten und Dieben und stürzte ins Chaos. In einer seiner besten Reden im Jahr 2008 in Damaskus tadelte Gaddafi bei einem Treffen der Arabischen Liga die gewaltsame Invasion im Irak. Er erinnerte die anwesenden arabischen Führer nachdrücklich daran, was Saddam Hussein widerfahren war, der einst ein Verbündeter der USA gegen Iran war.

"Eine ganze arabische Führung wurde durch Erhängen hingerichtet, und wir sitzen an der Seitenlinie. Wieso? Jeder von euch könnte der Nächste sein."

Statt über seine Worte zu lachen, hätten die anderen arabischen Führer gut daran getan, Gaddafis Warnung ernst zu nehmen. Denn tatsächlich würden die USA als nächstes Libyen und Syrien fordern. Nur drei Jahre später wurde Gaddafi von den durch die NATO unterstützten Rebellen brutal getötet.

Antiimperialistisch, panarabisch und panafrikanisch: Warum Gaddafi weg musste

Der ermordete libysche Führer unterstützte Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt, darunter Gruppen wie die Organisation für die Befreiung von Palästina, die Irisch-Republikanische Armee, die Black-Panther-Bewegung und viele weitere. In den 1970er-Jahren versuchte er, Libyen mit Ägypten und Syrien zu einem vereinigten arabischen Staat zu verschmelzen. 2009 schlug er vor, dass die afrikanischen Nationen eine einheitliche Währung einführen sollten: den Golddinar. Die zu 100 Prozent in Staatsbesitz befindliche libysche Zentralbank verfügte über Reserven von 144 Tonnen Gold, die er zu diesem Zweck verwenden wollte. Gaddafi schlug vor, dass afrikanische Länder ihre Ressourcen ausschließlich in dieser neuen panafrikanischen Währung kaufen und verkaufen sollten. Dies hätte ihnen ermöglicht, sich vom US-Dollar und dem zentralafrikanischen Franc (CFA) abzuwenden – einer Kolonialwährung, die in 14 Ländern verwendet und vollständig von Frankreich kontrolliert wird.

Dies war aus westlicher Sicht Gaddafis größte Sünde. Mit seinem Einsatz für die Einführung einer einheitlichen Währung für die afrikanischen Nationen und die eigene Kontrolle dieser Länder über ihre Rohstoffe stellte er eine Bedrohung für die westliche monetäre Hegemonie in der Region dar – so musste er weg.

Westliche Regierungen waren sich seiner Pläne durchaus bewusst. Ein Blick in die E-Mails der damaligen US-Außenministerin Hillary Clinton zeigt Diskussionen um Gaddafis Goldreserven und die Pläne zu einer einheitlichen afrikanischen Währung. Dem Westen war klar, dass die Umsetzung dieser Pläne nicht nur die westliche Hegemonie und das internationale Bankensystem schwächen, sondern auch neokoloniale Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds weniger effektiv bei Manipulationen in Entwicklungsländern machen würde. Aus dem E-Mail-Verkehr Clintons ist deutlich zu entnehmen, dass der Plan, eine Alternative zum CFA-Franc zu schaffen, einer der Faktoren war, die auch die Entscheidung des damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy beeinflussten, Frankreich zum Angriff auf Libyen zu verpflichten.

Sarkozy beschloss, Libyen zu bombardieren, weil er genau wusste, dass durch die Abkehr der west- und zentralafrikanischen Länder vom CFA-Franc, den Einflussbereich Frankreichs über seine "ehemaligen" afrikanischen Kolonien minimieren würde. Daher kam die Bombardierung der von ihm bekundeten "Absicht entgegen, einen größeren Anteil an der libyschen Ölförderung zu gewinnen" – das heißt, den Reichtum Libyens zu plündern. Gaddafi sah dies 2011 voraus, als er erklärte: "Es gibt eine Verschwörung, um libysches Öl und libysches Land zu kontrollieren, um Libyen erneut zu kolonisieren."

Das zeigt in aller Deutlichkeit, dass die NATO sich in keiner Weise um die Demonstranten und deren Ideale zur Zeit des "Arabischen Frühlings" scherte. Ansagen über "den Respekt für die Demokratie" waren nur ein Vorwand, um westliche Interessen zu schützen und Libyens Ressourcen zu stehlen, das Land im Zustand des Chaos zu hinterlassen und mit Terroristen zu paktieren – genau wie im Irak und später in Syrien. Nichts könnte für die Verlogenheit, mit der der Westen auf die "Revolution" in Libyen blickte, symbolischer sein, als eine Hillary Clinton, die buchstäblich vor Freude hüpfte, als sie vom Mord an Gaddafi erfuhr. Dieser war von von der NATO-unterstützten Rebellen brutal sodomisiert, gelyncht und schließlich hingerichtet worden. "Wir kamen, wir sahen, er starb", kicherte sie vor laufender Kamera.

Ermordet, weil er Erfolg hatte

Gaddafi war den westlichen Kolonialinteressen immer ein Dorn im Auge. Sein größtes "Verbrechen" war der Wunsch nach Unabhängigkeit seines und der afrikanischen Länder. Heute sieht man im Westen in Libyen einen "gescheiterten Staat". Gaddafis Libyen aber war kein gescheiterter Staat. Es war Afrikas reichste und wohlhabendste Nation – ein blühender, Staat, der unter Mithilfe des Westens vorsätzlich zerstört wurde.

Verteidiger des westlichen Imperialismus gefallen sich darin, die Errungenschaften anderer Länder klein zu reden und deren Führer als Diktatoren zu bezeichnen. Aber die unliebsame Wahrheit ist, dass es Libyen unter Gaddafi deutlich besser ging als heute. Es verfügte frei über sein Öl, Gold und Wasser und gelangte mit seinen Ressourcen zu Wohlstand und Stabilität. Die Geschichte ist übersät mit afrikanischen, arabischen und lateinamerikanischen Führern, die durch Zutun der Vereinigten Staaten ermordet wurden, weil sie es wagten, ihre Länder voranzubringen und die westliche Hegemonie herauszufordern. Gaddafi ist keine Ausnahme, er ist ein Paradebeispiel.

Es gibt nichts, was der Westen mehr verachtet als einen arabischen Führer, der sich dem Imperialismus und Zionismus widersetzt und darauf hinwirkt, dass sein Land und weitere arabische oder afrikanische Länder autark werden. Aus dieser Verachtung heraus hat die NATO Gaddafi ermordet.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Übersetzung aus dem Englischen.

Richard Medhurst ist ein britischer Journalist, der in Damaskus geboren wurde. Aufgrund seiner Berichterstattung über internationale Beziehungen, US-Politik, den Nahen Osten und Julian Assange konnte er einen erfolgreichen Youtube-Kanal aufbauen und moderiert eine Sendung bei PressTV. Man kann ihm auf Twitter folgen: @richimedhurst

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