Meinung

"Das große Spiel": Ein geopolitisches Tauziehen hat in Afghanistan seinen Schauplatz gefunden

Nach zwei Jahrzehnten geht die Eskapade der US-Regierung in Afghanistan nun ihrem Ende zu. Die Geschichte zeigt jedoch, dass die in Schwierigkeiten geratene zentralasiatische Nation als großer globaler Knotenpunkt in absehbarer Zeit nicht aus den Schlagzeilen verschwinden wird. Während US-Truppen aus Afghanistan ausgeflogen werden, steht Afghanistan – auch der Friedhof großer Imperien genannt – nun wieder im Mittelpunkt eines Machtkampfes um Eurasien.
"Das große Spiel": Ein geopolitisches Tauziehen hat in Afghanistan seinen Schauplatz gefundenQuelle: www.globallookpress.com © Eric A. Draper/Consolidated News Photos

von Julian Fisher

Anfang Juli verließen US- und Koalitionstruppen den Flugplatz Bagram, einst Washingtons größte Operationsbasis in Afghanistan. Der Rückzug ist bereits zu 90 Prozent abgeschlossen und soll bis zum 31. August 2021, also noch vor der ursprünglichen Frist von Präsident Joe Biden, am 11. September, abgeschlossen sein. In der Zwischenzeit rücken die Taliban-Truppen vor, erobern verlorene Gebiete zurück – und, das ist entscheidend, halten sie – und behaupten, jetzt etwa 85 Prozent des Landes unter ihre Kontrolle gebracht zu haben. Es gibt viele Theorien über den Zeitpunkt des Abzuges der Koalitionstruppen und die Auswirkungen, die er auf Afghanistan haben wird. Aber ein genauerer Blick auf die Geschichte zeigt, dass es hier nicht nur um Afghanistan geht, sondern um Machtkämpfe und den Aufstieg Eurasiens.

Zivilisatorischer Chauvinismus

Im Laufe seiner langen Geschichte war Afghanistan immer wieder Invasionen verschiedener Imperien und Königreiche ausgesetzt. Während es Perioden stabiler Herrschaft im Land gab, hat es sich den Ruf einer Unbesiegbarkeit erworben und sich den Titel "Friedhof der Imperien" verdient. Der Widerstand gegen ausländische Invasionen, so die Theorie, ist tief in der Kulturpsychologie des afghanischen Volkes verwurzelt.

Im Ersten Anglo-Afghanischen Krieg von 1839 marschierten die Briten ein und installierten einen ihnen wohlgesinnten Herrscher, Schah Schudscha Durrani. Neben umfassenden Reformen, mit denen man nach britischem Vorbild eine zentralisierte Regierung und eine stehende Armee aufbauen wollte, sollte auch die Korruption bekämpft werden. Dieser Versuch des Aufbaus eines Staates führte zu einer Rebellion der Ghildschi-Kriegsfürsten, die im September 1841 den Dschihad ausriefen. 1842 mussten sich die Briten zurückziehen. Es kommt in der Folge noch zu zwei weiteren anglo-afghanischen Kriegen, die beide ähnlich wie der erste endeten.

1979 marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein, um dort die kommunistische Ordnung aufrecht zu erhalten, indem sie den Führer Hafizullah Amin absetzten – beziehungsweise ihn kurzerhand liquidierten – und ihn mit dem sowjet-freundlichen Babrak Karmal ersetzten. So wie die Briten über ein Jahrhundert zuvor versucht hatten, aus Afghanistan einen befreundeten Nationalstaat zu machen, versuchten die Sowjets, die sozialistische Partei Afghanistans und ihre Dominanz über das Land neu zu organisieren.

Mit Unterstützung der USA boten die afghanischen Mudschahedin der sowjetischen Invasion die Stirn und dehnten damit, die als kurze Stabilisierungsmission geplante Intervention, für die Sowjetunion zu einem veritablen Krieg aus, der zehn Jahre andauerte. Obwohl die Sowjetunion Ende der 1970er Jahre in einer Phase relativen wirtschaftlichen Wohlstands einmarschierte, war zum Zeitpunkt ihres Rückzugs 1989 bereits ein globaler Paradigmenwechsel im Gange. Der Zusammenbruch des Sozialismus im gesamten Ostblock verkündete das Ende des sowjetischen zivilisatorischen Chauvinismus, dessen Symptom der Feldzug in Afghanistan war.

Die Sowjets gaben ihren Krieg in Afghanistan beim historischen Aufbruch von der Ära des bipolaren Kalten Krieges zur liberalen unipolaren Weltordnung auf, die sich in den 1990er Jahren weiter herauskristallisierte. Während dieser Zeit dachte der neokonservative Denker Francis Fukuyama bekanntlich über das "Ende der Geschichte" nach, da er und andere glaubten, der Zusammenbruch des Sowjetblocks habe eine westliche, liberale Hegemonie eingeläutet. Als dieser Triumphalismus um die Jahrtausendwende seinen Höhepunkt erreichte, starteten die Vereinigten Staaten ihr eigenes Abenteuer in Afghanistan.

Dem amerikanischen Krieg in Afghanistan lag die gleiche ideologische Motivation zugrunde, die frühere Invasionen ausländischer Mächte inspirierte, nämlich einen afghanischen Staat nach dem Bild des Eroberers zu gestalten. Das amerikanische politische Establishment war entschlossen, eine Übung in Nationenbildung durchzuführen, die den Zustand der UNOrdnung, in den Afghanistan bis 2001 geraten war, beenden sollte, trotz neuerer Erkenntnisse, mit denen die Vorstellung relativiert wird, dass die USA je geplant hätten, Afghanistan irgend etwas Wesentliches zu hinterlassen.

Durch die Eroberung des Unbesiegbaren und die Umwandlung des Hinterlandes der Antike in eine liberale Demokratie des 21. Jahrhunderts hätten die USA ihre Position als Vorläufer des Endes der Geschichte festigen können. Doch nach zwei Jahrzehnten – und geschätzten Kosten von 2,26 Billionen Dollar – befinden sich die Taliban in einer starken Position, da die von Amerika unterstützte Regierung in Kabul ihre Kontrolle über das Land verliert. Das Grab ist ausgehoben und der Grabstein beschriftet und vielleicht deutet das Ende der amerikanischen Afghanistan-Expedition darauf hin, dass die Welt wieder einmal einen kritischen Punkt in der bisherigen Ordnung erreicht hat, von dem aus man in eine neue Ordnung starten wird.

Die Dämmerung in Eurasien

Wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, Journalisten auf Twitter zu blockieren, schreibt der portugiesische Politologe Bruno Macaes Bücher. In seinem Buch "The Dawn of Eurasia" (Die Dämmerung in Eurasien) artikuliert er, was er für eine Verschiebung des geopolitischen Schwerpunkts von West nach Ost, als Folge des schnellen Wachstums Chinas und des Wiederauflebens Russlands zu internationaler Bedeutung hält, nachdem sich Russlands Wirtschaft seit ihrem Tiefpunkt in den 1990er Jahren erholt hat.

Das kommende globale Machtgefüge wird laut Macaes aus mehreren Machtzentren oder Akteuren bestehen, die miteinander in Konkurrenz und Kooperation treten, was im Gegensatz zur Ära der westlichen, neoliberalen und neokonservativen Globalisierung nach 1990 steht, mit Amerika als Weltpolizist.

Entscheidend für das Verständnis der Entwicklungen in Eurasien sind Einrichtungen wie die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und die Eurasische Wirtschaftsunion sowie chinesische Investitionsprojekte, insbesondere die Belt and Road Initiative (BRI) – auch die Neue Seidenstraße genannt. Diese zeigen bereits Anzeichen, dass sie im Nachkriegsumfeld Afghanistans eine bedeutende Rolle spielen werden.

China hat lange versucht, Afghanistan in die BRI als das fehlende Bindeglied im eurasischen Superkontinent zu integrieren. Anfang Juli 2021 bezeichnete ein Taliban-Sprecher China offen als Freund und versprach Schutz für chinesische Investoren, sollten diese nach Afghanistan kommen.

Gleichzeitig trafen sich Taliban-Vertreter mit iranischen Offiziellen in Teheran, wo sie das Engagement der Taliban für eine politische Einigung mit der Regierung von Kabul bekräftigten und damit auch Beobachter anderswo beruhigten. Iran ist bereits Beobachter bei der SCO, Pläne für eine Vollmitgliedschaft liegen noch auf dem Tisch.

Russland, China und die zentralasiatischen "-stan"-Staaten befürchten jedoch, dass der plötzliche Abzug der US-Streitkräfte die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtern könnte, insbesondere wenn terroristische Gruppen wie die Islamische Bewegung Ostturkestan (ETIM) und der Islamische Staat, der IS-Khorasan, ins Spiel kommen. Im Januar 2021 sagte der derzeitige SCO-Generalsekretär Wladimir Norow, dass der IS und uigurische Gruppierungen, die in Syrien kämpfen, bereits militante Kämpfer nach Nordafghanistan verlagern.

In Usbekistan und Tadschikistan fanden bereits Treffen statt, um eine engere Zusammenarbeit, den afghanischen Friedensprozess und die regionale Sicherheit zu erörtern. In Tadschikistan hielt die SCO-Afghanistan-Kontaktgruppe ein Sondertreffen auf Außenministerebene zur Förderung von Friedensgesprächen ab.

Afghanistan ist somit aus dem gleichen Grund erneut ins Rampenlicht gerückt, wie immer in seiner Geschichte – es befindet sich an einer historischen Wegkreuzung, politisch wie geographisch. Und obwohl man die Umrisse einer eurasischen Zukunft für das kriegszerrüttete Land erkennen kann, ist der Frieden, den es braucht, um dies zu verwirklichen, alles andere als sicher.

Das Imperium schlägt zurück

Afghanistan wird auch weiterhin ein Gebiet von strategischer Bedeutung für das politische Establishment der USA sein. Obwohl der Truppenabzug in vollem Gange ist und die oben erwähnten historischen und zeitgenössischen Trends auf die Möglichkeit einer Änderung der Weltordnung hindeuten, haben die USA in Afghanistan noch immer ausstehende langfristige Ziele.

In einer Rede im Jahr 2018 am Ron Paul Institute erklärte Lawrence Wilkerson, der ehemalige Stabschef von Außenminister Colin Powell, dass Amerikas Militärpräsenz in Afghanistan die einzige Projektion von militärischer Stärke ist, die "in der Nähe von [Chinas] zentralem Gürtel liegt und dem BRI" und wenn die USA etwas mit militärischer Stärke durchsetzen müssten, man in der Lage wäre, dies von Afghanistan aus zu tun.

Während dies von der Bush-Regierung, unter der Wilkerson diente, akzeptiert wurde, blieb es für Barack Obama ein strategischer Gesichtspunkt unter vielen. Bei einem Besuch im indischen Chennai im Jahr 2011 forderte die damalige Außenministerin Hillary Clinton eine "neue Seidenstraße" bestehend aus "Eisenbahnen, Autobahnen und Energieinfrastruktur von Turkmenistan über Afghanistan, Pakistan bis nach Indien".

Letztlich kam Clintons "neue Seidenstraße" nie zustande, vielleicht weil sie von vornherein nicht nötig war. Die USA müssen keine Brücken bauen – geschweige denn einen demokratischen Nationalstaat –, wenn es darum geht, Chinas Fähigkeit zu untergraben, Afghanistan als Teil des BRI zu nutzen.

Wenn sich die schlimmsten Befürchtungen der Nachbarländer bewahrheiten und das Land in einen Bürgerkrieg gerät, würde dies mit ziemlicher Sicherheit Infrastruktur- und Handelsprojekte untergraben, die Ost und West verbinden. Ein Szenario im Stil von Libyen würde auch eine Bühne für weitere Söldner- und Geheimdienstoperationen in ganz Afghanistan bieten und eine Brutstätte für terroristische Aktivitäten schaffen, was die gesamte Region in eine unbequeme Lage bringen würde und die jederzeit als Rechtfertigung für die Verlegung neuer US-Streitkräfte nach Afghanistan dienen könnte.

Das geopolitische Tauziehen, das in Afghanistan seinen Austragungsort gefunden hat, wird als "Großes Spiel" bezeichnet. In diesem Spiel ist der militärische Rückzug der USA wahrscheinlich nur der jüngste Schachzug und es ist immer noch nicht klar, wer der Gewinner sein und welchen Preis sein Erfolg für das afghanische Volk haben wird.

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Julian Fisher ist Politikanalyst beim Russian Public Affairs Committee (Ru-PAC). Er schreibt über Russland-USA Beziehungen, amerikanische Außenpolitik und nationale Sicherheit.

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