Meinung

Treffen von Biden und Putin zeigt: Beziehung Russland-USA vor neuem Kalten Krieg

Das lang erwartete Gipfeltreffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin und seines US-Amtskollegen Joe Biden verlief ideal, vom unnötigen Hype einmal abgesehen. Man erreichte das Ziel, die Lage nach all den Jahren des hysterischen Zirkus zu entspannen.
Treffen von Biden und Putin zeigt: Beziehung Russland-USA vor neuem Kalten KriegQuelle: AP © Patrick Semansky

von Fjodor Lukjanow

Obwohl die Befürchtungen anfangs die Hoffnungen weit überschattet hatten, wurden die schlimmstmöglichen Szenarien nicht Realität. Der Gipfel hat seinen Zweck erfüllt: Moskau und Washington an einen Tisch zu bringen und zum Geschäftemachen zu bewegen. Beide Staatsoberhäupter unterzeichneten eine auf Hochglanz polierte gemeinsame Erklärung: Darin lehnen sie einen Atomkrieg ab und signalisieren ihre Entschlossenheit, neue Prinzipien zum Untermauern der strategischen Stabilität und der Cybersicherheit zu formulieren. Das sind Fortschritte.

Doch da ist noch mehr: Die jeweiligen Botschafter kehren endlich auf ihre Posten zurück – ein positives Zeichen, wenn auch als Geste des guten Willens nur symbolisch. In der Realität können ausländische diplomatische Vertretungen nur selten, wenn überhaupt, in einer Sache den Ausschlag geben, wenn an der Spitze politischer Wille fehlt. Da können sie noch so hart arbeiten oder noch so viele Mitarbeiter beschäftigen.

Nach den Worten der beiden Präsidenten zu urteilen, haben sie bei diesem kurzen, aber doch recht gegenständlichen Gesprächstreffen eine Menge Themen angesprochen. Es kann sogar gut sein, dass sie am Ende einen oder zwei Deals abschließen – etwa über den Austausch von Spionen wie in den guten alten Tagen der Sowjetunion –, doch jede solche Vereinbarung wäre ein Einzelfall ohne nachhaltige Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen.

Insgesamt allerdings hinterließen die Gespräche in Genf einen positiven Eindruck – allein schon, weil sie den altbekannten klassischen Gipfeltreffen ähnelten. Der Austausch war konzentriert und ernsthaft, mit einem Verständnis für reale Zwänge und weitgehend frei von ideologischen Ergebnisvorgaben, an die wir uns alle in den letzten Jahrzehnten so gewöhnt haben. Das rhetorische Trommelrühren in der Ferne ist als Kulisse unumgänglich, aber die Leute an der Spitze achten nicht so sehr auf Lärm.

Das Ergebnis des Gipfels gewährleistet noch nicht, dass sich langfristig etwas ändert: Denn eine Verbesserung der Beziehungen stand schlicht nicht auf der Tagesordnung. Doch für eine auf nukleare Schlagkapazitäten gestützte Konfrontation einen Rahmen zu umreißen, nützt nicht so viel im Kontext bilateraler Beziehungen – dafür umso mehr im globalen Kontext.

Die Vereinigten Staaten sind nicht die Hauptsorge Russlands, und Moskau ist auch nicht das Hauptproblem Washingtons – anders als im vorigen Kalten Krieg. Die Art ihrer Beziehungen wirkt sich jedoch auf die Beziehungen Beider zu deren jeweils wichtigeren Partnern aus. Der Genfer Gipfel bietet beiden Ländern Denkanstöße zu ihrer jeweiligen künftigen internationalen Verhaltenslinie.

Man muss anerkennen, dass die USA unter Biden diese Linie eigentlich ziemlich deutlich ziehen. Offensichtlich werden sie Bemühungen priorisieren, die politischen Umrisse des Westens mit dem Bleistift des Kalten Krieges frisch nachzuziehen. Auch wird versucht, China einzudämmen und dessen Aufschwung zu verlangsamen. Ferner werden sich die USA unter Biden in sparsamem Maße in regionalen Konflikten engagieren, bei denen sie sich, sofern möglich, auf Partner vor Ort stützen werden, anstatt Soloauftritte hinzulegen. Die Slogans von einer "globalen Führung" durch die Losung "Amerika ist wieder da" zu ersetzen, war ein kluger Schachzug: Er verleiht Washington viel mehr Flexibilität als zuvor – weil eine klare Vorstellung davon, in welcher Funktion die USA in die globale Arena "zurückkehren", dadurch bewusst nicht vermittelt wird.

Auch Russlands Prioritäten ändern sich. Ihre Verschiebung ist für unvoreingenommene Köpfe, so schwer man sie im Westen auch findet, offensichtlich. Die Prioritätenverschiebung ist ein neuer Trend, und es ist unklar, wann Russlands Ziele stringent ausformuliert vorliegen werden. Die USA setzen noch auf ihre alte Strategie, den Westen gegen eine bewusst herbeikonstruierte autoritäre Bedrohung zu konsolidieren. Dahingegen muss Russland eine Bestandsaufnahme der Institutionen und Werkzeuge zum Einsatz in seiner Außenpolitik vornehmen und ihre Bedeutung neu überdenken.

In den vergangenen Jahren und sogar Jahrzehnten setzte sich Moskau für die Erschaffung neuer Institutionen ein, die zur Etablierung der multipolaren Welt beitragen sollten. Dieses Konzept bestimmte die politische und diplomatische Praxis seit Mitte der 1990er-Jahre, nicht zuletzt Russlands Schutzreaktion auf den Zusammenbruch seines internationalen Status zusammen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Multipolarität implizierte, sich jeglicher Hegemonie entgegenzustellen – so weit, so gut. Aber Russland in der neuen Weltordnung klar zu verorten – das vermochte sie nicht.

Als schließlich der internationale Pluralismus aufkam, wurde die Lage noch verwirrender. Mit dem Aufkommen neuer Mächten von unterschiedlichem Gewicht veränderte sich die globale Landschaft ziemlich schnell – und die bereits komplizierte Kunst der Außenpolitik artete endgültig zur sprichwörtlichen Atomwissenschaft aus.

Die Globalisierungskrise traf sowohl alte als auch neue Institutionen und Abmachungen – einschließlich derer, die Russland von den 1990er-Jahren bis Mitte der 2010er-Jahre mit erschuf. Heute begünstigt die COVID-19-Pandemie den Drang zur Renationalisierung aller Weltangelegenheiten: Die Einzelländer fassen die Vorteile des Alleingangs ins Auge, und damit ist die Zukunft zwischenstaatlicher Organisationen in der Schwebe.

Russland und die USA stehen beide vor der gleichen Herausforderung: Sie müssen ihre Ziele und Ansätze auf die neue globale Realität neu einstellen. Und sich gemeinsam auf eine klassische Beziehung aus dem Kalten Krieg zurückzubesinnen, scheint für diese Aufgabe ironischerweise eher hilfreich zu sein. Beide Seiten sind mit dieser altbewährten Praxis wohl vertraut; auch das Format dürfte ihnen durchaus am ehesten liegen. Dies ist die wichtigste Erkenntnis aus dem Genfer Gipfel.

Einen Haken gibt es jedoch auch: Die heutigen politischen Zyklen dauern keine Jahrzehnte – sondern Jahre, wenn nicht gar nur Monate. Man darf sich hier ja nicht täuschen: Keine der Vereinbarungen, mit deren Hilfe eine strategische Stabilität wie im Kalten Krieg erschaffen werden kann, wird diese Stabilität auch das zweite Mal so lange aufrechterhalten.

Übersetzt aus dem Russischen

Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs, Vorsitzender des Präsidiums des Rates für Internationale Politik und Sicherheit, Forschungsdirektor am Valdai Diskussion Club und Professor für Forschung an der National Research University Higher School of Economics. 

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