Meinung

"Wie Kavallerie gegen Panzer": Türkei perfektioniert neue Art der Kriegführung mit Drohnenschwärmen

Von Syrien über Libyen bis nach Bergkarabach hat diese neue Methode des militärischen Angriffs ihre brutale Wirksamkeit bewiesen. Wir sind Zeugen einer Revolution in der Geschichte der Kriegführung – einer Revolution, die vor allem in Europa für Panik sorgt.
"Wie Kavallerie gegen Panzer": Türkei perfektioniert neue Art der Kriegführung mit Drohnenschwärmen© CC BY-SA 4.0

von Scott Ritter

In einer für die Denkfabrik ECFR (European Council on Foreign Relations, dt.: "Europäischer Rat für Außenbeziehungen") verfassten Analyse argumentiert Gustav Gressel, Senior Policy Fellow beim ECFR, dass der groß angelegte (und erfolgreiche) Einsatz militärischer Drohnen durch Aserbaidschan in seinem jüngsten Konflikt mit Armenien über Bergkarabach "deutliche Lehren dafür enthält, wie gut sich Europa verteidigen kann".

Gressel warnt, Europa erwiese sich selbst einen schlechten Dienst, täte es die Kämpfe um Bergkarabach einfach als einen "Kleinkrieg zwischen armen Ländern" ab. Damit hat Gressel recht – die militärische Niederlage, die Aserbaidschan Armenien zugefügt hat, war kein Zufall, sondern vielmehr ein Ausdruck perfektionierter Kunst der Drohnenkriegführung – und zwar von Bakus wichtigstem Verbündetem in den Kämpfen, der Türkei. Mit seiner Schlussfolgerung, dass "die meisten Armeen [der Staaten der Europäischen Union] (...) angesichts einer solchen Bedrohung ebenso miserable Leistung zeigen würden wie die armenische Armee", liegt Gressel goldrichtig.

Was der armenischen Armee in ihrem kurzen, aber brutalen 44-tägigen Krieg mit Aserbaidschan widerfahren ist, geht über eine bloße Kriegsniederlage hinaus. Es geht dabei mehr um die Art und Weise, wie Armenien verloren hat, und genauer gesagt, wie hoch es verloren hat. Was am Himmel von Bergkarabach geschah, wo Aserbaidschan eine Vielzahl an türkischen und israelischen Drohnen einsetzte, um die armenischen Stellungen nicht nur zu überwachen und anzugreifen, sondern das gesamte Schlachtfeld zu gestalten und zu beherrschen, kommt einer Revolution im Kriegswesen gleich. Einer Revolution vergleichbar mit der, die von der Entstehung von Panzern, Panzerfahrzeugen und Flugzeugen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeläutet wurde, die schließlich zum Untergang der Kavallerie führte.

Es war ja nun nicht so, dass die armenischen Soldaten nicht tapfer oder nicht gut ausgebildet und ausgerüstet gewesen wären – im Gegenteil. Der springende Punkt war, dass sie eine Art von Kriegführung demonstrierten, die von der Technologie überholt worden ist. Der Ausgang dieses Krieges war, egal wie entschlossen und mutig sie sich ihrem Gegner stellten, vorherbestimmt – ihr unvermeidlicher Tod und die Zerstörung ihrer Ausrüstung:

In den Kämpfen ließen etwa 2.425 armenische Soldaten ihr Leben, und 185 T-72-Panzer, 90 gepanzerte Kampffahrzeuge, 182 Artilleriegeschütze, 73 Mehrfachraketenwerfer und 26 Boden-Luft-Raketensysteme wurden zerstört.

Neue Art der Kriegführung

Was mit Armenien geschah, war kein isoliertes Ereignis in der Militärgeschichte. Es war vielmehr eine unübertroffene Glanzleistung in einer neuen Art der Kriegführung, in deren Mittelpunkt der Einsatz unbemannter Luftfahrzeuge (UAVs oder Drohnen) stand. Aserbaidschans wichtigster Verbündeter im Krieg gegen Armenien – die Türkei – perfektioniert seit Jahren die Kunst der Drohnenkriegführung, wobei sie bei den jüngsten Kämpfen in Syrien (Februar/März 2020) und Libyen (Mai/Juni 2020) reichlich Erfahrungen mit modernen, vollumfänglichen Konflikten sammeln konnte.

Im Laufe des letzten Jahrzehnts nutzte die Türkei die von den USA und anderen Staaten verhängten Waffenembargos, die Ankara den Zugang zu der Art von taktischen Drohnen einschränkten, wie sie von den USA weltweit eingesetzt werden, um stattdessen von Grund auf eine einheimische Drohnenindustrie aufzubauen. Während die Türkei viele Modelle unbemannter Luftfahrzeuge in verschiedenen Konfigurationen entwickelte, sind zwei besonders hervorzuheben – Anka-S und Bayraktar.

Kein Chaos in diesem Schwarm

Während der Volksmund die Art von drohnenzentrierten Offensiven, wie die Türkei sie führt, "Drohnenschwarm" nennt, ist die moderne Drohnenkriegführung, wenn sie in großem Maßstab geführt wird, in Wirklichkeit eine bewusste, hochgradig koordinierte Vorgehensweise – und integriert elektronische Kriegführung, -aufklärung und -überwachung sowie natürlich Logistik und Einsatz der Waffenträgersysteme. Der Drohnenkrieg der Türkei über Syrien wurde von der taktischen Kommandozentrale der türkischen Zweiten Armee aus geleitet, die sich etwa 400 Kilometer von den Kämpfen entfernt in der Stadt Malatya in der türkischen Provinz Hatay befindet.

Hier saßen die türkischen Drohnen-Operateure, und von hier aus überwachten sie den Betrieb ihres integrierten Aufgebots an EMS-Kriegführungskapazitäten (EMS = Elektromagnetisches Spektrum), mit dem syrische und russische Luftverteidigungsradargeräte gestört und Signale von militärischem Wert (wie z.B. Handygespräche) gesammelt und analysiert wurden, die man zum Angriff gegen bestimmte Orte verwendete.

Für jeden türkischen Verlust von einem Dollar verlor Syrien etwa fünf Dollar

Die wichtigsten von der Türkei in dieser Rolle eingesetzten Systeme sind das Störsystem KORAL und eine speziell konfigurierte Anka-S-Drohne, die als luftgestützte Aufklärungsplattform dient. Die Anka-S fungierte auch als luftgestützte Gefechtsleitstelle, die Zielinformationen an Bayraktar-Drohnen in der Umgebung weiterleitete, die das Ziel dann visuell erfassten, bevor sie hochpräzise Luft-Boden-Raketen an Bord abfeuerten und das jeweils zugewiesene Ziel zerstörten. Bereits wenn ein integrierter Drohnenangriff, wie von der Türkei durchgeführt, isoliert stattfindet, kann er tödliche Wirksamkeit zeitigen; doch führt man ihn mit vier oder mehr Systemen gleichzeitig durch, von denen jedes in der Lage ist, auf mehrere Orte zu zielen, sind die Ergebnisse verheerend und könnten die Angriffe aus der Sicht der Empfänger durchaus mit einem tödlichen "Schwarm" verglichen werden.

Die Kämpfe in Syrien veranschaulichten einen weiteren wichtigen Faktor in der Drohnenkriegführung – das Missverhältnis zwischen den Kosten der Drohne und dem Wert der militärischen Kapazitäten, die sie vernichten kann. Die türkischen Bayraktar- und Anka-S-Drohnen kosteten die Türkei jeweils etwa 2,5 Millionen Dollar. Im Laufe der Kämpfe in der syrischen Provinz Idlib verlor die Türkei zwischen sechs und acht unbemannte Luftfahrzeuge, was zu Wiederbeschaffungskosten von insgesamt rund 20 Millionen Dollar führte.

Die Türkei behauptet (und Russland bestreitet das nicht), in der ersten Nacht jener Kämpfe in Syrien eine große Anzahl an schwerem Gerät der syrischen Armee zerstört zu haben, darunter 23 Panzer und 23 Artilleriegeschütze. Insgesamt wird den türkischen Drohnen neben einer beträchtlichen Menge anderer Kampfausrüstung die Zerstörung von 34 syrischen Panzern und 36 Artilleriesystemen zugeschrieben. Nimmt man die durchschnittlichen Kosten für einen in Russland hergestellten Panzer in Höhe von rund 1,2 Millionen Dollar und für ein Artilleriesystem in Höhe von rund 500.000 Dollar an, so beläuft sich allein der von den türkischen Drohnen verursachte Gesamtschaden auf rund 57,3 Millionen Dollar (wobei diese Zahl nicht die anderen beträchtlichen materiellen Verluste des syrischen Militärs einschließt, die insgesamt diese Zahl leicht erreichen oder übersteigen könnten). Allein unter Kostengesichtspunkten verloren die Syrer etwa fünf US-Dollar für jeden US-Dollar an Verlusten, die die Türkei erlitt.

Die Türkei war in der Lage, ihre Lehren aus den Kämpfen in der Provinz Idlib zu ziehen und sie auf einem anderen Kriegsschauplatz anzuwenden – in Libyen, im Mai 2020. Dort hatte sich die Türkei auf die Seite der belagerten Kräfte der GNA (Government of National Accord, dt.: Regierung der Nationalen Einheit) geschlagen, die um die libysche Hauptstadt Tripolis herum letzten Widerstand leisteten. Die GNA stand den Kräften der sogenannten Libyschen Nationalarmee (LNA) gegenüber, die aus Bengasi heranzog – mit dem Ziel, in einer Großoffensive die Hauptstadt einzunehmen, die GNA auszuschalten und die Kontrolle über ganz Libyen zu übernehmen.

Wie man ein halbes Land erobert

Die LNA wurde von mehreren ausländischen Mächten unterstützt, darunter Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Russland (über die Wagner-Gruppe, ein privates militärisches Unternehmen). Das Einschreiten der Türkei legte den Schwerpunkt auf den integrierten Drohnenkrieg, den sie in Syrien perfektioniert hatte. In Libyen fielen die Ergebnisse sogar noch einseitiger aus: Die von der Türkei unterstützte GNA konnte die LNA-Truppen zurückdrängen und dabei beinahe die Hälfte Libyens erobern.

Sowohl die LNA als auch die von der Türkei unterstützte GNA machten ausgiebigen Gebrauch von Kampfdrohnen. Doch nur die Türkei brachte einen integrierten Ansatz zur Drohnenkriegführung mit auf das Schlachtfeld. Beobachter hatten sich an das Konzept der USA gewöhnt, die einzelne Drohnen frei über Orten wie dem Irak, dem Jemen und Afghanistan betrieben und Präzisionsschläge gegen Ziele von Terroristen ausführten. Wie Iran jedoch im vergangenen Mai demonstrierte, sind Drohnen gegenüber modernen Luftabwehrsystemen verwundbar, und die Drohnentaktik der USA würde in einem Luftraum, den der Gegner ihnen streitig macht, nicht funktionieren.

Auch die LNA, die in großem Umfang Kampfdrohnen aus chinesischer Fertigung einsetzte, die von Operateuren aus den Vereinigten Arabischen Emiraten geflogen wurden, war damit sehr erfolgreich – just bis zum Eingriff der Türkei. Mithilfe elektronischer Kriegführung und ihrer integrierten Luftverteidigungsfähigkeiten machte diese es der LNA dann unmöglich, Drohnenoperationen durchzuführen. Und die Unfähigkeit der LNA, eine wirksame Verteidigung gegen die türkischen Drohnenoperationen aufzubauen, führte dazu, dass das Kampfgeschehen am Boden eine rasche Wende nahm. Wenn überhaupt, dann war die Kostendifferenz zwischen der von der Türkei unterstützten GNA und der LNA noch größer als der Eins-zu-Fünf-Dollar-Vorteil, den die Türkei in Syrien genoss.

USA, Russland und China – die großen Jungs in der Aufholpartie

Als die Türkei im September 2020 ihre Zusammenarbeit mit Aserbaidschan gegen Armenien begann, hatte die Fähigkeit der Türkei zum Drohnenkrieg ihren Höhepunkt erreicht – und das Ergebnis in Bergkarabach war so gut wie sicher. Eine der wichtigsten Lehren, die aus den Erfahrungen der türkischen Drohnen in Syrien, Libyen und Bergkarabach gezogen wurden, ist zu bedenken: Diese Konflikte wurden nicht etwa gegen sogenannte "arme Länder" ausgetragen.

Vielmehr standen die Türken gut ausgerüsteten und gut ausgebildeten Streitkräften gegenüber, die mit Ausrüstung operierten, die der in den meisten kleinen und mittleren europäischen Ländern eingesetzten sehr ähnlich ist. In der Tat stand die Türkei in allen drei Konflikten einigen der besten von Russland hergestellten Flugabwehrraketensysteme gegenüber. Die Realität sieht so aus, dass es den Streitkräften der meisten Staaten nicht gut ergehen würde, wenn sie mit einem türkischen "Drohnenschwarm" konfrontiert würden.

Und der Einsatz von Drohnen in größerer Zahl wird sich nur noch ausweiten.

So arbeitet die US-Armee derzeit an AFADS (Armed, Fully-Autonomous Drone Swarm, also ihrem sogenannten "bewaffneten, vollständig autonomen Drohnenschwarm". Wenn AFAD-Schwärme eingesetzt werden, werden sie – autonom und ohne menschliches Zutun – Ziele orten, identifizieren und angreifen, und zwar mit einer so genannten "Cluster Unmanned Airborne System Smart Munition", die ihrerseits einen Schwarm kleiner Drohnen freisetzt, die sich über das Schlachtfeld ausbreiten und dort Ziele orten und zerstören.

China hat ebenfalls ein System getestet, das mit bis zu 200 "Kamikaze-Drohnen" ein Schlachtfeld sättigt. Diese sollen Ziele zerstören, indem sie in diese hineinfliegen.

Und im September dieses Jahres integrierte auch Russlands Militär zum ersten Mal "Drohnenschwarm"-Kapazitäten in einer groß angelegten Militärübung.

Das Gesicht der modernen Kriegführung hat sich für immer verändert. Und jene Staaten, die auf ein Schlachtfeld, auf dem die Drohnentechnologie vollständig in jeden Aspekt des Kampfes integriert ist, nicht vorbereitet oder ausgerüstet sind, können mit ähnlichen Konsequenzen rechnen wie jetzt Armenien: mit schweren Verlusten an Menschenleben und Ausrüstung, Niederlagen, Demütigung und wahrscheinlich territorialen Verlusten. Dies ist die Realität der modernen Kriegführung, die – wie Gressel feststellt – jeden Staat, der beim Einsatz der Drohnentechnologie nicht vollständig mitzieht, "zum Nachdenken – und zur Besorgnis" veranlassen sollte.

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Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie. Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen. Auf Twitter findet man ihn unter @RealScottRitter

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