Meinung

Attentate, uneinige Linke und kandidierende Militärs: Richtungsweisende Kommunalwahlen in Brasilien

Die anstehenden Kommunalwahlen in Brasilien werden überschattet von über 80 politischen Attentaten. Tausende Angehörige des Militärs, der Polizei und religiöser Sekten kandidieren – so viele wie nie zuvor. Doch auch viele Frauen aus den sozialen Bewegungen treten an.
Attentate, uneinige Linke und kandidierende Militärs: Richtungsweisende Kommunalwahlen in BrasilienQuelle: www.globallookpress.com © Sandro Pereira/Keystone Press Agency

von Maria Müller

Die 211 Millionen Einwohner Brasiliens sind zu den Kommunalwahlen am 15. November aufgerufen. Laut dem Obersten Wahlgericht stellen jedoch die politischen Attentate und Morde an 82 Kandidaten und systematische Verleumdungskampagnen während der Wahlkampagne die demokratische Qualität der Wahlen in Frage.

Europäische Union schweigt

Die Polarisierung der Gesellschaft hat sich seit dem Sieg des rechtsextremen Jair Bolsonaro bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2018 weiter vertieft. Insbesondere im Bundesstaat Rio de Janeiro, seiner Heimat, ist die tödliche Verfolgung der Opposition besonders extrem. Die wachsende Macht der Milizen – mafiöser Gruppen ehemaliger Polizisten und Militärs, die zur Hausmacht der Bolsonaros gehören (sollen) – expandiert vor allem in den "Favelas", den Randbezirken der Metropole Rio.

Aus Brüssel ist keine Forderung nach "sauberen und transparenten Wahlen" wie im Falle von Venezuela zu vernehmen, geschweige denn eine Drohung der Union bereits im Vorfeld, solche Wahlen nicht anzuerkennen. Das behält sie sich nur für den Karibikstaat vor, der nicht im Entferntesten vergleichbare Gewaltpotenziale im Vorfeld der kommenden Präsidentschaftswahlen im Dezember erkennen lässt. Die brasilianische Regierung muss offenbar – trotz der großen Anzahl von ermordeten Kandidaten – vom EU-Außenminister Josep Borrell keine kritischen Erklärungen befürchten oder womöglich gar das Urteil, derzeit  seien "die Bedingungen für freie und demokratische Wahlen" im Lande nicht gegeben…

Polizisten, Militärs und Religionsführer im Vormarsch

Erneut steigt die Zahl der Kandidaten aus den Reihen der Sicherheitskräfte und der Religionsführer, wie es bereits bei vorherigen Wahlen zu beobachten war. Insgesamt sind es 6.760 Polizisten, Militärs, militarisierte Feuerwehrbeamte und Mitarbeiter privater  Sicherheitsdienste, die in den 5.500 Städten und Gemeinden Brasiliens antreten. Falls sie nicht gewählt werden, können sie sofort wieder zu ihren früheren Arbeitsstellen zurückkehren.

Laut dem Obersten Wahlgericht Brasiliens (TSE) ist bei diesen Wahlen außerdem ein Rekord an Kandidaten zu verzeichnen, die als ihre Hauptbeschäftigung "Priester, Mitglied eines religiösen Ordens oder einer Sekte" nennen. Bei 885 Personen lautet der Beruf Pastor, Priester oder Bischof. Des Weiteren gibt es 8.700 Kandidaten, die ihren Namen direkt mit religiösen Kategorien verknüpfen, wie Pater, Mae (Mutter), Missionar oder Apostel. Sie stammen meist aus der in Lateinamerika weit verbreiteten evangelischen Sekte "Universalkirche des Reichs Gottes".

Der Präsident und Bischof dieser Sekte, Marcos Pereira, ist Vizepräsident der Abgeordnetenkammer des brasilianischen Parlaments. Die zweite Partei, die als ein Anhängsel der "Evangelischen Pfingstkirchen" gilt, ist die Sozial-Christliche Partei. Präsident Bolsonaro war dort zwei Jahre lang Mitglied. Derzeit ist der Kirchenführer Pastor Everaldo inhaftiert, weil er an Plänen zum Abzweigen von eigentlich für die öffentliche Gesundheit bestimmten Ressourcen in Rio de Janeiro teilgenommen hatte.

Insgesamt sind diese und weitere religiöse Parteien allesamt rechts-konservativ angesiedelt. Sie verteufeln die Abtreibung, die Gender-Ehe, die LGBT-Bewegung und vor allem die linken Bewegungen und Parteien, allen voran die Arbeiterpartei (PT) des früheren Präsidenten Lula da Silva. Sie konzentrieren ihre Aktivitäten besonders auf die Industriestadt Sao Paulo, aber auch auf die Städte Amapá, Pará und Mato Grosso do Sul.

Historische Beteiligung von Frauen

Andererseits erreicht auch die Beteiligung von Frauen bei diesen Kommunalwahlen ein ebenfalls historisches Niveau. Anfang Oktober gab es über 550.000 Anträge auf eine Registrierung von Kandidatinnen, das sind 47.000 mehr als im Jahr 2016. Darunter erreichten die Kandidaturen von Afro-Brasilianerinnen und von Frauen aus sozialen Bewegungen Rekordmarken. Sie kommen vor allem aus den städtischen Randbezirken und aus den verarmten Satellitenstädten der Millionenmetropolen und repräsentieren eine Vielzahl von sozialen Bewegungen und Nachbarschaftsprojekten, die das Überleben in den Zonen der "Chancenlosen" ermöglichen.

Viele Frauen fühlen sich heute ermutigt, am Kampf um die Spitzen der Kommunalverwaltungen teilzunehmen, da das Oberste Wahlgericht eine gerechte Aufteilung der Wahlkampfmittel zwischen Frauen und Männern und zwischen weißen und schwarzen Kandidaten nun strenger kontrollieren will. Denn viele Parteien stellten Kandidatinnen als Fassade auf, um so zu tun, als ob sie die "Frauenquote" erfüllten. Die dafür erhaltenen Wahlgelder leiteten sie dennoch an männliche Kandidaten um.

Ungewisse Prognosen

Die Kommunalwahlen in Brasilien finden in zwei Runden statt. Die erste ist am 15. November, die zweite am 29. November. Inwieweit deren Ergebnisse eine Prognose für die nächsten Präsidentschaftswahlen erlauben, ist ungewiss. Selbst wenn Bolsonaros Anhänger diesmal schlechter abschneiden und die linke Opposition wieder mehr Punkte macht, bedeutet das nach Meinung mancher Beobachter nicht, dass die rechtsextremen Tendenzen – vor allem aus den Reihen der Sekten – zurückgedrängt werden können.

Bolsonaros Corona-Management

Bolsonaro brachte durch seinen katastrophalen Umgang mit der Corona-Pandemie Brasilien auf den dritten Platz der am meisten betroffenen Länder der Welt. Unter der 212 Millionen zählenden Bevölkerung gibt es (Stand Oktober) rund 5 Millionen positiv Getestete. Die Todesrate beträgt drei Prozent, etwa 150.000 Personen starben an oder mit Corona, was in Brasilien nicht differenziert wird.

Bolsonaro hofft nun, dass die Wähler ihm nicht die Rechnung für seine verharmlosende Kampagne der COVID-19-Epidemie präsentieren. Immerhin hat er sich unter dem Druck der Linken dazu bereit erklärt, das unter der Regierung von Lula da Silva eingeführte "Haushaltsgeld für die Familie" (Bolsa Família) wieder aufzugreifen. Das universelle Mindesteinkommen soll für die Dauer der Pandemie ausgezahlt werden. Die Maßnahme bescherte dem zuvor stark in Misskredit geratenen Präsidenten einen neuen Aufschwung in der Zustimmung der Bevölkerung, in erster Linie unter den Ärmsten der Armen. Im Juni veröffentlichte das Umfrageinstitut Datafolha, dass 42 Prozent das Management des Präsidenten für absolut schlecht halten, während 32 Prozent ihn unterstützen. Seit dem Inkrafttreten des universellen Mindesteinkommens stieg die Zustimmung auf 37 Prozent (Oktober).

Die Linke kann sich nicht einigen

Im Hinblick auf die Wahlen konnte sich die brasilianische Linke nicht darauf einigen, eine Koalition aus den Mitte-Links-Parteien zu bilden, um so den Aufstieg der Rechten zu bremsen. Carlos Siqueira, der Präsident der Brasilianischen Sozialistischen Partei (PSB), erklärte dazu: "Es gibt keine Einheit auf der linken Seite. Jeder geht seinen eigenen Weg".

Die drei Monate andauernden Koalitionsgespräche unter den sechs Parteien wurden ergebnislos abgebrochen. Luciana Santos, Präsidentin der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB), erklärte: "Wir stimmen inhaltlich in vielen Themen überein, aber in Bezug auf den Wahlkampf haben wir es nicht geschafft, uns zu vereinen."

Die an den Verhandlungen beteiligten Parteien waren die Arbeiterpartei (PT), die brasilianische Sozialistische Partei (PSB), die Demokratische Arbeiterpartei (PDT), die Kommunistische Partei Brasiliens (PCdoB), die Partei "Für Sozialismus und Freiheit" (PSOL) und die Partei "Netz für eine dauerhafte Entwicklung" (REDE).

Gegen den Sozialstaat, für Sozialdarwinismus

Die in ganz Lateinamerika fast gleichlautenden Narrative einer rechts-konservativen Welle konnten eine Art "ideologische Mauer" errichten. Damit sollte – und konnte – die überwiegend erfolgreiche soziale und wirtschaftliche Aufbauarbeit unter den progressiv-sozialdemokratischen Regierungen zurückgedreht werden. Sie stützt sich dabei vor allem auf rassistische und sozialdarwinistische Denkmuster, die die Ängste der weißen Nachfahren der Kolonialherrenklassen aufgreifen. Diese fürchten, ihre überlegene Stellung in einer Gesellschaft zu verlieren, in der die ehemaligen afrikanischen Sklaven oder indianischen Nationen mit ihnen auf einer wirtschaftlich und kulturell gleichen Stufe stehen. Besonders in Brasilien, aber auch in Peru, Bolivien oder Kolumbien ist die koloniale Ideologie tief verwurzelt.

In Brasilien hat das Förderungsprogramm für den gleichberechtigten Zugang zu Gymnasien und Universitäten den farbigen Studierenden ermöglicht, sich in gleicher Anzahl und Qualifizierung zu profilieren wie ihre weißen Mitschüler. Seitdem beschwören die Stimmen aus der rechten Ecke geradezu die Behauptung, das Ganze habe den Rassismus nur noch vertieft. Oder Lulas "Haushaltsgeld für die Armen" würde lediglich den Faulpelzen ein angenehmes Leben ermöglichen. Angesichts der hohen Kriminalitätsraten und des organisierten Verbrechens setzt ein wachsender Prozentsatz der Bevölkerung mehr auf harte Gefängnisstrafen und unkontrollierten Schusswaffengebrauch als auf verbesserte Lebensbedingungen und sozial-kulturelle Integration.

Tödliche Konzepte für die Innere Sicherheit

Die ausufernde Gewalt der Mafiastrukturen und Kartelle, die in wachsendem Maß ganze Stadtteile und Landstriche unter ihre Kontrolle bringen und die Sicherheitskräfte des Staates erfolgreich bekriegen, war und ist ein zentrales Wahlkampfthema. Mit dem "lockeren Colt" würden die Gangster besiegt, versichern jene Präsidentschaftskandidaten, die den progressiven Kräften Schwäche und Untätigkeit vorwerfen. Ihr Credo lautet: Polizeikräfte dürften nicht zur Rechenschaft gezogen werden, falls es bei den Razzien Todesopfer gibt, und man werde die Selbstbewaffnung ohne Waffenschein fördern. Zudem sollten ehemalige Militärs in den Polizeidienst treten. Eine solche Sicherheitspolitik führt dann in den Armenvierteln jährlich zu Tausenden von "außergerichtlichen Hinrichtungen" durch militarisierte Sondereinheiten.  

Doppelte Moral, doppelte Standards

Fast alle lateinamerikanischen Staaten haben mit diesen Problemen in unterschiedlichem Ausmaß zu kämpfen. Handelt es sich dabei um Brasilien, Kolumbien oder El Salvador, ist das kein Thema für die (internationalen) Medien. Handelt es sich jedoch um Venezuela, wird die gesamte Bevölkerung vom Ausland mit schwersten Sanktionen bestraft, natürlich nur, um die "Menschenrechte" zu verteidigen.

Was als Wahlkampfthema erfolgreich die Emotionen schürt, scheitert anschließend an den harten Realitäten, für die keine einzige rechte neoliberale Regierung bisher Erfolgsrezepte vorweisen kann. Auch den linken oder progressiven Staatsführungen gelang es nicht, die hohen Verbrechensstatistiken definitiv zu reduzieren. Dazu gehört auch die Welle der Frauenmorde, die den Kontinent seit ein paar Jahren erfasst hat. Nicht zuletzt wirken die TV-Nachrichtenprogramme als systematische Angstmacher und Einpeitscher, die selbst aus dem Ausland noch Nachrichten über Verbrechen importieren, wenn an einem Tag im eigenen Land mal niemand überfallen wurde.

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