Meinung

Boris Johnson will Immunität für britische Streitkräfte gegen Strafverfolgung von Kriegsverbrechen

Der britische Premier Boris Johnson will für britische Streitkräfte per Gesetz Immunität gegen Strafverfolgung (auch wegen Kriegsverbrechen) – dasselbe Gesetz nimmt ihnen jedoch auch wichtige eigene Rechte. Ist der Entwurf ein Verrat dessen, wofür Großbritannien steht?
Boris Johnson will Immunität für britische Streitkräfte gegen Strafverfolgung von KriegsverbrechenQuelle: Reuters © Toby Melville

von Chris Sweeney

Ein Entwurf für ein umstrittenes Gesetz ist gerade auf seinem Weg durch das britische Unterhaus: Es soll strafrechtliche Verfolgung von Soldaten praktisch unmöglich machen – wird ihnen aber gleichzeitig einige ihrer bisher gesetzlich verankerten Rechte nehmen, etwa das auf bestimmte Arten medizinischer Behandlung. Der Gesetzesentwurf konnte an allzu großer Aufmerksamkeit vorbeigemogelt werden – vor allem dank der Reibereien des ehemaligen EU-Mitglieds Großbritannien mit der Rest-EU, und natürlich wegen der Wiederaufnahme der COVID-19-Sperre in Großbritannien. Die verantwortlichen Minister sollten ihr Glück loben, denn der Gesetzentwurf ist ein unvorstellbarer Verrat an allem, wofür Großbritannien steht.

Der erste Teil schirmt Soldaten im Dienst vor strafrechtlicher Verfolgung ab. Dies geschieht durch eine sogenannte "Dreifachverriegelung": Sie besteht aus der allgemeinen Verjährungsfrist von fünf Jahren, dem Grundsatz gegen die Strafverfolgung für "historische", also zehn Jahre oder länger zurückliegende Kriegsverbrechen im Ausland (presumption against persecution) sowie aus dem Erfordernis einer ausdrücklichen Zustimmung des Generalstaatsanwalts.

Es sind keine juristischen Kenntnisse erforderlich um zu erfassen, wie viel Freiraum dies bietet. Das vorgeschlagene Gesetz verpflichtet die Regierung zu erwägen, ob die Europäische Menschenrechtskonvention in Bezug auf militärische Operationen im Ausland aufzukündigen ist. Wenn also britische Truppen an Folter oder anderen illegalen Handlungen beteiligt sein sollten, könnte die Regierung entsprechende Anschuldigungen leicht beiseiteschieben.

Falls sie irgendwie doch noch vor Gericht landen sollten, sieht die Gesetzesvorlage vor, dass bei jeder Entscheidung die "außergewöhnlichen Anforderungen und Belastungen", denen die Truppen ausgesetzt waren, berücksichtigt werden sollten – doch ist das nicht gerade der Grund, warum sich jeder in den Streitkräften einer intensiven Ausbildung zu unterziehen hat? Haben Kommandeure nicht die Pflicht, ihre Truppen so zu führen und im Blick zu behalten, dass sie nicht überlastet werden?

Falsch ist falsch – unabhängig davon, ob man sich mitten in einem Krieg in einer sengend heißen Wüste befindet, in den man gar nicht ziehen wollte. Auch Apathie ist keine Entschuldigung, ebenso wenig wie der Druck, von zu Hause und von der Familie getrennt zu sein – diesen Kompromiss geht man ein, wenn man sich verpflichtet und als Berufssoldat besoldet wird. Ironischerweise wirkte ausgerechnet der bekannte Anwalt Phil Shiner daran, das Gesetz auf den Weg zu bringen. Er war Menschenrechtsanwalt des Jahres 2004 und wurde von der Law Society zum Anwalt des Jahres 2007 gekürt.

Er wurde jedoch unehrenhaft aus der Anwaltskammer ausgeschlossen und vor drei Jahren für bankrott erklärt. Sein Sturz war der Höhepunkt des Iraq Historic Allegations Team (IHAT), dessen Einrichtung 34 Millionen britische Pfund (43,4 Millionen Dollar) kostete und das Anschuldigungen über Folter und Misshandlung durch britische Streitkräfte untersuchte. Das endete in einer Katastrophe: Shiner wurde der Unehrlichkeit und mangelnder Integrität einschließlich Manipulation der Beweislage für schuldig befunden. Und es wurde enthüllt, dass er einen Mittelsmann bezahlt hatte, um Mandanten zu finden, die sich der Klage anschließen sollten. Der damalige Verteidigungsminister, Michael Fallon, kommentierte:

Phil Shiner machte das Leben der Soldaten zum Elend, indem er falschen Behauptungen von Folter und Mord nachging.

Der Verrat und die Gefühle des Misstrauens wurden von Teilen der Mainstream-Medien noch aufgebauscht. Dadurch wurde die Tatsache bedeutungslos, dass sich das System als robust erwiesen hatte und der Gerechtigkeit letztlich Genüge getan wurde. Ohne ein ordentliches Verfahren und ein umfassendes Rechtssystem könnten falsche Behauptungen durchs Netz geschlüpft sein.

Der Skandal spiegelte den berühmten Fall wider, als Piers Morgan als Redakteur der Boulevardzeitung Daily Mirror gefeuert wurde, als er auf der Titelseite Bilder von britischen Truppen zeigte, die sich der Folter schuldig machten – und dann herauskam, dass die Bilder gestellt waren. All das hat es der Initiative ermöglicht, vom populistisch-patriotischen Schrei "Schützt unsere Jungs und Mädels" neuen Schwung zu erhalten. Und man kann doch nicht etwas einfach ignorieren, nur weil man es nicht sehen will.

Im Jahr 2013 wurde Sergeant Alexander Blackman von den Royal Marines für die Ermordung eines verletzten Taliban-Mitglieds in der afghanischen Provinz Helmand verurteilt. Später wurde das Urteil auf Totschlag abgemildert, aber er saß dennoch drei Jahre im Gefängnis. Im vergangenen Jahr gab es zahlreiche Anschuldigungen im Zusammenhang mit der Tötung von Kindern in Afghanistan und im Irak durch Soldaten.

Natürlich gab es auch noch mehrere Konflikte in der Vergangenheit, in deren Verlauf es zu schändlichen Taten kam: Folter von Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg, wahllose Tötungen durch die Armee in Kenia und Malaysia. Dieser Gesetzentwurf geht viel zu weit, denn er bietet auch abtrünnigen Offizieren die Möglichkeit, ungestraft zu tun und zu lassen, wie sie wollen, ohne jegliche Angst vor Konsequenzen. Die Leiterin der britischen Sektion von Amnesty International Kate Allen erklärte:

Es liegt in niemandes Interesse, dass Angehörige der Streitkräfte einen Freifahrtschein bei Anschuldigungen für Kriegsverbrechen erhalten.

Der Haken an der Sache besteht schließlich darin, dass der Gesetzentwurf auch auf Soldaten abzielt: Sein zweiter Teil sieht eine Frist von sechs Jahren für Veteranen vor, innerhalb derer sie eine Entschädigung – etwa für posttraumatische Belastungsstörungen oder Hörverlust – fordern können. Zwar beginnt die Uhr erst zu ticken, wenn über den Zustand Kenntnis erlangt wird. Doch die Fristsetzung bringt dennoch wie aus dem Nichts eine Kultur hervor, in der Soldaten, die auf Geheiß ihres Landes gezwungen waren, Dinge zu ertragen, anschließend nur eine begrenzter Zeitrahmen zugebilligt wird, davongetragene Schäden anzeigen zu können. Es kann gar keinen anderen Grund für die vorgeschlagene Sechsjahresfrist geben, als gerade das zu begrenzen, was die Regierung an die Geschädigten gegebenenfalls auszahlen müsste. Der Vizepräsident der Law Society David Greene erklärte daher:

Nur das Verteidigungsministerium würde von der vorgeschlagenen Frist für die Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen profitieren, da es die Zahlung gerichtlich festgestellter Schäden und somit Kosten vermeiden würde.

Dieser Umklammerungs-Manöver ist absolut skrupelloser Natur. Auf der einen Seite zeigt man so der Weltgemeinschaft, dass Großbritannien allein über sein eigenes Verhalten urteilen will und dabei die Überzeugung hochhält, dass seine Truppen sich stets makellos verhalten. Und andererseits wird den armen Seelen an der Front gesagt, dass sie ein Zeitfenster zur Geltendmachung von Ansprüchen aus Verletzungen und Schäden haben, nach dessen Verstreichen sie aber dann auf sich allein gestellt sein werden. Anstatt engagierte und fortschrittliche Menschen dazu zu bewegen, sich beim Militär zu verpflichten, wird das vorgeschlagene Gesetz bloß an schießwütige Adrenalinjunkies appellieren, die nur dazu auf Schießstände gehen, um dort mit Freuden magazinweise Kugeln aus Gewehren sperrfeuerartig zu abzuladen.

Doch die Regierung weiß, was sie tut. Dies ist der erste Schritt dahin, die Streitkräfte in ein Pack krawallwütiger Schakale mit auf die Oberarme eintätowierten Union Jacks zu verwandeln. Es ist auch ein Freifahrtschein, der es Boris und seinem Beraterklüngel erlaubt, beliebig in Konflikte einzutreten, wobei zugleich die Verluste für die Inlandspolitik kleingehalten werden. Die einzige Abhilfe könnte am Ende der Internationale Strafgerichtshof bringen, der ihn eines Tages – zusammen mit hochrangigen Militärs – nach Den Haag vorladen könnte, um sich dort der Gerechtigkeit stellen zu müssen, wie es mit dem sudanesischen Herrscher Omar al-Bashir geschah und Libyens Muammar Gaddafi (Anm.: per Haftbefehl kurz vor seinem Sturz und der Ermordung) angedroht wurde. Großbritannien wird vom einstigen Begründer der Rechtsstaatlichkeit damit auf den künftigen Status einer Bananendiktatur reduziert – und das alles nur dank einer konservativen Regierung mit einer Mehrheit von 80 Sitzen.

 Übersetzt aus dem Englischen.

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