Meinung

Warum die außenpolitische US-Elite Donald Trump verabscheut

Der parteiübergreifende Hass, den das außenpolitische Establishment der USA Donald Trump entgegenbringt, ist dessen Unwillen geschuldet, neue NATO-Einsätze zu befehlen. Von Biden als möglichem US-Präsidenten versprechen sie sich das direkte Gegenteil.
Warum die außenpolitische US-Elite Donald Trump verabscheutQuelle: Reuters © Kevin Lamarque

von George Szamuely

Ein Grund für die maßlose Feindseligkeit der außenpolitischen Insider-Brigade gegenüber Trump liegt darin, dass er keine Zeit darauf verschwendet, neue Einsätze für die NATO zu beschwören, die ihr Fortbestehen rechtfertigen könnten.

Stattdessen hat er versprochen, 12.000 US-Soldaten aus Deutschland abzuziehen. Seine Forderung, dass die NATO-Mitgliedsstaaten gefälligst ihre finanziellen Beiträge erhöhen für die Aufrechterhaltung eines Militärbündnisses, das angeblich zu ihrem "Schutz" da ist, setzt dem Ganzen schließlich die Krone auf.

Dies ist ein Sakrileg für eine außenpolitische Elite, die in den letzten 70 Jahren stets am Altar der NATO gebetet hat. Ein wutentbrannter Senator Ben Sasse etwa, übrigens ein Republikaner, reagierte so:

US-Truppen sind nicht als Verkehrspolizisten oder Sozialarbeiter auf der ganzen Welt stationiert – sie halten die Expansionspläne der schlimmsten Regime der Welt, vor allem Chinas und Russlands, im Zaum."

Die ehemalige Nationale Sicherheitsberaterin Susan Rice äußerte sich besorgt über die

anhaltende Erosion des Vertrauens in unsere Führung innerhalb der NATO und weitere Bemühungen, die unser Engagement in Frage stellen, sowie weitere Signale an die Autoritätspersonen innerhalb der NATO und sowie Russland selbst, dass diese ganze Institution verwundbar ist

Laut Nicholas Burns, dem ehemaligen US-Botschafter bei der NATO und derzeitigem Berater von Joe Biden, hat Trump die militärischen Verbündeten der USA in erster Linie als eine Belastung für das US-Finanzministerium dargestellt. Trump kritisiere aggressiv Washingtons wahre Freunde in Europa, demokratische Staatschefs wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel, während er Wladimir Putin, Xi Jinping, Kim Jong-un und andere "Autoritaristen" in der ganzen Welt mit ungewöhnlichem Taktgefühl behandle. 

Siebzig ehemalige republikanische nationale Sicherheitsbeamte gaben kürzlich eine Erklärung ab, in der Trump beschuldigt wurde, "Amerikas weltweites Ansehen geschändet und den moralischen und diplomatischen Einfluss unserer Nation untergraben zu haben". Und – noch schrecklicher! – Trump hat die NATO "veraltet" genannt.

Trump hat es also nicht nur versäumt, für die NATO eine neue Mission zu formulieren, sondern diese eine Art von Mission, die er sich stattdessen ausdachte – das Einfordern von noch mehr Geldmitteln aus den NATO-Mitgliedsstaaten – ist darauf ausgelegt, gegenseitige Anschuldigungen innerhalb des Bündnisses auszulösen. Trump rühmt sich regelmäßig damit, dass er die NATO überredet habe, jährlich 130 Milliarden Dollar zusätzlich aufzubringen – "und es werden 400 Milliarden Dollar sein", drohte er sogar kürzlich.

Aus Sicht der Rekruten der außenpolitischen Denkfabriken Washingtons ist es ein gefährliches Geschäft, die NATO-Mitgliedsstaaten unter Druck zu setzen, damit sie mehr Geld bereitstellen: Es könnte sie nämlich in unerwünschter Weise die der Frage bringen, ob die Bereitstellung ohnehin knapper Ressourcen für die NATO – insbesondere jetzt, nach dem wirtschaftlichen Abschwung wegen COVID – eine sinnvolle Investition ist.

Die NATO auf verzweifelter Suche nach ihrer eigenen Daseinsberechtigung

Es ist kein Geheimnis, dass die NATO seit dem Zerfall der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes verzweifelt nach einem Grund zur Rechtfertigung ihres Fortbestehens sucht. Zwar erhöhte das Bündnis innerhalb von 20 Jahren seine Mitgliederzahl von 16 auf 30 Staaten, ohne jedoch einen überzeugenden Grund – abgesehen von schlichter Trägheit – für die Fortsetzung des Geschäftsmodells vorzuweisen.

Zwar gab und gibt es (teils auch neue) Bedrohungen – etwa im Bereich der Cybersicherheit, durch die Massenmigration, den Menschenhandel, durch Drogen, die Bedrohung einer Weiterverbreitung nuklearer Waffen, den internationalen Terrorismus. Aber es war nie ganz klar, wie ausgerechnet ein Militärbündnis von so enger Fokussierung in der Lage sein soll, diesen im Alleingang zu begegnen. Bei der NATO war man daher gezwungen, sich energisch den Kopf zu zerbrechen.

In den 1990er Jahren griff der Wahn nach "humanitärer Intervention" um sich. Dies führte in den Jahren 1994 und 1995 zur Bombardierung Bosnien-Herzegowinas durch die NATO und im Jahr 1999 zur noch schrecklicheren Bombardierung der Reste Jugoslawiens. Mit keiner der beiden Operationen wurde "humanitär" etwas erreicht, was Jahre zuvor – und zwar ohne den Einsatz von Gewalt – nicht längst hätte erreicht werden können.

Ab dem Jahr 2001 widmete sich dann auch die NATO dem globalen "Krieg gegen den Terror". Nach dem 11. September 2001 berief sich die NATO zum ersten Mal in ihrer Geschichte auf Artikel 5 des Nordatlantikvertrages und erklärte, dass der terroristische Angriff auf die Vereinigten Staaten gleichbedeutend mit einem Angriff gegen jedes NATO-Mitglied sei.

Als die Vereinigten Staaten mit der Invasion Afghanistans im Oktober 2001 "zurückschlugen", war die NATO zur Stelle, um Hilfe zu leisten. Im Dezember rief sie ISAF ins Leben, eine sogenannte Internationale Sicherheitsbeistandstruppe (International Security Assistance Force). Deren nebulöse Mission bestand darin, "die afghanische Regierung bei der Durchsetzung und Ausweitung ihrer Kontrolle und ihres Einflusses im ganzen Land zu unterstützen und so den Weg für den Wiederaufbau und eine wirksame Staatsführung zu ebnen".

Als nächstes kam der Irak dran. Trotz des damals lautstarken Widerstandes aus Frankreich und Deutschland gegen die Invasion im Jahr 2003 wurde die NATO in Windeseile aktiv. Und ein Jahr später richtete sie schließlich die NATO-Ausbildungsmission Irak ein, deren nächstes Ziel angeblich darin bestand, nun wieder "beim Aufbau von Ausbildungsstrukturen und -einrichtungen für irakische Sicherheitskräfte mitzuhelfen, damit der Irak wirksame und nachhaltige Kapazitäten erhält, die den Bedürfnissen des Landes gerecht werden". So wurde eine ihrer nächsten Aufgaben die Ausbildung der irakischen Polizei. Wie jedoch die Offenlegung der Irak-Kriegsprotokolle durch WikiLeaks zeigte, unterzog diese "gut ausgebildete" irakische Polizei Festgenommene entsetzlichen Folterungen.  Weder bei ihrer Mission in Afghanistan noch bei der im Irak hat sich die NATO jemals mit Ruhm bekleckert.

Als die Demokraten im Jahr 2009 in Washington wieder an die Macht kamen, kehrte auch die NATO prompt wieder zum Geschäft der "humanitären Intervention" zurück. Ihre "humanitäre" Bombardierung Libyens im Jahr 2011 zerstörte dort Regierung, Recht und öffentliche Ordnung – Institutionen, die vor dieser Intervention noch dafür gesorgt hatten, dass das libysche Volk sein Leben frei von alltäglicher Todesangst führen konnte. Ganz zu schweigen vom nun folgenden Spektakel der Sklavenmärkte.

Nachdem diese "humanitäre Intervention" in Libyen offensichtlich in einem Debakel und mit Kriegsverbrechen geendet hatte (einschließlich der Hinrichtung von Muammar al-Gaddafi), an denen die NATO eindeutig beteiligt war, kehrte das Bündnis zu seiner alten Mission der "Eindämmung" aus den Zeiten des Kalten Krieges zurück.

Nach dem Putsch in Kiew am 21. Februar 2014 und der Wiedereingliederung der Krim in Russland glich die neue NATO-Mission nun wieder sehr stark der uralten. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen versprach:

Wir werden mehr Flugzeuge in der Luft, mehr Schiffe auf dem Wasser und eine höhere Bereitschaft zu Lande haben. Zum Beispiel werden mehr Flugzeuge  als Patrouillen über dem Baltikum fliegen. Alliierte Schiffe werden in der Ostsee, im östlichen Mittelmeer und anderswo eingesetzt werden.

Sechs Jahre später ist klar, dass es einfach nicht mehr genug bewaffnete Konflikte in der Welt gibt, um das Fortbestehen der NATO zu rechtfertigen – ganz zu schweigen von den enormen Kosten solch einer gigantischen militärischen Organisation. Die NATO ging daher dazu über, die neuesten sozialen und kulturellen Modethemen aufzugreifen – um wenigstens so zu beweisen, wie aktuell sie doch ist.

Mehr NATO gegen den Klimawandel

Die NATO nahm zum Beispiel den "Klimawandel" in ihr Repertoire auf. Im Strategischen Konzept der NATO von 2010 heißt es: "Die wichtigsten von der Umwelt und der Ressourcenknappheit auferlegten Beschränkungen, einschließlich Gesundheitsrisiken, Klimawandel, Wasserknappheit und steigender Energiebedarf, werden weiterhin das künftige Sicherheitsumfeld in den für die NATO wichtigen Bereichen prägen. Sie haben das Potenzial, die Planung und Durchführung der NATO-Operationen erheblich zu beeinflussen."

Man hätte ja eigentlich denken können, dass die wirksamste Art und Weise, wie die NATO zur Minimierung der globalen Erwärmung beitragen könnte, darin besteht, militärische Übungen, See- und Luftpatrouillen sowie überhaupt die Bewaffnung zu reduzieren. Aber nein, anscheinend liegt die Lösung für den "Klimawandel" nicht in weniger, sondern in "mehr NATO".

Dann kam auch noch das Thema "Gleichstellung der Geschlechter". Mari Skåre, die Sonderbeauftragte des NATO-Generalsekretärs für Frauen, Frieden und Sicherheit, erklärte also im Jahr 2013:

Die Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, ist unsere kollektive Aufgabe. Und die NATO trägt ihren Teil dazu bei.

Im März 2016, passend am Internationalen Frauentag, hielt die NATO die sogenannte "Barbershop-Konferenz" zur Gleichstellung der Geschlechter ab. Bei dieser Gelegenheit erklärte der Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass die Gleichstellung der Geschlechter ein schrecklich wichtiges Thema für das Bündnis sei. Denn

die NATO ist eine auf Werten basierende Organisation, und keiner ihrer Grundwerte – individuelle Freiheiten, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit – funktioniert ohne Gleichberechtigung... Wir haben in Afghanistan und auf dem Balkan gelernt, dass wir durch die Integration der Geschlechterfrage in unsere Operationen das Leben von Frauen und Kindern spürbar verbessern.

"Spürbare Verbesserung im Leben von Frauen und Kindern"

Infolge der Bombenangriffe der NATO in Jugoslawien und Libyen verloren Tausende von Frauen und Kindern ihr Leben. In Libyen zum Beispiel hat die NATO mitverschuldet, dass vielleicht Tausende von Frauen in die Hände der Terrormiliz IS fielen.

Human Rights Watch zog im Jahr 2017 folgende Bilanz der IS-Herrschaft in Libyen:

In der ersten Hälfte des Jahres 2016 kontrollierten IS-verbündete Kämpfer die zentrale Küstenstadt Sirte und unterwarfen die Einwohner einer strengen Auslegung der Scharia, die öffentliche Auspeitschungen, Amputationen von Gliedmaßen und öffentliche Lynchmorde beinhaltete. Dabei wurden die Leichen der Opfer oft zur Schau gestellt.

Dass Trump keine neue Mission für die NATO formulierte, ebenso sein Wunsch, aus den 29 Mitgliedsstaaten immer mehr Mittel herauszuschlagen, bringen das Militärbündnis in eine sehr bedrohliche Situation: Da kein neuer Auftrag und keine offensichtlichen Bedrohungen für Europa in Sicht sind – oder zumindest keine  Bedrohungen, gegen die man die NATO einsetzen kann – werden ihre Mitgliedsstaaten den Wert der Zugehörigkeit zu einer Organisation mit solch hohen Mitgliedsbeiträgen und so wenigen Vorteilen in Frage stellen müssen, früher oder später. Kein Wunder also, dass die Mafia der außenpolitischen Spezialisten wütend um sich schlägt und für eine Präsidentschaft von Joe Biden betet.

Der außenpolitische Klüngel verabscheut, ja hasst Trump unter anderem dafür, dass er seine Zeit nicht damit verschwendet, eine "neue Mission" für die NATO zu erfinden. Und damit unterscheidet Trump sich von seinen Vorgängern insofern, dass er sich nicht die Mühe macht, einen neuen Grund für das Fortbestehen der NATO zu erfinden: Clinton hatte Jugoslawien, Bush brauchte Afghanistan und den Irak, Obama fand Libyen. Trump aber hat gar keine "neue Mission" für die NATO ausgemacht – vielleicht ja deswegen, weil es überhaupt keine gibt.

RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Übersetzt aus dem EnglischenGeorge Szamuely ist leitender Forschungswissenschaftler am Global Policy Institute in London und Autor von "Bombs for Peace: Der humanitäre Krieg der NATO gegen Jugoslawien". Folgen Sie ihm auf Twitter @GeorgeSzamuely

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