Meinung

Gibt es eine LGBT-Verschwörung gegen Russland?

Das russische LGBT-Magazin Parni plus berichtet, dass mehr als die Hälfte aller Russen an eine LGBT-Verschwörung gegen Russland glaubt. Sind Russen alle durchgeknallt – oder ist da etwas dran? Grünen-Politiker Volker Beck ist in einem Thread auf Twitter der Frage nachgegangen.
Gibt es eine LGBT-Verschwörung gegen Russland?Quelle: Reuters © REUTERS/ Anton Waganow

von Gert Ewen Ungar

In der Online-Ausgabe des russischen LGBT-Magazins Parni plus erschien ein Artikel, der mit "Mehr als die Hälfte aller Russen glaubt an eine LGBT-Verschwörung gegen Russland" überschrieben ist. Der Artikel bezieht sich als Quelle auf eine Umfrage des  Meinungsforschungsinstituts Russian Public Opinion Research Center, das in regelmäßigen Abständen Umfragen vornimmt, um so einen Vergleich über mehrere Jahre zu ermöglichen.

Der Anteil der Befragten, die sich der Meinung anschließen, es gebe eine die russische Gesellschaft zerstörerische Beeinflussung im Hinblick auf "nicht-traditionelle Partnerschaften", hat im Vergleich zu einer Befragung von vor zwei Jahren zugenommen. Der Ausdruck "nicht-traditionelle Partnerschaften" ist der in Russland etablierte Ausdruck für gleichgeschlechtliche Beziehungen und darüber hinaus ein Ausdruck, der sich in groben Zügen mit dem überschneidet, was bei uns mit den Begriffen LGBT und Identitätspolitik in Bezug auf sexuelle Identität gefasst wird.

Ich hatte einen Link zum Artikel des russischen LGBT-Magazins mit dem Kommentar auf Twitter geteilt, dass die Russen mit ihrer Empfindung gar nicht so falsch liegen, LGBT zudem nicht ohne ein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell kommt, das man neoliberal nennt. Es entspann sich daran eine Diskussion, die schon allein deshalb interessant ist, weil sich Grünen-Politiker Volker Beck, ehemaliger Vorstand des Lesben und Schwulenverbandes Deutschland (LSVD) und bis zu seinem Rücktritt im Zuge eines Drogenskandals im Jahr 2016 Mitglied des Deutschen Bundestages, in die Diskussion einschaltete. Dabei gewährte er Einblick in sein Denken. Er offenbarte ein gutes Stück weit, wie richtig die Einschätzung der Mehrheit der Russen ist. 

Ich vertrete die These, dass die politische LGBT-Bewegung an eine bestimmte Idee von Gesellschaft gebunden ist, die man neoliberal nennt, dass das Engagement für LGBT als Vehikel dient, bestimmte Ideen des Neoliberalismus über das Individuum gesellschaftlich zu verankern. Das Individuum wird vereinzelt, wird entsolidarisiert, seine Einzigartigkeit wird akzentuiert, und der Einzelne wird bestärkt, diese Einzigartigkeit über Gemeinschaftsinteressen zu heben. Gesellschaft entsolidarisiert sich.

Der hoch individualisierte LGBT-Mensch passt zum neoliberalen Homo oeconomicus, dem Menschen, der sein Eigeninteresse über alles stellt und sich beständig optimiert, wie eine perfekte Ergänzung. Der LGBT-Mensch passt zur Idee des neoliberalen Ökonomen von Hayek, es gebe keine Gesellschaft, sondern nur einzelne Individuen, womit er über eine Argumentationskette der Idee der Sozialstaatlichkeit und des Wohlfahrtsstaates eine grundsätzliche Absage erteilt.

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Heute gilt insbesondere die Identitätspolitik in Verbindung mit LGBT und sexueller Identität als links. Das ist einigermaßen erstaunlich, denn ihre Wurzeln hat Identitätspolitik keineswegs in den emanzipatorischen Bewegungen. Ursprünglich kommt sie aus der Gegenaufklärung. Sie ist ihrem Geist nach reaktionär. Identitätspolitik war in ihrem Ursprung gegen Universalismen gerichtet, wie sie die Aufklärung postulierte. Universelle Menschenrechte, die Gleichheit aller vor dem Gesetz beispielsweise.

Sie richtet sich gegen die Etablierung der Privatsphäre als vor Einblicken geschützter Bereich – dem setzt Identitätspolitik das Individuelle gegenüber, das Exibitionistische, das das Private, das Eigene in die Öffentlichkeit trägt und dafür bedingungslosen Respekt einfordert. Identitätspolitik begründet ein Individuum, das sich im Zweifelsfall über gesellschaftlichen Zusammenhalt, gegen die gesellschaftliche Ordnung oder zumindest außerhalb von ihr stellt. 

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geben linke Parteien und Organisationen in den neunziger Jahren im Westen zunehmend die Frage nach der Verteilung des gemeinsam erwirtschafteten Wohlstands auf, geben friedenspolitische Positionen preis, versöhnen sich mit dem marktwirtschaftlichen System und rücken Identitätspolitik in den Fokus ihres politischen Engagements. In der Bundesrepublik treibt eine Regierung aus SPD und Grünen, politisch eigentlich eine klassisch linke Kombination, einerseits mit der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen den neoliberalen Umbau Deutschlands voran, beginnt mit dem militärischen Überfall auf Jugoslawien den ersten offenen Völkerrechtsbruch und Angriffskrieg der Bundesrepublik Deutschland und eröffnet mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz gleichgeschlechtlichen Paaren die Möglichkeit einer offiziellen staatlichen Registrierung.

Diese drei Ereignisse markieren den von einer explizit linken Regierung eingeleiteten Rechtsrutsch, dem Deutschland seitdem unterliegt. Er hat einer großen Gruppe von Menschen die politische Repräsentation geraubt. Einfache Arbeiter, kleine Angestellte, Arbeitslose und Menschen mit niedrigen Einkommen und kleinen Renten hatten plötzlich keine Stimme mehr im Bundestag und in den politischen Parteien, während gleichzeitig seitdem mit LGBT eine andere Gruppe zu Tode umarmt wird, die bisher politisch kaum in Erscheinung trat und die auch zahlenmäßig viel kleiner ist.

Die Linke, die sich aus PDS und der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) gründete, sprang nur ungenügend und oftmals wenig glaubhaft in die Repräsentationslücke ein, die sich aufgetan hatte. Dieser Entzug von Solidarität gegenüber einer ganzen Gesellschaftsschicht ist das Klima, in dem die AfD entstehen und wachsen konnte. Es ist daher wichtig festzustellen, dass die Entstehung der AfD nicht der ursächliche Rechtsrutsch ist. Er fand lange vor der Gründung der AfD statt. Der ursächliche Rechtsrutsch ist die Abkehr von SPD und Grünen von der Idee des keynesianischen Wohlfahrtsstaates und ihre Hinwendung zu gegenaufgeklärten, neoliberalen Konzepten, in die LGBT und die damit verbundene, ebenfalls reaktionäre Identitätspolitik ergänzend hinein passten. Maßgeblich begleitet und gestaltet hat das auch Volker Beck als Bundestagsabgeordneter und in seiner Arbeit als Vorstand des LSVD. 

Umso seltsamer wirkt es, wenn er heute auf das Statement, LGBT käme in der Regel in Verbindung mit neoliberalen Ideen daher, in einer Weise reagiert, als handele es sich um eine reine Verschwörungstheorie und eine abstruse Spinnerei. Kaum ein anderer steht mit seiner politischen Karriere so sehr für diese Verbindung wie er.

Der völkerrechtswidrige Krieg gegen Jugoslawien wurde insbesondere von Grünen-Politikern mit einer Schutzverantwortung, einer Responsibility to Protect begründet, die es als völkerrechtliche Kategorie bisher nicht gab und auch jetzt noch hoch umstritten ist. Die Schutzverantwortung löst das Gewaltverbot ein Stück weit auf. Die rot-grüne Regierung hatte sich damals des Arguments der Schutzverantwortung bedient, um die Bombardierung Jugoslawiens zu rechtfertigen. Angeblich fand dort ein Genozid statt. Im Nachhinein stellte sich das als bewusst lancierte Falschmeldung heraus, von der allerdings die Verantwortlichen Minister wussten, dass es nicht genügend Beweise für deren Behauptung gab. Dessen ungeachtet wurde Jugoslawien überfallen. Die damals verantwortlichen Minister waren Scharping (SPD) als Verteidigungsminister und Fischer (Grüne) als Außenminister.

Volker Beck beruft sich nun auf eine Auslegung des Völkerrechts unter LGBT-Gesichtspunkten, die offiziell nicht anerkannt ist, und legitimiert darüber seine interventionistischen Aktivitäten in anderen Ländern wie beispielsweise in Russland. Responsibility to Protect heruntergebrochen auf die Belange von LGBT, verbunden mit der gleichen Falschinformation. Es gibt keine staatliche Unterdrückung von Schwulen und Lesben in Russland.

Beck legitimiert mit einer angeblichen Schutzverantwortung jedoch die Finanzierung und Unterstützung von zivilgesellschaftlichem Engagement in den Zielländern durch westliche Organisationen. Besser hätte man im Grunde nicht belegen können, dass die Russen in ihrem Gefühl vollkommen recht haben, dass es etwas gibt, für das man aus gutem Grund das Wort Verschwörung benutzen kann. Denn natürlich ist es absolut infam und völkerrechtlich auch fragwürdig, wenn eine kleine Gruppe deutscher und westlicher LGBTs, die zudem noch nicht einmal eine demokratische Legitimation besitzt, meint, sie hätte das Recht, überall auf der Welt zu intervenieren und dort aktiv Entwicklungen voranzutreiben, die ihren Vorstellungen einer besseren Gesellschaft entspricht.

Natürlich ist es problematisch, wenn der LSVD zusammen mit anderen westlichen NGOs in Russland Organisationen finanziert und unterstützt. Angemerkt werden muss hier noch, dass der LSVD auch in der deutschen Community keine demokratische Legitimation besitzt. Er ist nicht gewählt. Er ermächtigt sich selbst zur Repräsentation von Schwulen und Lesben.

Man muss sich sein Engagement nur andersherum vorstellen, um zu verstehen, was dann los wäre. Regierungsnahe NGOs aus China und Russland unterstützen Bürgerbewegungen in Deutschland, die die Zukunft der EU nicht im westlichen Liberalismus, sondern in einem geeinten Eurasien sehen – mit China und Russland als politische Machtzentren. Beide Länder unterstützen diese Bewegungen logistisch und finanziell, helfen beim Aufbau von NGOs in Deutschland und der EU, die sich in der Sache engagieren und die zu radikalisierenden Demonstrationen und Veranstaltungen aufrufen, auf denen dann die Pressebilder einer unterdrückenden Polizeimacht generiert werden, die anschließend in den entsprechenden Medien die Geschichte von der Brutalität des westlichen Liberalismus erzählen. Das wollen wir nicht, wir fänden das unlauter und heimtückisch, aber genau das ist es, was Volker Beck hinsichtlich seines Anliegens für absolut legitim in der Anwendung hält.

Wie keine andere Partei stehen die Grünen für diese Technik der Einmischung und wie keine andere Gruppierung wird LGBT zu diesem Zweck instrumentalisiert. Mit seiner Präsenz auf nicht genehmigten Demonstrationen in Russland generierte Beck die Bilder, die hier in der LGBT-Community und in der deutschen Gesellschaft Ressentiments gegenüber Russland schüren, er spaltet in eine West- und Ost-Community. Und er lieferte den politischen Akteuren wie dem konservativen Abgeordneten Milonow mit seinem Engagement zahllose Argumente, warum Aktivitäten eingeschränkt werden sollen. Volker Beck hat der russischen Community geschadet, denn gegen Aktivitäten wie seine richtet sich das Anti-Gay-Propagandagesetz. Die Russen aber, man kann es nicht anders sagen, haben offensichtlich ein gutes Gespür dafür, was passiert. Volker Beck hat mit seinen Tweets belegt, wie richtig sie liegen. Ja, das LGBT-Thema wird aktiv gegen Russland benutzt.

Was Russland jedoch in grundlegender Weise von Deutschland unterscheidet, ist, dass man trotz völlig entgegengesetzter Ansichten immer noch miteinander reden kann. So wie zum Beispiel hier in diesem Streitgespräch zwischen dem russischen LGBT-Aktivisten und RT-Moderator Anton Krasowskij und dem Initiator des Anti-Gay-Propagandagesetzes Witali Milonow, entstanden für ein staatsnahes russisches Medium, wie es bei Twitter jetzt immer heißt.

In dieser Hinsicht ist Russland weiter als wir, auch wenn es in dem Gespräch sehr konfrontativ zugeht. In Deutschland sind solche offen ausgetragenen Kontroversen aktuell unvorstellbar. Es gibt zu viele Sprechverbote. Auch daran hat Identitätspolitik ihren Anteil, die eine restriktive Verbotskultur befördert. Es täte uns und unserer Demokratie gut, wenn auch wir uns wieder ein gutes Stück weit von der Repression befreien würden, für die Identitätspolitik und der Buchstabensalat LGBTQIA+ inzwischen steht.

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