Meinung

Die Welt der Ethnomathematik: 2 + 2 = Unterdrückung

Die Einführung sogenannter "sozialer Gerechtigkeit" in jeden Aspekt der Bildung hat verheerende Auswirkungen auf die Lernfähigkeit der Kinder. Aber was will man auch von einem System, das selbst akademische Leistung an sich als Konstrukt der weißen Vorherrschaft sieht?
Die Welt der Ethnomathematik: 2 + 2 = UnterdrückungQuelle: AFP © AFP PHOTO/Hector RETAMAL

von Helen Buyniski

Die überwoken, politisch ultrakorrekten Pädagogen der US-Stadt Seattle haben Pionierarbeit bei der sogenannten "Dekolonialisierung" des Bildungswesens geleistet – und es dabei geschafft, dem Lehren seinen Zweck als solchen zu nehmen. Man könnte einfach darüber spotten, zu welchen Brezeln diese Theoretisierenden bei ihren Versuchen der logischen Argumentation sich selbst verwinden. Doch sie zwingen US-Kinder zur Teilnahme an ihren Verhaltensexperimenten in wetteifernder Nabelschau, was zu einer tiefen Entfremdung führt und die Fähigkeit der Kinder schädigt, überhaupt etwas zu lernen. In der Tat scheint der jüngste Trend in der "kulturbewussten" Pädagogik darin zu bestehen, den Wunsch nach Wissensvermittlung als kolonialistischen Impuls anzuprangern, den es zu unterdrücken gelte.

Die sogenannte "Leistungskluft" – die akademische Kluft zwischen armen Kindern und Kindern aus Minderheiten und ihren wohlhabenderen, meist weißeren Pendants – ist seit langem der Grund für das Händeringen unter Pädagogen. Mit jeder gescheiterten Strategie kehren progressive Lehrer entschlossen an das Reißbrett zurück, um die Tiefen der sozialwissenschaftlichen Theorien weiter auszuloten. Sie sind stets von der Hoffnung getrieben, dass die nächste Lösung – Ethnomathematik? Dekolonisierende Wissenschaft? – gleichsam einem Zauberstab alle Schülerinnen und Schüler auf die gleiche Stufe hebt.

Die koloniale Leistungskluft

Auf ihrem theoretischen Höhlenforschungsausflug tief ins Zwielicht hineingeirrt, erklären die Pädagogen für ethnische Studien in Seattle nun auf einmal, dass ihre Vorgänger mit dieser ganzen "Leistungskluft"-Sache völlig falsch lagen. Es geht jetzt nicht mehr darum, dass Kinder mit Minderheitshintergrund durchfallen – obwohl dies dank Initiativen wie Common Core und der wahnsinnigen Konzentration auf standardisierte Tests unter Ausschluss aller anderen Faktoren mit Sicherheit passiert, und zwar in den USA in größerem Ausmaß als je zuvor. Nein, es geht nun darum, dass Lehrer ihnen zu Unrecht koloniale Konstrukte wie "Wissen" und "Lernen" aufzwingen.

Der einzige Weg zu einer wirklichen Dekolonialisierung des Klassenzimmers besteht laut Tracy Castro-Gill, einer Dozentin für ethnische Studien aus Seattle, die sich rühmt, ausschließlich Weiße  zu schikanieren (ernsthaft!), darin, dass die Lehrer auf die Vorstellungen weißer Rassisten von Leistung und Chancen verzichten. Da das Schließen von Gelegenheitslücken oft in verbesserten Testergebnissen gemessen wird, so Castro-Gill, müsse die Vorstellung von diesen Lücken als solchen – wie auch die standardisierten Tests selbst – bereits rassistisch sein.

Das Schließen von 'Leistungs-/Chancenlücken' ist eine westliche Denkweise über Bildung. Sie ist linear und sieht die Schüler als Menschen, denen etwas fehlt und die in ein Ideal verwandelt werden müssen, das seinerseits durch die Vorherrschaft der Weißen definiert wird.

Das liegt nicht nur daran, dass Kinder, die in Lesen und Mathematik zurückbleiben, zu Nachhilfeunterricht ermutigt werden (oder, um es mit Castro-Gill zu sagen "und ihre Eltern werden dazu gezwungen"), damit sie auf die Sprünge kommen, und dafür Freizeit aufwenden müssen, die sonst für "Bereicherungsprogramme wie Unterwasserrobotik, urbane Kunst und die Gender- und Sexualitätenallianz" verwendet werden könnte (ganz abgesehen davon, dass man ohne ein solides mathematisches Verständnis keine funktionsfähigen Roboter bauen kann, für den Einsatz weder im Wasser noch anderswo). Von den Kindern zu erwarten, dass sie ein funktionierendes Wissen über Zahlen und Buchstaben haben, sei an sich schon Teilnahme an einem System der Unterdrückung.

Das ist kein Versagen, sondern "Raum zum Nachdenken"

Wie passend also, dass diese Ideen, wenn sie in die Praxis umgesetzt werden, zu schlechten akademischen Leistungen führen. Der Schulbezirk Seattle führte im vergangenen Jahr einen "Ethnomathematik"-Lehrplan ein, der der Öffentlichkeit als ein Versuch beschrieben wird, die Mathematik zu "rehumanisieren". Dafür beschäftige man die Schüler mit Problemlösungen aus der realen Welt. In Wirklichkeit jedoch sieht der Plan vor, den Schülern beizubringen, wie "westliche Mathematik ... wirtschaftliche Unterdrückung diktiert und dazu benutzt wird, farbige Menschen an den Rand der Gesellschaft zu drängen". Und dieser Lehrplan wurde bezirksweit angenommen, sogar nachdem die High Schools, die das Programm als Pilotprojekt durchgeführt hatten, einen schockierenden Rückgang der Gesamtergebnisse in Mathematik um 21 Prozent vermeldeten. Der ehemalige Pädagoge Steven Welliever kommentiert auf Twitter:

Leistungen schwarzer Schüler an öffentlichen Schulen in Seattle, die im Frühjahr 2018 das Pilotprogramm Ethnomathematik eingeführt hatten. (Eine der High Schools war zu klein, um Daten nach Rassen zu filtern, aber die Ergebnisse fielen insgesamt um 21 Prozent). Der Programmleiter erklärt, dieser Rückgang sei beabsichtigt, um den Schülern 'Raum zum Nachdenken' zu geben.

Laut Castro-Gill ist dies also ein beabsichtigtes Leistungsmerkmal und kein Fehler – "Raum für Reflexion", nicht akademische Exzellenz, ist das Ziel.

Und dabei geht es auch nicht bloß um Seattle. Die Mathematikstudentin Brittany Marshall von der Rutgers-Universität entfachte mit folgender Erklärung auf Twitter einen wahren Feuersturm: "Die Vorstellung von 2+2=4 ist eine kulturelle". Mehr noch: Zahlreiche andere Lehrende – darunter eine zwielichtige Gruppe namens MathEdCollective – verteidigten sie. Ein Beispielkommentar von Laurie Rubel, ebenfalls Lehrerin:

Wenn eine Frau darauf aufmerksam macht, dass es andere Wege zum Wissen gibt als 2+2=4, Wege, die möglicherweise neue Wege zur Lösung zahlreicher bisher ungelöster Probleme erschaffen könnten, schlägt das Patriarchat anscheinend Alarm. Dann eilen dessen Soldaten herbei – zur Verteidigung, zum Herabwürdigen oder auch zum Angriff.

Wer sich also nicht an dieser Neuinterpretation der Bausteine der Bildung als eines repressiven Werkzeugs des Kolonisators beteiligt, von dem wird Stillschweigen erwartet.

Vorwand zur Zerstörung des öffentlichen Bildungssystems

Ein Beamter, der auf der Education Week (dt.: "Bildungswoche") sprach, als das neue Lehrprogramm in Seattle eingeführt wurde, lobte das erklärte Ziel, "farbigen Schülern" zu einem Gefühl des "Dabeiseins" zu verhelfen. Er warnte aber davor, dass die neue Methode genau das Gegenteil bewirken würde.

"Die Linke" wird oft für Exzesse im Namen der Theorie der sozialen Gerechtigkeit verantwortlich gemacht. Doch die politisch bewussten Linken sehen Programme wie die "Ethnomathematik" in Seattle als einen zynischen Versuch an, der totalen Ausweidung des öffentlichen Schulsystems ein Deckmäntelchen der sozialen Gerechtigkeit zu verleihen. Denn wer braucht schon fähige Lehrer, wenn der Akt der Wissensvermittlung an sich schon den Charakter der Unterdrückung haben soll? Und wer braucht dann überhaupt bezahlte Lehrer? Warum nicht einfach einen Haufen ehrenamtlicher "Vermittler" einfangen – "Gemeindemitglieder" (aus der jeweiligen Minderheit), die mit einer symbolischen Summe abgespeist werden können – und auf die ganzen nervigen Lehrergewerkschaften ganz verzichten?

So wie bei Black Lives Matter die Konzentration auf rassische Spaltungen der Gesellschaft die herrschende Machtstruktur durch die Teilung der Arbeiterklasse aufrechterhält, verhindern Ethnomathematik und andere Bemühungen, den spalterischen Jargon der "sozialen Gerechtigkeit" in die Lehrpläne öffentlicher Schulen hereinzuboxen, die Entwicklung jeglichen Klassenbewusstseins unter Jugendlichen. Denn schließlich ist das Leistungsgefälle viel mehr eine Funktion des sozioökonomischen Status als des rassischen oder ethnischen Hintergrunds.

Nur wenige Pädagogen würden bestreiten, dass das US-amerikanische Schulsystem kaputt ist und sich zu sehr auf Tests konzentriert, keine Fähigkeit zu kritischem Denken vermittelt und die intellektuelle Neugier unterdrückt. Wenn man jedoch die Vorstellung von akademischer Leistung an den Rand drängt, stellt man bloß sicher, dass sich das Schulsystem nie wieder erholen wird.

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Helen Buyniski ist eine US-amerikanische Journalistin und politische Kommentatorin bei RT.

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