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Meinung: 30 Jahre nach der Wende schwindet in Osteuropa der Glaube an liberale Demokratie

Drei Jahrzehnte nach dem radikalen politischen Kurswechsel äußern sich viele Mittel- und Osteuropäer heute skeptisch über ihre herrschenden Eliten, die Medien und die liberale Demokratie. Werden ihre Länder nun zu stärker autoritären Herrschaftsformen zurückkehren?
Meinung: 30 Jahre nach der Wende schwindet in Osteuropa der Glaube an liberale DemokratieQuelle: Sputnik

von Robert Bridge

Brüssel, wir haben ein Problem! 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus scheint Osteuropa den Glauben an die liberale Demokratie zu verlieren.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 erblickten die Länder des ehemaligen Warschauer Pakts den Stern einer liberalen Demokratie und nahmen Kurs darauf. Die Menschen nährte die Hoffnung, nun all die Freiheiten und Rechte zu ernten, die ihnen der Kommunismus nicht gewährt hatte. Und man täusche sich nicht: Viele Menschen haben von den neuen politischen Vereinbarungen in durchaus hohem Maße profitiert. Doch für viele Bürger Mittel- und Osteuropas, denen die einzigartige Erfahrung zuteilwurde, unter zwei völlig unterschiedlichen Regierungssystemen zu leben, sind damit auch die einer "liberalen Demokratie" innewohnenden Probleme wohl nun viel leichter zu erkennen.

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Bei einer Meinungsumfrage von GLOBSEC (einer in der Slowakei ansässigen Denkfabrik mit dem Themenschwerpunkt "Globale Sicherheit", Anm. d. Red.) wurde die Einstellung der Öffentlichkeit in zehn mittel- und osteuropäischen Ländern (den baltischen Staaten, Österreich, Polen, der Tschechischen Republik, Ungarn, der Slowakei, Bulgarien und Rumänien) in Bezug auf ihre Wahrnehmung des Zustands der liberalen Demokratie in ihren jeweiligen Ländern erhoben. Die Ergebnisse waren alles andere als überschwänglich.

Die liberale Demokratie und Unzufriedenheit mit ihr

Man nehme das Beispiel der öffentlichen Wahrnehmung demokratischer Institutionen. Während die Mehrheit der Befragten angab, ein liberal-demokratisches System mit Wahlen und einem Mehrparteiensystem zu befürworten, gaben nur 40 Prozent an, dass sie mit der Funktionsweise der Demokratie in ihrem für sich betrachteten Land zufrieden seien. Die Menschen in Österreich (dem einzigen Erhebungsland, das keine kommunistische Vergangenheit hat) gaben mit 86 Prozent die höchste Zufriedenheit an. Doch am anderen Ende des Spektrums äußerten sich nur ganze 18 Prozent der Bulgaren ähnlich positiv. In den übrigen acht Ländern gaben ebenfalls weniger als 50 Prozent der Bevölkerung an, zufrieden zu sein.

Bemerkenswerterweise zeigte die Umfrage eine starke Abhängigkeit zwischen den Ansichten der Befragten über die liberale Demokratie und ihrem eigenen, persönlichen Glücksempfinden auf. Im Durchschnitt sind von den Befürwortern der liberalen Demokratie 83 Prozent auch mit ihrem persönlichen Leben zufrieden. Dies könnte darauf hindeuten, dass diejenigen, die alle materiellen Vorteile eines liberal-demokratischen Systems genießen können, welches sich auf die kapitalistische Wirtschaftsordnung gründet, jene Unzulänglichkeiten des Systems, in dem sie leben, eher verzeihen oder gar nicht erst sehen.

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Doch auch Antworten auf die Frage des Vertrauens in politische Parteien malen kein wesentlich freundlicheres Bild. Im Durchschnitt äußerten 72 Prozent ihr Misstrauen gegenüber diesen Strukturen. Und diese Stimmung steht im Einklang mit dem Rückgang der Wählerbegeisterung für traditionelle Parteien in weiten Teilen der Länder Mittel- und Osteuropas. Die Gründe für eine solche Haltung sind bei jedem einzelnen Staat jeweils völlig unterschiedlich und spiegeln möglicherweise langjährige Fehden mit Brüssel wider.

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So zog die in Polen regierende PiS-Partei zum Beispiel kürzlich den Zorn des EU-Gerichtshofes auf sich: In Warschau hatte man dem polnischen Obersten Gerichtshof "außerordentliche Befugnisse" zugesprochen, nämlich zur Verfolgung von Richtern, die sich der Regierung widersetzen. In Brüssel dagegen erklärte man, dieser Schritt stehe nicht im Einklang mit demokratischen Prinzipien; die Antwort aus Warschau lautete im Wesentlichen: "Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten".

Sebastian Kaleta, Abgeordneter der polnischen PiS-Partei, kommentierte

Der Gerichtshof der EU ist nicht befugt, die Verfassungsorgane der Mitgliedsstaaten zu beurteilen, geschweige denn [ihre Entscheidungsgewalt] auszusetzen. Das heutige Urteil ist ein usurpatorischer Akt, der die polnische Souveränität verletzt.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie Brüssel symbolisch seine Muskeln spielen ließ, war die Sanktionierung Ungarns durch das Europäische Parlament – wegen seines angeblich harten Vorgehens gegen NGOs und gegen Medien. Die Regierung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, Symbolfigur des rechten Flügels der nationalistischen Partei Fidesz, bezeichnete den Schritt von Seiten Brüssels als "kleinliche Rache" für seine Bemühungen, illegale Einwanderer auf dem Weg nach Westeuropa an der Durchreise durch das Territorium seines Landes zu hindern.

Diese Art regelmäßiger Scharmützel heizt die Spannungen zwischen den proeuropäischen und den EU-skeptischen Lagern an. Gleichzeitig stellen die EU-Staaten infolgedessen ihren eigenen Einsatz für das demokratische Projekt "Europäische Union" infrage, ein Projekt, das mit jedem Tag weniger demokratisch erscheint. In der Tat veranlassten eben negative Wahrnehmungen genau dieser Art viele Briten dazu, den Brexit zu unterstützen.

Migrantenkrise schürt Misstrauen

Hier sei betont, dass die illegale Migration für die meisten Staaten Mittel- und Osteuropas faktisch ein großes Problem darstellt. Und obwohl Österreich das einzige untersuchte Land war, das  von der jüngsten Flüchtlingskrise unmittelbar betroffen war, zeigte es weniger Angst vor der Migration als jene Länder, die ihre Türen für die Flüchtlinge geschlossen hielten. Die Autoren der Umfrage kamen zu dem Schluss, dass die Regierungen Mittel- und Osteuropas, die Anti-Migranten-Kampagnen organisierten, ihre Länder "geschlossener und weniger tolerant" gemacht haben.

Ironischerweise trägt ausgerechnet diese Schlussfolgerung dazu bei, den politischen Zynismus zu erklären, der heute in weiten Teilen Osteuropas vorherrscht. Die Autoren der Umfrage ignorieren nämlich die kritische Frage, ob es den Ländern freistehen sollte, über ihren Umgang mit Migration selbst zu bestimmen, ohne automatisch als "intolerant" abgestempelt zu werden. Schließlich haben nicht alle Länder Mittel- und Osteuropas die Ressourcen Österreichs, um den Zustrom von Migranten zu bewältigen.

Gleichzeitig braucht man nur einen Blick auf die Migrantensituation etwa in Schweden zu werfen, das mit sogenannten No-go-Areas übersät ist, um zu verstehen: Für ungeregelte Migration ist ein hoher Preis zu zahlen. Das Versagen Brüssels, die inhärenten Gefahren zu erkennen, die damit verbunden sind,  die Türen sperrangelweit zu öffnen, und zwar für Millionen von Menschen, die nur geringe Chancen auf Assimilation in „ihre“ neue Kultur haben, könnte die wachsende Skepsis gegenüber der liberalen Demokratie schüren.

Medienmanipulation

Es ist vielleicht nur wenig überraschend, dass auch der Bereich des Journalismus in der Umfrage mächtig einstecken musste. Unter den Ländern dieser Umfrage war nur in Lettland eine Mehrheit der Befragten zu verzeichnen, die nach eigener Angabe den Mainstream-Medien vertrauten. Die anderen Befragten wiesen auf staatliche und oligarchische Akteure hin, die hinter den Kulissen arbeiten, um Nachrichten und Informationsflüsse zu manipulieren.

Alles in allem zwang das mangelnde Vertrauen in die Medien viele Menschen dazu, nach "alternativen Quellen" für ihre Nachrichten und Informationen zu suchen – und sich sogar ins Gebiet der sogenannten "Verschwörungstheorien" vorzuwagen –, um bestimmte Ereignisse zu erklären.

Dass die Umfrage mitten in der COVID-19-Pandemie durchgeführt wurde, könnte eine weitere beunruhigende Beobachtung erklären: Nämlich seien über 50 Prozent der Befragten bereit, "einige ihrer Freiheiten im Namen der Sicherheit einzutauschen". Das ist ein beunruhigender Trend, denn das Markenzeichen der liberalen Demokratie ist ja seit jeher die Liebe zur Freiheit, unter anderem zur Freiheit der persönlichen Meinungsäußerung. Heute jedoch – wo so viele Menschen um ihre persönliche Sicherheit besorgt sind – scheinen viele von ihnen zu schlussfolgern, dass die liberale Demokratie sie im Stich lässt.

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Die westlichen Regierungen haben guten Grund zur Besorgnis über die vorherrschende Stimmung in Mittel- und Osteuropa. Schließlich leidet die Mehrheit der westlichen Länder ihrerseits jeweils an eigenen Problemen schwer. Überblickt man das Geschehen vom Ausstieg Londons aus der EU bis hin zu dem Versuch Washingtons, die Rassenspannungen einzudämmen, so erscheint der ganze Westen einem nur zu leicht als ein einziger großer, brennender Müllcontainer.

Solche Wahrnehmungen schaden natürlich dem politischen Markenzeichen, das als "liberale Demokratie™" bekannt ist. Dessen Verbreitung könnte einige westliche Regierungen dazu zwingen, in ihrem Bemühen um Lösung all dieser Probleme mit weniger demokratischen Regierungsformen zu experimentieren. Denken wir zum Beispiel an die gegenwärtigen Proteste in den Vereinigten Staaten, wo einige Städte tatsächlich dazu übergehen, ihren bisherigen Polizeikräften die Finanzierung zu entziehen und sie letztlich aufzulösen.

Es ist unvermeidlich, dass ein solches beispielloses Experiment letztlich scheitern muss, und dies wird die Regierung dann dazu veranlassen, im Galopp zur Rettung herbeizueilen – möglicherweise unter Anwendung von Militärgewalt und unter Verhängung von Kriegsrecht. Die Bürger, die unter einer gesetzlosen Gesellschaft leiden, wie es gegenwärtig in einem Sechs-Block-Abschnitt von Seattle, Bundesstaat Washington, der Fall ist, werden solche Lösungen mit offenen Armen begrüßen – überhaupt alles, was ihnen wieder ein Gefühl von Frieden und Sicherheit vermittelt.

Erst diesen Monat schrieb der ehemalige US-Botschafter in Russland, Michael McFaul, Folgendes in der Washington Post: China, der ideologische Hauptfeind der westlichen Welt, setzt sich für sein System der "autokratischen, staatlich gelenkten Entwicklung als Alternative zur liberalen Demokratie" ein. Angesichts der schweren Herausforderungen, vor denen ein Großteil der westlichen Welt jetzt steht, scheinen einige Länder reif für einen solch radikalen Übergang – obwohl sie sich nach besten Kräften bemühen, einem solchen Schicksal zu entgehen.

Im Endeffekt müssen die Bürger der Länder Mittel- und Osteuropas davon überzeugt werden, dass die liberale Demokratie wirklich zum Wohle ihrer Bevölkerung arbeitet – und nicht zum Wohle der als Elite bekannten Menschengruppen. Zunehmend verstärkt sich jedoch der Eindruck, dass das System nur denjenigen dient, die der sozialen Pyramide rittlings oben aufsitzen. Wer profitiert zum Beispiel von den Millionen illegaler Migranten, die auf den europäischen Kontinent strömen? Wer profitiert von einem politischen System, in dem die Kontrolle zunehmend an den weit entfernten und unnahbaren Herrscher, der als "Brüssel" bekannt ist, abgetreten wird? Und: Wer profitiert von manipulierten Medien?

Wenn an den westlichen Institutionen, die jetzt die liberalen Demokratien regieren, nicht bald Änderungen– und zwar weit mehr als nur kosmetische – vorgenommen werden, dann wird man die Ergebnisse nicht mehr an Umfragewerten, sondern an massiven Straßenprotesten ablesen dürfen.

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Über den Autor: Robert Bridge ist ein amerikanischer Schriftsteller und Journalist. Der ehemalige Chefredakteur der Moscow News ist Autor des Buches "Midnight in the American Empire", in dem er beschreibt, wie Konzerne und ihre politischen Handlanger den American Dream zerstören. Er twittert außerdem unter @Robert_Bridge

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