Meinung

Backpulver und Zink gegen COVID-19: Russisches "Flächenbombardement" mit Desinformationen bedroht EU

Ob es die US-Wahlen oder die Destabilisierung der EU betrifft: Als russisches Medium ist man bereits einige schwere Vorwürfe gewöhnt. COVID-19 macht da keine Ausnahme. Mit ihrem jüngsten Coup präsentieren die EU-Wahrheitshüter erneut kuriose Behauptungen vermeintlicher "russischer Desinformation".
Backpulver und Zink gegen COVID-19: Russisches "Flächenbombardement" mit Desinformationen bedroht EUQuelle: Reuters © Alexei Druzhinin

von Kani Tuyala

Man stelle sich vor, in einem stockfinsteren Raum zu sitzen, in dem man zunehmend die Orientierung verliert. Dann fällt einem zum Glück die kleine Taschenlampe in der Jackentasche ein, deren Batterien allerdings schon recht schwach sind. Die Taschenlampe erleuchtet nicht den ganzen Raum, sondern mit ihrem müden Lichtkegel nur einen kleinen Teil.

Trotzdem werden Sie womöglich erleichtert darüber sein, endlich etwas "Licht ins Dunkel" gebracht zu haben, und konzentrieren sich nun voll und ganz auf den spärlich beleuchteten Teil des Raumes.

Zur Definition des Begriffs Desinformation heißt es in der – wenn auch keineswegs unumstrittenen – Online-Enzyklopädie Wikipedia:

Desinformation ist die gezielte Verbreitung falscher oder irreführender Informationen. Motivation der Desinformation ist meist die Beeinflussung der öffentlichen Meinung bzw. von Gruppen oder Einzelpersonen, um ein bestimmtes politisches oder wirtschaftliches Anliegen des Verbreitenden zu unterstützen.

Freundlicherweise liefert Wikipedia gleich mehrere Links zu den Jägern der EU gegen russische Falschinformationen mit. Denn eines ist klar: im Metier der Desinformation sind die etablierten Medien innerhalb der transatlantischen Gemeinschaft – zumindest nach eigenem Verständnis – vollkommen unbescholten. Aufmerksamen Beobachtern und kritischen Medienexperten ist jedoch leidlich bewusst, dass es sich bei dieser Selbstwahrnehmung wohl um eine massiv ausgeprägte kognitive Dissonanz handelt.

In diesem Zusammenhang erscheinen die Vorwürfe der EU über Desinformation und Propaganda an die Adresse Russlands – aber auch gegenüber anderen Staaten wie China – gleich in einem ganz anderen Licht(kegel).

So unterstellt der EU Observer vor wenigen Tagen, dass beide Staaten Europa mit  Lügen über das Corona-Virus eindecken würden.

Russland und China überziehen die Europäer noch immer mit einen Flächenbombardement (carpet bombing) von Coronavirus-Lügen, warnte der Auswärtige Dienst der EU", heißt es gleich im ersten Satz der Räuberpistole.

Mehr zum Thema - COVID-19: "Desinformation" und "Spionage" - So sollen die USA im "Krieg der Geheimdienste" siegen

Die martialische Wortwahl macht deutlich, dass man sich in einem Krieg wähnt. Dieser Krieg hat mit der Bekämpfung von COVID-19 allerdings nichts zu tun. Und selbstverständlich sind es die finsteren Mächte in Moskau und Beijing, die für den Ausbruch dieses Informationskrieges verantwortlich sind. "Europa" – nein: die ganze transatlantische Gemeinschaft – verteidigt sich lediglich.

Als konkrete Beispiele für das vermeintliche Flächenbordement fährt der Autor "einige russische Inhalte über falsche Heilkuren" [gegen das Corona-Virus, Anm. d. Red.] auf.

Tatsächlich heißt es aktuell auch beim Europäischen Auswärtigen Dienst (Titel: "EAD-Sonderbericht, Update: Kurzbewertung der Narrative und Desinformation zur COVID-19-Pandemie") über die gezielte "Desinformation", die Europa derzeit heimsuche:

Eine besonders besorgniserregende und böswillige Kategorie der Desinformation betrifft Behauptungen über falsche Heilmittel oder Behandlungen für COVID-19/Corona-Virus.

Voilá: Der Klassiker der russischen "Corona-Propaganda"

In einem der Beispiele, die nunmehr als Klassiker der vermeintlichen Corona-Propaganda und Desinformation des Kreml angesehen werden dürften, heißt es:

Häufiges Händewaschen schützt nicht vor COVID-19 (Sputnik Deutschland, RT Deutsch).

Der angebotene Link verweist auf die Quelle - einen RT Deutsch-Artikel mit folgendem Titel:

Arzt: Häufiges Händewaschen schützt Sie nicht vor COVID-19 bei direktem Kontakt mit anderen Menschen.

Im Einleitungstext des Originals heißt es zudem ergänzend, dass "die beste Strategie, um sich vor einer Ansteckung zu bewahren", die "Selbstisolierung" sei.

Wie "böswillig" (und seiner Sache offensichtlich allzu sicher) muss man also sein, um den Originaltitel mutwillig derart zu verzerren, damit er halbwegs ins Konstrukt der eigenen Verschwörungstheorie passt?

Zweites Beispiel: RT preist Malaria-Medikament vermeintlich als Allheilmittel gegen COVID-19 an

Wir haben nichts zu verlieren, wenn wir Hydroxychloroquin zur Behandlung von COVID-19 ohne Tests einsetzen (RT Englisch)", ist das zweite Beispiel, das die EU-Jäger der verlorenen Wahrheit aufbieten.

Diesmal wird auf einen Artikel von RT International mit folgendem Titel verwiesen:

Dieser Wissenschaftler schlug ein Medikament zur Behandlung von COVID-19 vor. Die "Faktenprüfer" brandmarkten ihn als (Verbreiter) falschter Nachrichten.

Im RT-Artikel, der zudem deutlich als Meinungsartikel gekennzeichnet ist, heißt es u.a.:

Ich weiß nicht, ob Hydroxychloroquin bei COVID-19 wirkt. Dr. Raoult scheint dies zu glauben, und er ist nicht allein. In Ermangelung besserer Lösungen – und Milliarden von Menschen auf unbestimmte Zeit in ihren Häusern einzusperren ist keine – sind wir es der Menschheit nicht schuldig, es wenigstens zu versuchen? Was haben wir zu verlieren?

Das soll nun also ein weiterer Beleg für die vermeintliche "Desinformationskampagne des Kreml" sein, wie es heißt? Sollte der EU-Bürger tatsächlich zu unmündig sein, um sich selbst mit dem Inhalt dieses Meinungsartikels auseinanderzusetzen? Es ist nicht Aufgabe des Journalisten, die virologische Wirksamkeit etwa von Hydroxychloroquin gegen das Corona-Virus zu bewerten. Es kann aber durchaus als Teil seiner Aufgabe verstanden werden, auf entsprechende Debatten aufmerksam zu machen.

Tatsächlich ist der Autor zudem keineswegs allein, wenn es um die Behandlung des Themas geht. Auch jenseits angeblich perfider Kreml-Desinformation widmet man sich der Problematik.

So hieß es etwa am 20. April bei RP-Online:

Der Schweizer Pharmakonzern Novartis darf das Malaria-Medikament Hydroxychloroquin an Coronavirus-Patienten in den USA testen. Dabei warnen Forscher, dass der Wirkstoff schwere Nebenwirkungen auslösen könnte.

Auch in Indien besteht man jenseits dumpfer EU-Verschwörungstheorien darauf, eigene Wege im Kampf gegen COVID-19 zu gehen und es "wenigstens zu versuchen", wie es im RT-Meinungsartikel hieß.

Indien will Malariamittel [Hydroxychloroquin, Anm. d. Red.] als Prophylaxe gegen COVID-19 in Slums einsetzen", titelte etwa der SWR am Montag.

Wie selbstverständlich beleuchten die Irrlichter der EU derlei Schlagzeilen und Inhalte im Detail nicht näher, würden sie doch andernfalls ihr Narrativ der gezielten Falschmeldungen, Propaganda und Desinformation durch den Kreml ad absurdum führen. Lieber sitzt man weiterhin im Dunkeln und fokussiert seine Taschenlampe nur auf Inhalte, die das eigene Kartenhaus (vermeintlich) halbwegs zusammenhalten.

Eine Möglichkeit, auch diesen Umstand zu seinen Gunsten zu nutzen, bestünde allerdings darin, die zuletzt ins Feld geführten Beispiele als das Ergebnis der russischen Medien-Gehirnwäsche darzustellen. Leider muss an dieser Stelle wohl sicherheitshalber betont werden, dass dieser Vorschlag nicht ernst gemeint ist. Die EU-Verschwörungstheoretiker werden sich davon aber womöglich nicht abhalten lassen.

Drittes Beispiel: RT Arabic bietet Zink als Wundermittel feil

Zink könnte helfen, das Coronavirus abzutöten (RT Arabisch)", wird als drittes Beispiel durch die EU-Task Force präsentiert.

In diesem Fall werden Dutzende arabischsprachige Quellen für den Ursprung dieser desaströsen und propagandistischen Desinformation verlinkt. Leider ist der Autor des hier vorliegenden MEINUNGSartikels des Arabischen nicht mächtig. Doch scheinen die allermeisten verlinkten Artikel auch gar nicht von RT Arabic zu stammen.

Wie dem auch sei, die EU-Task Force liefert eine Zusammenfassung des demnach von RT Arabic propagierten Inhalts:

Nahrungsmittel, die große Mengen an Zink enthalten, sind notwendig, um die so genannten Killerzellen im Körper zu aktivieren. Diese Zellen haben die Aufgabe, andere mit dem Virus (Coronavirus) infizierte Zellen abzutöten", heißt es gleichermaßen als Zusammenfassung aller angegebenen Quellen.

Um diese eigene Zusammenfassung zu "widerlegen" wird u.a. darauf verwiesen, dass Zink "ein Nährstoff" sei, "der Ihr Immunsystem bei der Abwehr von Infektionen unterstützt. Zu viel Zink ist giftig und kann Kupfermangel, Anämie und Schäden am Nervensystem verursachen."

Es gibt keinen medizinischen Beweis für die Behauptung, dass Zink gegen die Ansteckung mit dem SARS-CoV-2-Coronavirus helfen könnte", heißt es außerdem in Oberlehrermanier.

Weil also noch keine entsprechenden Tests zur Verfügung stehen und sich zu viel Zink negativ auf den Organismus auswirkt, handelt es sich bei der präsentierten mutmaßlichen Zusammenfassung diverser Quellen aus dem arabischen Raum also um einen weiteren Beweis für systematische "russische" Desinformation. Darüber möge sich jeder selbst ein Urteil bilden.

Es sind zudem nicht "die russischen Medien", welche die Einnahme von Nahrungsergänzungsmittel in der EU seit Jahren massiv bewerben, wodurch der eine oder andere Bürger seinen Organismus bereits zumindest auf eine harte Probe gestellt haben dürfte. Dass jetzt "Nahrungsergänzungsmittel in Zeiten von Corona boomen", wie etwa das Handelsblatt feststellte, wird doch wohl nicht etwa auch im Verantwortungsbereich russischer Medien liegen?

Zu welchen Ergebnissen würde es wohl führen, wenn die gleiche unwissenschaftliche Evaluation vermeintlich fraglicher oder tatsächlich noch unzureichend geklärter Zusammenhänge, Inhalte und Schlagzeilen auch bei sämtlichen transatlantisch geprägten Medienerzeugnissen vorgenommen würde?

Wie verhält es sich außerdem mit Artikeln etwa der Süddeutschen Zeitung, in denen ein Mittel gegen Sodbrennen (sic!) als "Hoffnungsschimmer" gegen das Corona-Virus thematisiert wird? Wie gesagt, ist es vollkommen legitim, sich journalistisch mit derlei Themen zu befassen. Doch es muss gleiches Recht für alle gelten. Es läuft auf ein massives Glaubwürdigkeitsproblem für selbsterklärte Desinformationsdetektive hinaus, auf einem Auge blind zu sein – oder sich blind zu stellen.

Wenn man sich schon als Wahrheitshüter und Torwächter des Journalismus aufspielt, dann bitte aber auch vor der eigenen, transatlantischen Haustür kehren. Oder gleicht es etwa nicht der eigenen (zugegebenermaßen äußerst schwammigen) Definition von Propaganda und Desinformation, wenn nun bei sämtlichen sogenannten Leitmedien und etablierten Medienerzeugnissen – aufgrund von US-Geheimdienstinformationen – über einen "Unfall" im Wuhan Institute of Virology als angeblich primäre Ursache für die Corona-Pandemie spekuliert wird?

RT hat aber auch Backpulver im Angebot

Es würde den Rahmen eines Meinungsartikels bei Weitem sprengen, sich all der aufgeführten vermeintlichen "Beweise" für Desinformation und Propaganda seitens "der russischen Medien" als einem quasi-monolithischem Block zu widmen.

Der Autor des Artikels im EU Observer hat die alles andere als fundierten Behauptungen und angeblichen Entlarvungen jedoch offensichtlich noch nicht einmal gründlich genug gelesen. Er vermengt jegliche der kurios anmutenden Behauptungen von Desinformation zu einem einzigen antirussischen Brei. So würden angeblich "russische Staatsmedien" behaupten, dass "Backpulver, Zitrone, Vitamin C und Zink das Corona-Virus abtöteten, das Händewaschen aber wirkungslos sei."

Das klingt schön propagandistisch, typisch Kreml eben, hat aber mit den tatsächlichen Inhalten – wenn überhaupt – nur am Rande etwas zu tun. Das wird allerdings auch in Zukunft die vermeintlichen Hüter journalistischer Ethik in ihrer Echokammer bei der eigenen Arbeit vermutlich nicht weiter irritieren.

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