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Russland vor schwieriger Entscheidung über Gegensanktionen

Die westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Russland könnten ein Anstoß sein, in den letzten 25 Jahren vernachlässigte russische Industriepotenziale wieder aufzubauen. Bei Gegensanktionen läuft Russland aber auch Gefahr, Märkte im Westen verlieren.
Russland vor schwieriger Entscheidung über Gegensanktionen

von Ulrich Heyden, Moskau

Wie wird Moskau auf die am 6. April von der US-Administration beschlossenen Sanktionen gegen sieben russische Großunternehmer und zwölf ihrer Firmen reagieren? Am 15. Mai wird in der Duma – dem russischen Unterhaus – über ein Gesetzprojekt beraten, mit dem Gegensanktionen gegen die USA und andere Staaten möglich werden. In russischen Zeitungen wurden bereits mögliche Ziele russischer Sanktionen veröffentlicht.

Obwohl die wirtschaftlichen Folgen der US-Sanktionen erheblich waren – die Aktien des russischen Aluminiumkonzerns Rusal verloren 46 Prozent ihres Wertes, der Rubel verlor gegenüber dem Dollar an Wert –, gibt es in den russischen Medien keine eindeutigen Stimmen für harte Gegensanktionen. Der Grund ist einfach: Die USA könnten russische Gegenreaktionen leichter verkraften als Russland die Folgen, die harte Gegensanktionen für das Land selbst hätten. Denn Russland hat 2017 aus den USA Waren im Wert von 17 Milliarden Dollar importiert, während die USA aus Russland nur Waren im Wert von sieben Milliarden Dollar importierten.

Im Bereich Titan und Raketentriebwerke hat Russland für die USA zwar eine wichtige Rolle als Importeur. Doch wenn Russland jetzt harte Gegensanktionen verhängen würde, könnte es den Markt für diese Produkte für immer verlieren, warnen Kommentatoren in russischen Zeitungen.

Boeing ist vom russischen Titan abhängig

21 Prozent des Titans, das die USA 2016 importierten, stammte aus Russland. Insbesondere Boeing ist von russischem Titan abhängig. Viele Einzelteile aus Titan werden für den Boeing 787 Dreamliner in Fabriken im Ural projektiert und hergestellt. Wenn der Export von Titan in die USA eingestellt würde, kämen 20.000 Beschäftigte in der russischen Titan-Verarbeitung in eine sehr schwierige Lage, schreibt das Massenblatt Komsomolskaja Prawda.

Es gibt noch ein anderes Produkt, mit dem Russland den USA Probleme machen könnte. Die nordwestlich von Moskau gelegene Fabrik Energomasch produziert RD 180/181-Triebwerke, die für Raketen des Typs Atlas und Antares eingesetzt werden.

Etwa die Hälfte der Einnahmen von Energomasch stammt aus Aufträgen aus dem Ausland, insbesondere aus den USA. Sollten die Lieferungen an die USA eingestellt werden, müsste ein Teil der 4.000 Beschäftigten entlassen werden, schreibt das Blatt.

Nicht für alle Medikamente aus den USA hat Russland Ersatz

Noch schwieriger ist die Lage bei den Medikamenten, die Russland aus den USA bezieht. Wichtig für Russland sind insbesondere Medikamente für HIV-Infizierte, gegen Krebserkrankungen und Hepatitis C. Zwar gibt es für die insgesamt 220 Medikamente 130 ähnliche Produkte aus russischer Produktion. Doch die seien nicht immer so wirksam, wie die amerikanischen, schreibt die Komsomolskaja Prawda.

Keine neuen Verträge mehr im Raumfahrt- und Atomsektor

Die russische Regierung wies die staatlichen Raumfahrt- und Atom-Unternehmen, Roskosmos und Rosatom bereits an, keine Verträge mehr mit Firmen aus Ländern zu unterschreiben, die sich an Sanktionen gegen Russland beteiligen. Den USA wird dadurch der Zugang zu der Technologie für ein Weltraum-Modul versperrt, welches für das internationale Weltraumprojekt Deep Space gebraucht wird.

Die Moskauer Tageszeitung Kommersant schreibt, dass der Raumfahrtsektor ein Bereich sei, wo es bisher, trotz der Sanktionen, eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Russland und den westlichen Staaten gibt. Immerhin ist Russland für den Transport von US-Astronauten zur Internationalen Raumstation zuständig.

Möglich ist nach Meinung der Komsomolskaja Prawda, dass die russische Regierung beschließt, kein angereichertes Uran für Atomkraftwerke mehr an die USA zu liefern. Das wäre für die USA ein empfindlicher Schlag, denn die Amerikaner importieren 95 Prozent des für Atomkraftwerke benötigten angereicherten Urans. Die Hälfte dieses angereicherten Urans kommt aus Russland und Kasachstan.

Aluminiumproduzent Rusal stoppt Export

Besonders dramatische Folgen haben die Sanktionen beim russischen Aluminiumproduzenten Rusal. Das US-Finanzministerium hatte den Rusal-Präsidenten Oleg Deripaska und das Unternehmen selbst auf die Sanktionsliste gesetzt. Die US-Regierung wirft Deripaska "Einmischung in den amerikanischen Wahlkampf" vor. US-Bürger dürfen mit Deripaska und seinen Firmen jetzt keine Geschäfte mehr machen.

Die Folge war, das die Aktien von Rusal 46 Prozent ihres Wertes verloren. Das Unternehmen stoppte seinen Export. Zuvor hatten Medien unter Bezugnahme auf Insiderinformationen berichtet, Rusal habe seine Kunden aufgefordert, in Euro statt in Dollar zu bezahlen.

Der Vorsitzende des russischen Gewerkschaftsdachverbandes FNPR, Michail Schmakow, schlug vor, den Aluminiumgiganten zu verstaatlichen. Mit Aluminium könne man weiter Gewinne machen. Wie die Nesawisimaja Gaseta berichtete, steigt der Verbrauch von Aluminium in Russland jährlich um elf Prozent.

Probleme auch für Rusal-Konkurrenten

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Sanktionen gegen den russischen Aluminiumgiganten Rusal – er hat einen Weltmarktanteil von 15 Prozent – ein Segen für die Konkurrenten auf dem Aluminiummarkt sein müssten. Doch so einfach ist es nicht. Die Nachrichtenagentur Bloombergwies darauf hin, dass einer der weltweit größten Aluminiumproduzenten, das britische Unternehmen Rio Tinto Group, bei der Weiterverarbeitung Aluminiumerz zu Tonerde – daraus wird dann Aluminium hergestellt – "von Rusal abhängt".

Wie Bloomberg schreibt, kontrolliert Rusal die Weiterverbreitung von Aluminiumerz "von Irland bis Jamaika". Aufgrund der Sanktionen befinde sich die globale Kette der Aluminiumproduktion jetzt "im Chaos", schreibt die Nachrichtenagentur.

Der Blogger Iwan Danilow meint, dass die Sanktionen der USA den Preis für Aluminium nach oben trieben. Daraus folge, dass die Käufer von Aluminium Wege suchen würden, die Sanktionen zu umgehen. Der Blogger weist noch auf einen anderen Umstand hin, der die Bedeutung der der Sanktionen mindert. Wenn der Aluminiumpreis bis zu einer bestimmten Marke stiege, könnten die durch die Sanktionen entstandenen Verluste ausgeglichen werden.

Experten halten Wirtschaftswachstum von zwei Prozent für nicht realistisch

Moskauer Spitzenbeamte geben sich bezüglich der neuen Sanktionen gelassen. Der Markt werde sich auf die neuen Bedingungen einstellen. Genauere Prognosen wollten die Beamten nicht abgeben. Die Regierung hält weiter am Wachstumsziel von zwei Prozent für dieses Jahr fest. Doch viele Experten gehen davon aus, dass es ein Nullwachstum gibt. Wichtigste Einkommensquelle Russlands ist nach wie vor der Öl- und Gassektor. Da der Ölpreis gestiegen ist und nach Prognosen bis Oktober weiter steigen wird, kann Russland die Wirtschaftssanktionen abfedern.

Zahl der russischen Milliardäre gestiegen

Die von den Sanktionen betroffenen russischen Großunternehmer verloren durch den Aktiensturz ihrer Unternehmen zwölf Milliarden Dollar, berichtete die Moskauer Wirtschaftszeitung Wedomosti.

Um den von Sanktionen betroffenen Unternehmern zu helfen, plant die russische Regierung, in Kaliningrad und in der Nähe von Wladiwostok Offshore-Zonen zu schaffen, wo Geschäftsleute, die ihr Geld zurück nach Russland bringen wollen, dies schnell und ohne Steuerzahlungen verwirklichen können. Das berichtete Wedomosti unter Berufung auf eine anonyme Quelle.

Während die russische Bevölkerung seit vier Jahren Einkommensverluste hinnehmen muss, sieht es für die ganz reichen Russen insgesamt nicht schlecht aus. Nach der gerade veröffentlichten neuen Forbes-Liste geht hervor, dass die Zahl der Dollarmilliardäre in Russland von 96 auf 101 gestiegen ist.

Die Tageszeitung Moskowski Komsomolezkommentiert mit Spott, dass diejenigen, die die derzeitige Krise gut überstünden, nun auch noch Hilfe von der Regierung für die Verluste forderten, die ihnen durch die Sanktionen entstanden sind. "Alles für sie, unsere Lieben: Dass nicht, Gott behüte, ihr Vermögen wankt, damit Mütterchen Russland seine beneidenswerten Vertreter im Rating der Reichen nicht verliert."

Putin-Berater Surkow: "100 Jahre Einsamkeit"

Während die Liberalen in Moskau inständig hoffen, dass die Verbindungen zum Westen nicht ganz gekappt werden, entwickeln Patrioten in Russland ganz neue Ideen. Wladislaw Surkow, Berater von Wladimir Putin und unter anderem zuständig für die Gespräch mit den USA über die Ostukraine, machte mit einem aufsehenerregenden Vorschlag von sich reden. In einem Beitrag für die russische Zeitschrift Russland in der globalen Politikschrieb Surkow: "Russland ging vier Jahrhunderte nach Osten und vier Jahrhunderte nach Westen. Weder hier noch dort schlug es Wurzeln. Beide Wege sind wir gegangen. Jetzt wird eine Ideologie des dritten Weges gebraucht, eines dritten Zivilisationstypus, einer dritten Welt, eines dritten Rom …"

Die liberal-konservative Nesawisimaja Gasetahält   den Vorschlag von Surkow für falsch. Die "absolute Mehrheit der Russen" sei für "politische Demokratie und Freiheit, die Achtung der Persönlichkeitsrechte, die Oberherrschaft des Gesetzes, wirtschaftliche und politische Konkurrenz, all das ist der Westen". Seit der Vereinigung der Krim mit Russland seien der Rüstungskomplex, die Armee und der Geheimdienst in Russland stärker geworden. Die Einkommen in diesen Sektoren seinen in den letzten vier Jahren gestiegen, gleichzeitig würden die Stimmen aus diesem Sektor zurzeit sehr laut tönen. Sie stünden "im Widerspruch zu den Interessen des russischen Volkes, dessen reale Einkommen in den letzten vier Jahren gesunken sind".

An anderer Stelle schreibt das Blatt: "Sanktionen und Gegensanktionen werden Russland weiter auf den Weg der Isolation und Selbstisolation stoßen." Die Tendenz, dass der Staat in der russischen Wirtschaft eine immer größere Rolle spielt, führe dazu, dass Russland "gegenüber Schocks von außen immer weniger anpassungsfähig wird".

Der Direktor des Instituts zu Globalisierung und sozialen Bewegungen, Boris Kagarlitzki, meinte gegenüber dem Internetportal Regnum.ru, die Sanktionen der westlichen Staaten könnten Russland keinen ernsten Schaden zufügen. "Die Sanktionen bieten den Anlass, Importprodukte durch eigene Produkte zu ersetzen." Erfolgreich werde diese Methode jetzt in Bereichen praktiziert, denen es wirtschaftlich gesehen noch einigermaßen gutging, wie der Nahrungsmittelindustrie und der Landwirtschaft. Das Problem Russlands seien weniger die Sanktionen der westlichen Staaten als die Tatsache, dass der Wiederaufbau der in den 1990er-Jahren zerstörten russischen Industrie nicht in Angriff genommen worden sei.

Und wie denken die einfachen Russen? "Früher haben wir uns schon gesorgt, wenn der Rubel gegenüber dem Dollar verlor", sagt Inessa, Mitarbeiterin eines kleinen Moskauer Dienstleistungsunternehmens. "Heute wundern wir uns über gar nichts mehr." Ihre Kollegin Olga meint: "Wir Russen sind schon einiges gewohnt. Die Generationen vor uns hat den Krieg erlebt. Wir Russen wissen, wie man sich durchschlägt." Inessa meint: "Uns geht es doch gut. Wir haben ein Dach über dem Kopf. In Syrien und im Donbass fallen Bomben." Olga sagt, viele ihrer Bekannten seien Anfang der 1990er-Jahre in westliche Staaten ausgewandert. Sie selbst mache gerne Urlaub in Italien. Aber die russische Lebensweise gefalle ihr am besten. Auf einen Urlaub in Italien könne sie auch verzichten.

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