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Hat das Gipfeltreffen zwischen Putin und Xi Jinping den indisch-russischen Beziehungen geschadet?

Einige indische Experten und Analysten gaben sich nach dem Treffen zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping alarmiert über mögliche negative Folgen für die indisch-russischen Beziehungen. Doch die pragmatische Wahrheit ist, dass Russland und Indien einander in einer sich rasch verändernden Weltordnung brauchen.
Hat das Gipfeltreffen zwischen Putin und Xi Jinping den indisch-russischen Beziehungen geschadet?Quelle: AFP © Sergej BOBYLJOW / SPUTNIK / AFP

Eine Analyse von Joydeep Sen Gupta

Das Treffen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem chinesischen Amtskollegen Xi Jinping vor rund zehn Tagen war in den Schlagzeilen ganz oben zu finden und endete mit einer gemeinsamen Erklärung, in der die gegenseitige Freundschaft bekräftigt wurde. Wie vorhersehbar, haben die Bilder von Putin und Xi – zwei der mächtigsten Persönlichkeiten der zeitgenössischen Weltpolitik, die durch gemeinsame Ziele und ihr gemeinsames Misstrauen gegenüber den USA und ihren westlichen Verbündeten verbunden sind – in Indien Alarm ausgelöst.

Indiens Bedenken

Indien ist bestrebt, sich ein Bild seiner Stellung in einer sich verändernden Weltordnung zu machen, in der seit dem Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine vor einem Jahr die globale geopolitische Hauptkampflinie in Wort und Tat neu gezogen wurde. In Neu-Delhi gibt es viele Bedenken darüber, ob Indien im anhaltenden Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und der russisch-chinesischen Achse zwischen Stuhl und Bank geraten könnte. Mehrere Beobachter der indischen Außenpolitik glauben, dass Russland, Indiens "Allwetterfreund", vor dem Hintergrund langwieriger Grenzstreitigkeiten zwischen den beiden asiatischen Machtzentren näher an China heranrückt.

Neu-Delhi hat die sorgfältig formulierte Erklärung von Moskau zur Kenntnis genommen, mit der die wachsende Kameraderie in den chinesisch-russischen Beziehungen zum Ausdruck gebracht wurde. Die Erklärung erwähnte nachdrücklich die "besondere Natur" der russisch-chinesischen Beziehungen, "die sich auf dem höchsten Niveau in unserer gesamten Geschichte befinden und ein Modell für eine echte umfassende Partnerschaft und strategische Zusammenarbeit bieten", was einer Partnerschaft neuen Schwung verleiht, die bereits vor der Ukraine-Krise vorgestellt wurde.

Subramanian Swamy, ein Mitglied der rechtskonservativen Partei Bharatiya Janata (BJP) von Premierminister Modi und ehemaliger Bundesminister, reagierte umgehend auf das chinesisch-russische Schulterklopfen und behauptete, Pekings Dominanz über Moskau sei allgegenwärtig. Er beschrieb es als eine "Niederwerfung" Russlands vor China und deutete an, dass diese "neue Herzlichkeit" für Indien schädlich sein könnte.

Die Aussage von Swamy fußt wohl in seiner langjährigen Verbindung zu China. Er ist einer der wenigen indischen Politiker, der eine Beziehung zum ehemaligen chinesischen kommunistischen Führer Deng Xiaoping pflegte, mit dem er 1981 ein historisches Treffen in Peking hatte. Im Jahr 2020 veröffentlichte er das Buch "Himalayan Challenge: India, China and the Quest for Peace" (Die Himalaya-Herausforderung: Indien, China und das Streben nach Frieden), das pragmatische Lösungen für die chinesisch-indischen Grenzstreitigkeiten und die daraus resultierende militärische Pattsituation vorschlägt.

Indiens führender Analyst für strategische Angelegenheiten, Brahma Chellaney, sah im Treffen von Putin und Xi ein erkennbares Muster, mit dem eine bisher nie dagewesene Weltordnung erschaffen werden könnte, in der ein besorgtes Indien ein Gefühl für seinen Platz am globalen Tisch bekommen möchte. Das indische Außenministerium (MEA) hat sich über den Gipfel in Moskau sehr bedeckt gehalten, aber Quellen im Ministerium ließen durchblicken, dass man die Entwicklungen genau beobachtet und wie sich die chinesisch-russischen Beziehungen in der nahen Zukunft gestalten werden.

Unterdessen bleiben die Grenzstreitigkeiten zwischen Indien und China so akut wie eh und je. Trotz eines hoffnungsvollen Dialogs zwischen Neu-Delhi und Peking, wie er im jährlichen außenpolitischen Bericht des MEA erwähnt wird, hat Indiens Außenminister, Subrahmanyam Jaishankar, die Haltung seines Landes nur wenige Tage vor der jüngsten russisch-chinesischen Erklärung unmissverständlich dargelegt. Bezüglich der strittigen Punkte nahm er kein Blatt vor den Mund, bezeichnete die chinesisch-indische Grenzsituation als "brüchig" und "gefährlich" und spielte den Ball direkt Peking zu, um den Jahrzehnte alten Streit zu lösen, indem er schrieb: "China muss liefern. Um voranzukommen, muss China die Grenzsituation lösen." Er vermied es jedoch, Moskaus enge Beziehungen zu Peking zu erwähnen.

Eine unwahrscheinliche Trennung

Indiens Sorgen erscheinen zum jetzigen Zeitpunkt jedoch fehl am Platz. Die Jahrzehnte alten Beziehungen zwischen Neu-Delhi und Moskau dürfen nicht als Geisel herhalten bei sich neu bildenden diplomatischen Beziehungen zwischen zwei mächtigen souveränen Nationen, die eine unabhängige Außenpolitik verfolgen.

Russland bleibt Indiens größter Rüstungslieferant und ist im Gegensatz zu westlichen Nationen bereit, Atom-U-Boote in die laufenden Geschäfte mit einzubeziehen. Moskau beliefert Neu-Delhi auch mit S-400-Raketenabwehrsystemen. Seit 2016 ist die 13-Milliarden-Dollar-Investition von Rosneft in Essar die größte ausländische Direktinvestition in Indien geblieben – und dies inmitten eines Aufwärtstrends im bilateralen Handel. Indien profitiert auch davon, russisches Rohöl zu einem ermäßigten Preis zu beziehen, nachdem Moskau die für die EU vorgesehenen Mengen umgeleitet hat, weil Brüssel den Handel mit Russland nach Beginn des Ukraine-Konflikts sanktionierte.

Neu-Delhi setzt auch auf die Unterstützung Moskaus für seine zentralasiatischen Handelsambitionen, da beide vollwertige Mitglieder der aus neun Ländern bestehenden Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) mit Sitz in Peking sind. Indien hat im vergangenen September den Vorsitz der SOZ übernommen und wird am 4. und 5. Mai das jährliche Gipfeltreffen in Goa ausrichten.

Die Stärkung der Beziehungen zwischen Russland und China könnte Indien sogar zugute kommen, um auf gleicher Augenhöhe mit Peking umzugehen. Moskau hatte Neu-Delhi geholfen, die diplomatische Krise zu deeskalieren, nach den Grenzvorfällen im Jahr 2020 in Galwan, im Osten der Region Ladakh, bei denen 20 Angehörige der indischen Armee ums Leben kamen.

Eine Trennung zwischen Indien und Russland würde den westlichen Nationen in die Hände spielen, die den Boom der indischen Mittelklasse, deren Kaufkraft und den wachsenden Konsum im Auge behalten, um ihre eigenen Waren in die bevölkerungsreichste Nation der Welt zu verkaufen. Sie haben Neu-Delhi auch subtil zu verstehen gegeben, sich von Moskau zu lösen. Bis heute ist es Indien gelungen, diese diplomatische Gratwanderung souverän zu meistern. Würde sich Indien jetzt von Russland lossagen, würde Moskau natürlich noch mehr auf Peking zusteuern, und eine scharfe Spaltung ist das Letzte, was Neu-Delhi will oder braucht. Dies würde bedeuten, den Russland-Trumpf aus der Hand zu geben, mit dem Indien sowohl China als auch die USA und ihre westlichen Verbündeten in Schach halten kann.

Sind die USA eine Alternative?

Lassen Sie uns für einen Moment alles beiseite legen und das folgende Szenario in Betracht ziehen: Indien wendet sich von Russland ab und wirft sich vollständig in die wartende Umarmung aus den USA. Washington wirbt seit langem um Neu-Delhi – und die Gründe dafür sind nicht schwer zu erraten: Die USA sehen Indien als Stützpunkt in ihrer strategischen Konfrontation mit China sowie als lukrativen alternativen Markt und als potenzielle industrielle Produktionsbasis als Ersatz für China.

Aber kann Indien den USA vertrauen? Die Geschichte der Weltpolitik ist voll von Beispielen für die Überlegenheit der USA auf Kosten angeblicher Freunde und Partner sowie von verpfuschter außenpolitischer Öffentlichkeitsarbeit. Seit mehr als einem Jahrzehnt versuchen die USA, auf der Grundlage der demokratischen politischen Systeme beider Nationen und ihrer gemeinsamen Besorgnis über Chinas militärische Macht unter Präsident Xi, eine strategische Partnerschaft mit Indien aufzubauen. Die Beziehungen zwischen den USA und Indien sind jedoch aufgrund unterschiedlicher Weltanschauungen bestenfalls oberflächlich und Washington gilt zudem als unzuverlässig.

Indien ist sich des Chaos bewusst, das die USA in seiner Nachbarschaft, insbesondere in Pakistan und Afghanistan, angerichtet haben. Man muss was die US-Außenpolitik betrifft, nicht weiter als ins erstgenannte Land blicken, dessen Herz und Wohlwollen Washington nicht gewinnen konnte, obwohl es diese zweitgrößte islamische Nation der Welt mit Milliarden von Dollar an Hilfe überschüttet hat. Mit diesen beiden Beispielen in der unmittelbaren Nachbarschaft ist Neu-Delhi unter Premierminister Modi besser beraten, auf Nummer sicher zu gehen, als sich Washingtons Predigten über demokratische Werte, Meinungsfreiheit und Freiheit hinzugeben. Indien ist noch nicht bereit, die Seiten zu wechseln, um einen überzeugenden diplomatischen Standpunkt zu vertreten und eine einseitige Welt unter der Schirmherrschaft des Westens zu fördern.

Wunschdenken

Russlands Botschafter in Indien, Denis Alipow, ist schließlich eingeschritten, um alle Missverständnisse und wilden Spekulationen in Neu-Delhis Korridoren der Macht und der Wissenschaft zu zerstreuen, dass die bilateralen indisch-russischen Beziehungen aufgrund der engeren Beziehungen Moskaus zu Peking in Mitleidenschaft gezogen werden. Mit einem eindrücklichen Tweet verurteilte er die Angstmacherei unter indischen Analysten und hielt fest, dass die Vorstellung einer Trennung von Indien und Russland ein "Wunschdenken" sei.

Der Gesandte äußerte sich auch zu der heftigen Debatte in einem Teil der indischen Medien über den wahrscheinlichen Ausgang des dreitägigen Besuchs von Präsident Xi in Russland. Sicherlich sind die bilateralen Beziehungen nicht unmittelbar bedroht, aber die gemeinsame chinesisch-russische Erklärung verwies auf heiß umkämpfte globale diplomatische Debatten, wie die Politisierung multilateraler Foren und die sich bildenden geopolitischen Blöcke. Letzteres war eine verschleierte Kritik an Äußerungen beim G20-Gipfel und aus der Quad-Gruppe, der Indien neben den USA, Japan und Australien angehört.

Der Weg nach vorne

Neu-Delhi hat eine "Indien zuerst"-Außenpolitik entwickelt und praktiziert sie auch – so wie jedes andere Land, einschließlich Russland und China. Es ist selbstverständlich, dass es in der Diplomatie, wo die feinen Linien rasch unscharf werden, keine dauerhaften Freunde oder Feinde gibt. Jede Nation verteidigt ihre eigenen pragmatischen Interessen auf der globalen Bühne, selbst wenn ihre obersten Staatslenker gemeinsam fotografiert werden, wie sie sich herzlichen Umarmungen hingeben oder sich die Hände reichen. Öffentliche Diplomatie wird oft in Selbstdarstellung, Projektion und Schauspielerei ausgedrückt.

Umgekehrt wird es immer Schwarzseher geben, die sich mit "Wunschdenken" über das diplomatische Versagen ihrer eigenen Staatslenker beschäftigen, wie Botschafter Alipow es beschrieben hat. Aber am Ende ist die pragmatische Wahrheit, dass Russland und Indien einander in der sich rasch verändernden Weltordnung brauchen – und solange sie es tun, werden sie alle Anstrengungen unternehmen, um auf der Seite des jeweils anderen zu stehen.

Übersetzt aus dem Englischen.

Joydeep Sen Gupta ist Asien-Redakteur bei RT.

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