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Rücktrittswelle, Säuberungen? Es rumort unter hochrangigen ukrainischen Beamten

Die zunehmende Nervosität in der Hauptstadt der Ukraine und in den umliegenden Regionen, könnte darauf zurückzuführen sein, dass der Westen mit der Entwicklung der Dinge unzufrieden ist. Eine Spurensuche im Sumpf der Kiewer Säuberungen.
Rücktrittswelle, Säuberungen? Es rumort unter hochrangigen ukrainischen BeamtenQuelle: Gettyimages.ru © Ukrainische Präsidialamt / Anadolu Agency via Getty Images

Eine Analyse von Petr Lawrenin

Im Rahmen einer seiner regelmäßigen abendlichen Videoansprachen kündigte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij am 23. Januar größere personelle Veränderungen in seiner Regierung an. Die Entscheidung ist sowohl mit seinem Wunsch verbunden, dem Westen Entschlossenheit im Kampf gegen die Korruption zu demonstrieren, fußt aber auch auf einer Zunahme innenpolitischer Konflikte.

Die Rücktritte betrafen nicht nur Vertreter der ukrainischen Elite, wie den stellvertretenden Leiter des Büros des Präsidenten der Ukraine, Kirill Timoschenko, sondern auch Gouverneure von Regionen in Frontnähe. RT untersuchte, was zu den neusten Skandalen führte und analysiert die möglichen Folgen dieser Verschiebungen inmitten eines bewaffneten Konflikts.

Auf dem Weg zum Ausgang

Die Regierung in Kiew wurde erneut von einem Drama unter Beteiligung ihres Personals erschüttert. Am 24. Januar traten gleich drei hochrangige Beamte von ihren Ämtern zurück: der stellvertretende Leiter des Büros des Präsidenten Kirill Timoschenko, der stellvertretende Verteidigungsminister Wjatscheslaw Schapowalow und der stellvertretende Generalstaatsanwalt Alexei Symonenko.

Ebenfalls entlassen wurden vier Chefs der Regionalverwaltungen: in Dnjepropetrowsk (Dnjepr) Valentin Resnitschenko, in Saporoschje Alexander Staruch, in Cherson Jaroslaw Januschewitsch und in Sumy Dmitri Schiwitskij. Es ist erwähnenswert, dass all diese Gebiete in unmittelbarer Nähe der Front und/oder an der russischen Grenze liegen, was darauf hindeuten könnte, dass sich die ukrainischen Behörden auf eine neue Phase des Krieges vorbereiten. Laut lokalen Medien beschränkt sich die Liste der Rücktritte und Entlassungen jedoch nicht auf die oben genannten Namen, sondern könnte noch weitere hochrangige Beamte umfassen, einschließlich des Premierministers Denis Schmygal.

Diesen personellen Veränderungen sind eine Reihe von Korruptionsskandalen vorausgegangen, in denen hochrangige Beamte verwickelt waren. Dies führte zu einer scharfen Eskalation des Konflikts innerhalb der ukrainischen Innenpolitik, und zu Diskussionen über umfassende Reformen beim Amt des Präsidenten der Ukraine, bei der Regierung und bei bestimmten Strafverfolgungsbehörden.

Der stellvertretende Verteidigungsminister Wjatscheslaw Schapowalow, der beschuldigt wird, Lebensmittel für die Armee zu überhöhten Preisen gekauft zu haben, trat zurück, während das Verteidigungsministerium der Ukraine diese Anschuldigungen als manipulativ zurückwies. Die Situation bedrohte auch den mittlerweile abgesetzten Verteidigungsminister Alexei Resnikow, nachdem die Werchowna Rada der Ukraine zunächst beschlossen hatte, ihn im Amt zu belassen.

Das Nationale Büro gegen Korruption der Ukraine (NABU) führte ebenfalls Razzien durch und nahm Wassili Losinskij – einen Schützling von Schmygal – fest, der stellvertretender Minister für die Entwicklung von Gemeinden, Gebieten und Infrastruktur war, während ein weiterer Kollege, Ivan Lukeria, zurücktrat.

Unterdessen fegt ein weiterer politischer Skandal durch die Ukraine. Pawel Chalimon, ein Abgeordneter der Partei des Präsidenten, wurde beschuldigt, trotz des andauernden Krieges, im Zentrum von Kiew ein Anwesen im Wert von rund 253.000 EUR gekauft zu haben. Daraufhin wurde er von seinem Posten als stellvertretender Vorsitzender der parlamentarischen Fraktion entlassen. Die Geschichte wurde von Journalisten der Ukrainska Prawda öffentlich gemacht. Laut Experten des ukrainischen Instituts für Politik steht die Zeitung unter der Schirmherrschaft von US-Amerikanern und dem Team des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko.

Ein weiterer Skandal dreht sich um den ehemaligen Berater von Selenskij, Aleksei Arestowitsch, der im Verlauf des bewaffneten Konflikts zu einem populären Blogger wurde. Arestowitsch behauptete in einem TV-Interview, dass die russische Rakete, die vergangenen Monat auf ein Wohnhaus in Dnjepropetrowsk gefallen war, erst von der ukrainischen Luftverteidigung abgeschossen worden sei und in der Folge auf das Wohnhaus stürzte. Diese Behauptung verursachte einen landesweiten Aufschrei der Empörung, und er reichte daraufhin seinen Rücktritt ein. Diese Affäre wurde daraufhin genutzt, um den populären Arestowitsch zu diskreditieren und sein politisches Ansehen zu beschädigen – für bestimmte Mitglieder im Team von Selenskij und für das politische System der Ukraine eine willkommene Wendung der Ereignisse.

Dies sind nicht die ersten Skandale und Korruptionsvorwürfe, mit denen sich die Ukraine seit Beginn der russischen Militäroperation befassen musste, aber sie haben bisher nicht zu Rücktritten geführt. Im Gegenteil: Regierungsgegner und Informanten aus dem Korruptionssumpf wurden stattdessen beschuldigt, "für den Feind zu arbeiten" und in schwierigen Zeiten Verwirrung unter der Bevölkerung zu stiften. Jetzt aber hat sich die Situation dramatisch verändert. In seiner jüngsten Ansprache betonte Präsident Selenskij, dass jeder Beweis für Korruption "eine heftige Reaktion“ hervorrufen werde.

Die Front rückt näher

Diese ganzen Geschichten über Korruption und Bestechung werden von Medien verbreitet, die mit westlichen Partnern der Ukraine und Poroschenko in Verbindung stehen, der mittlerweile zum Hauptgegenspieler von Selenskij geworden ist, nachdem dieser den Oppositionsführer Wiktor Medwedtschuk inhaftieren ließ. Beispielsweise lancierten am 23. Januar mehrere westlich orientierte Journalisten einen direkten Angriff auf Andrei Jermak – den Leiter des Büros des ukrainischen Präsidenten und eine Schlüsselfigur im System.

Das Projekt bihus.info veröffentlichte eine Untersuchung seiner Verbindungen zu den "pro-russischen" Abgeordneten Wadim Stolar und Wiktor Medwedtschuk von der "Oppositionsplattform - Für das Leben". Der populäre Journalist Michail Tkatsch von der Ukrainska Prawda appellierte an Präsident Selenskij, beide Politiker zu entlassen und zu bestrafen.

Es gibt Hinweise darauf, dass Washington und seine Verbündeten die Macht von Selenskij beschneiden wollen. Westliche Medien bringen gelegentlich eine Unzufriedenheit mit seiner dominanten Position in der Innenpolitik zum Ausdruck. Wie das von Selenskij in der Ukraine verbotene Medium strana.ua behauptete, lässt sich daraus folgern, dass die Beschneidung der Macht von Selenskij demonstriere, dass die USA und die EU beabsichtigen, die Kontrolle darüber zu behalten, wie die Multimilliarden-Dollar-Hilfe für die Ukraine – derzeit etwa 50 Prozent des ukrainischen Staatshaushalts – verwendet werden. Unter diesen Umständen waren die Behörden in Kiew gezwungen, auf Druck des Westens auf die Korruptionsvorwürfe zu reagieren.

Die USA konnten das Büro des Präsidenten der Ukraine davon überzeugen, den Posten des Direktors des NABU zu besetzen, so der Vorsitzende der Partei "Diener des Volkes", David Arachamija. Damit könnte sich in der Ukraine bald eine vom Entscheidungszentrum unabhängige Machtstruktur bilden. Selenskij seinerseits versucht, den Druck seiner westlichen Paten zu mindern, indem er mehrere Beamte entlässt. Er wird jedoch wahrscheinlich planen, die Hauptfiguren seines Systems im Amt zu behalten – zumindest seinen Büroleiter Andrei Jermak, nachdem er seinen Verteidigungsminister Alexei Resnikow absetzen musste. Jeder Schaden an ihrem Ruf schwächt ernsthaft die Position des Präsidenten.

Wie eingangs erwähnt, hat Selenskij bereits ein wichtiges Mitglied seines Teams entlassen, den stellvertretenden Leiter seines Büros, Kirill Timoschenko. Berichten zufolge erhielt die Regierung Informationen, dass die NABU Timoschenko in mehreren Korruptionsfällen als Verdächtigen behandelt. So stieß er beispielsweise auf eine Welle harscher Kritik, weil er einen amerikanischen Geländewagen privat und persönlich nutzte, der aus einer Wagenflotte stammt, die von General Motors gespendet wurde, für die Evakuierung ukrainischer Bürger aus den Kampfgebieten. Timoschenko hingegen behauptet, er habe das Fahrzeug nur für Dienstfahrten benutzt.

Es gibt auch eine alternative Version der Ereignisse. Die Korruptionsskandale der Ukraine sind ungünstig für die Administration von Joe Biden. Sie befeuern die republikanische Kritik an den Demokraten, wegen der undurchsichtigen Verwendung der Hilfsleistungen für die Ukraine und untermauern die Anschuldigung, dass sich die Plünderungen der Hilfsgelder fortsetzen. Gemäß dieser Version werden die Skandale von Aktivisten und Journalisten für ihre eigenen Ziele aufgebauscht, etwa um zusätzlichen Einfluss auf Entscheidungsprozesse in Kiew zu gewinnen. Inmitten der militärischen Feindseligkeiten können solche Skandale zu einem Anstieg des Misstrauens gegenüber den Behörden führen. Politische Kämpfe erzeugen Spannungen in der Gesellschaft und eröffnen eine zweite, innere Front. Zusammengenommen könnten diese Faktoren zu einer schweren innenpolitischen Krise in der Ukraine führen.

Was kommt als Nächstes?

Vor dem Hintergrund dieser schrillen politischen Skandale werden personelle Veränderungen in der Regierung ernsthaft diskutiert. Zu den Beamten, die als nächste Entlassungskandidaten in Betracht gezogen werden, gehören Energieminister German Galuschtschenko, der Minister für Jugend und Sport Wadim Gutzeit sowie der Minister für strategische Industrien Pawel Riabikin. Keiner dieser Beamten war jedoch bisher in Korruptionsskandale verwickelt, sodass diese Rücktritte, falls sie eintreten sollten, wahrscheinlich andere Gründe haben werden.

All dies veranlasste einige Journalisten, laut über mögliche großangelegte Regierungswechsel nachzudenken. Losinskij und Schmygal arbeiteten zusammen in der Abteilung für wirtschaftliche Entwicklung in der regionalen Verwaltung von Lwiw (Lemberg). Nachdem Schmygal im Februar 2020 zum stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt worden war, berief er Losinskij zu seinem ersten Stellvertreter. Ein Rücktritt des Premierministers, der den Rücktritt der gesamten Regierung nach sich ziehen würde, könnte in der Tat wie eine kraftvolle Antwort von Selenskij auf die Korruptionsskandale gewertet werden. Ein solcher Vorgang birgt jedoch ernsthafte Risiken für die Regierung und es gibt genug Leute hinter den Kulissen, die ein solches Vorgehen ruinieren könnten.

Zum einen birgt der Rücktritt der Regierung inmitten von Korruptionsskandalen die Gefahr einer politischen Spaltung der Werchowna Rada. Darüber hinaus könnten die westlichen Länder bei einem Rücktritt der Regierung strenge Bedingungen für die Koordinierung der Kandidaten für die neue Regierung stellen. Dies geschah bereits 2014, als die US-Bürgerin Natalia Jaresko zur Finanzministerin in der Regierung von Arsenij Jazenjuk und der Litauer Aivaras Abromavičius zum Minister für wirtschaftliche Entwicklung und Handel ernannt wurden.

All dies kann das Machtsystem erschüttern und dazu führen, dass die Präsidialverwaltung deutlich weniger Einfluss auf die politischen Prozesse hat. Das derzeitige politische System ist eindeutig auf eine einzige Struktur ausgerichtet: auf das Amt des Präsidenten der Ukraine. Nach den vorgezogenen Parlamentswahlen 2019 und einer Mehrheitsbildung in der Werchowna Rada wurde die gesamte vertikale Machtordnung um Selenskij und Jermak herum strukturiert, der Einfluss des Verfassungsgerichts der Ukraine eliminiert und der Informationsraum konsolidiert.

Der Krieg in der Ukraine hat diese Prozesse lediglich beschleunigt. Tatsächlich können sich jetzt nur noch drei Mächte gegen das Team Selenskij-Jermak stellen: Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko und sein Kabinett, die von Waleri Saluschny geführte Armee und von den USA kontrollierte Strukturen wie der NABU und die mit ihnen verbundenen Medien. Gleichzeitig werden Entscheidungen über Rücktritte ausschließlich von Selenskij und Jermak getroffen, die versuchen wollen, diese Skandale mit allen Mitteln zu vertuschen.

Veränderungen stehen bevor. Der ukrainische Präsident wird von mehreren Seiten zu strukturellen Reformen gedrängt, darunter von seinen eigenen Beamten, der Regierung, den Machtstrukturen und insbesondere von den ausländischen Schirmherren, während neuerliche große Korruptionsskandale dazu führen könnten, dass die Unterstützung der westlichen Öffentlichkeit für Kiew sinkt.

Schließlich ist die Ukraine ein sehr teures Projekt, unabhängig von seinem geopolitischen Wert. Neben riskanten Investitionen und schmerzhaften Kosten, brauchen die Investoren und Geldgeber Klarheit in Bezug auf die interne Managementkontrolle. Die US-Regierung beteuert regelmäßig, dass man die Ukraine bis zu ihrem Sieg finanzieren wird, aber sie muss auch für das Geld, das sie ausgibt, Rechenschaft ablegen. Wie überall wird die Qualität der Arbeit vom Arbeitgeber bewertet, nicht vom Arbeitnehmer. Und in diesem Fall sind die Amerikaner die unbestrittenen Bosse.

Übersetzt aus dem Englischen.

Petr Lawrenin ist Polit-Journalist und Experte für die Ukraine und die ehemalige Sowjetunion.

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
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Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.