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Russische Mittelstreckenraketen in Lateinamerika könnten den USA Kopfschmerzen bereiten

Könnte Russland sich gerade darauf vorbereiten, seine Streitkräfte näher an das US-"Homeland" zu verlegen? Wäre das überhaupt sinnvoll – und was wären die Risiken, wie hoch die Kosten? Experten sind sich uneins – außer darüber, was – wenn überhaupt – verlegt werden sollte.
Russische Mittelstreckenraketen in Lateinamerika könnten den USA Kopfschmerzen bereitenQuelle: Gettyimages.ru © Sefa Karacan/Anadolu Agency/Getty Images

Analyse von Wladimir Kulagin

Da sich die USA weigern, den Vormarsch ihres NATO-Militärblocks in Osteuropa zu stoppen, könnte Moskau seine Beziehungen zu befreundeten lateinamerikanischen Staaten nutzen, um Washington nicht nur in Europa, sondern auch in Lateinamerika die Stirn zu bieten. Doch würde sich solch ein Vorgehen lohnen?

Nach der Ukraine und den baltischen Staaten fanden sich plötzlich auch Kuba und Venezuela in Schlagzeilen wieder – als es von russischer Seite Bemerkungen über die mögliche Stationierung von Kriegsgerät in Lateinamerika gab. RT befasst sich hier mit den hypothetischen Kosten einer Dislozierung von Moskaus Streitkräften dort, wo die USA ihr "nahes Ausland", ihre "Einflusssphäre" oder ganz unbescheiden ihre "Hemisphäre" (also Erdhalbkugel) verorten – je nachdem, wen man dort fragt.

Der Anlass zur Diskussion

Während Moskau und Washington über eventuelle Sicherheitsvereinbarungen in Europa verhandelten, beantwortete Sergei Rjabkow als russischer Vize-Außenminister eine Frage zu einer theoretisch denkbaren Verlegung von Russlands militärischer Infrastruktur nach Kuba oder Venezuela so:

"Ich möchte weder etwas bestätigen [...] noch ausschließen", so Rjabkow letzte Woche in einem Interview. Er betonte, dass jedwede Eskalation vor allem den "Handlungen unserer US-Partner" geschuldet sein würde; Russlands Präsident Wladimir Putin habe häufig in den Raum gestellt, Moskau würde sich revanchieren, "wenn die Provokationen gegen Russland und der militärische Druck weiter zunehmen".

Angesichts der angespannten Beziehungen schlug selbst dieser sehr ausweichende Kommentar bei einigen Beobachtern wie die – sprichwörtliche – Bombe ein.

Am selben Tag stellte der nationale Sicherheitsberater der USA Jake Sullivan etwas später in einer Pressekonferenz klar, das Thema stehe zwar nicht ganz oben auf der Tagesordnung der US-Regierung von Joe Biden, Washington werde aber auf jeden Fall auf jegliche Versuche Moskaus reagieren, seine (militärischen) Fähigkeiten in Nord- und Südamerika auszubauen:

"Wenn sich Russland in diese Richtung bewegen sollte, würden wir entschlossen dagegen vorgehen", sagte Sullivan.

Zu viel Aufwand, zu wenig Sinn

Im Gespräch mit RT schloss Ilja Kramnik, ein Forscher am Zentrum für Nordamerikastudien des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften, die Dislozierung russischer Militärkapazitäten in Lateinamerika nicht völlig aus. Gleichzeitig bezweifelt er aber, dass Moskau schon konkrete Pläne habe, die über solche diplomatische Rhetorik hinausgehen.

Zuallererst bräuchte Russland die Zustimmung der Regierungen der betroffenen Länder – was nach Ansicht aller von RT befragten Experten kein Selbstläufer wäre.

Michail Chodarjonok, ein Militärbeobachter und pensionierter Oberst der Reserve, meint, die politischen Führungen sowohl Kubas als auch Venezuelas seien zwar von den Andeutungen aus dem russischen Außenministerium begeistert. Allerdings befürchtet er auch, dass die Regierungen in diesen Ländern sehr instabil sind.

"Heute hat Venezuela einen [Russland] freundlich gesinnten Präsidenten – Nicolás Maduro – aber morgen kann es jemand anderes sein. Auch in Kuba bahnt sich langsam ein Wandel an. Und mit einer hypothetischen Entsendung unserer Truppen könnten wir im Falle eines politischen Umbruchs in eine missliche Lage kommen, denn unsere Waffen könnten in die falschen Hände geraten."

Alter Bekannter: Kuba kommt wieder ins Spiel

Nach Rjabkows Erklärung wurde die kubanische Botschaft in Moskau sofort zu einer Stellungnahme aufgefordert – die jedoch nichts Wesentliches erbrachte: Havannas Diplomaten hätten keine Informationen darüber, ob eine militärische Präsenz Russlands auf der Insel offiziell diskutiert werde oder nicht, so die Nachrichtenagentur RIA Nowosti.

Kuba war im 20. Jahrhundert eines der wichtigsten Schlachtfelder im Kalten Krieg zwischen den USA und der UdSSR. Es hätte sogar zum Schauplatz für den Ausbruch des Dritten Weltkriegs werden können: Das Patt von 1962 ist als Kubakrise in die Geschichte eingegangen.

Auslöser der Eskalation war die Entscheidung der USA, damals 15 "Jupiter"-Mittelstreckenraketen in der Türkei zu stationieren. Sie hatten bereits 30 Jupiter-Raketen in Italien und 60 Mittelstreckenraketen vom Typ Thor in Großbritannien stationiert. Moskau reagierte mit der verdeckten "Operation Anadyr": Von Juni bis Oktober 1962 wurden Truppen, Flugabwehrsysteme und Jagdflugzeuge, Bomber und Torpedobomber sowie insbesondere nuklearwaffenbestückte bodengestützte ballistische Mittelstreckenraketen R-12 und Kurzstrecken-Marschflugkörper FKR-1 sowie einige Freifall-Atombomben RDS-4M (für die Bomber des Typs Iljuschin Il-28) nach Kuba verlegt.

Die USA erkannten dies als tatsächliche direkte Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit und stellten ein Ultimatum: Die Nuklearwaffen müssten unverzüglich abgezogen werden, andernfalls würde es zu einer militärischen Intervention kommen. Es ist allgemein anerkannt, dass diese Konfrontation die Welt an den Rand eines Atomkriegs brachte. Er konnte erst abgewendet werden, als sich die UdSSR unter Nikita Chruschtschow und die USA unter John F. Kennedy auf einen beiderseitig vorteilhaften Handel geeinigt hatten: Es wurden sowohl die Raketen aus Kuba als auch die aus der Türkei abgezogen.

Sollte sich Russland tatsächlich dazu entschließen, Mittel- und Kurzstreckenraketen auf Kuba oder in Venezuela zu stationieren, könnte die Welt nach Ansicht vieler Experten möglicherweise in eine neue höchstgefährliche Pattsituation geraten, ähnlich der Kubakrise 1962.

Noch einmal von vorne anfangen? Beispiel möglicher Kosten

In den Jahren von 1978 bis 2002 beherbergte Kuba die Lourdes-Signalaufklärungsanlage, mit der es Moskau möglich wurde, US-Kommunikationssatelliten, bodengestützte Telekommunikationskabel und die NASA-Kommandozentrale in Florida abzuhören.

Wladimir Putin beschloss im Jahr 2001 die Schließung der Abhörstation – vor allem aufgrund der permanent hohen Kosten. Analysten weisen heute jedoch auch darauf hin, dass damals auch die Beziehungen zwischen den USA und Russland wesentlich freundlicher waren und das Aufgeben dieses letzten Überbleibsels aus dem Kalten Krieg im Westen als ein weiterer Schritt zur Förderung besserer Beziehungen hätte verstanden werden sollen. Heute, zwanzig Jahre später, gibt man sich in Moskau keinen Illusionen mehr hin, und das Signal einer möglichen Rückkehr nach Kuba könnte als ein durchaus plausibler Plan angesehen werden. Doch da wäre wiederum die Frage der Kosten: Allein der Betrieb der besagten Abhörstation war recht aufwendig, und dazu kam die Pacht, die Russland an Kuba zahlte: Holz, Treibstoff, Verteidigungssysteme sowie Ersatzteile für Fahrzeuge und Gerät der Streitkräfte Kubas – im Wert von 200 Millionen US-Dollar.

In einem Interview mit RT erinnerte Dmitri Stefanowitsch vom Zentrum für internationale Sicherheit des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften, dass von dem früheren Spionageposten nicht mehr viel übrig sei, und äußerte die Ansicht, dass seine Wiedereröffnung nichts bringen würde: "Wir haben genug Abhörkapazitäten in ganz Russland. […] Niemand hat je festgestellt, dass Russlands Verteidigungskapazitäten nach der Schließung der Station im Jahr 2002 beeinträchtigt waren. Sicher ist jedoch, dass es ein hoher Wartungsaufwand war."

Permanente Stationierung überhaupt sinnvoll?

Darüber hinaus könnte Russland heute einen unangemessen hohen Preis dafür bezahlen müssen, wenn es eine ständige militärische Bedrohung für die USA in deren unmittelbarer Nähe aufbauen würde, so Stefanowitsch: "Wir haben einfach nicht die Ressourcen, um etwas zu stationieren, das wirklich von ernstzunehmender Bedeutung wäre. Angenommen, wir würden ein Flugabwehrregiment, ausgestattet mit S-400 [fortschrittlichen Raketensystemen], einsetzen – und dann? Wir könnten auch eine Brigade von Iskander-Raketensystemen hinüberschicken – aber die sind für Russland im europäischen Teil des Landes objektiv nützlicher. Strategische Raketensysteme in Amerika zu stationieren, ergibt erst recht nicht viel Sinn."

Kramnik teilt diese Sichtweise: "Leider hat Russland nur sehr wenige Möglichkeiten, eine langfristige Präsenz – etwa in Venezuela – sicherzustellen. Das hat mehr mit unseren militärischen Fähigkeiten zu tun als mit den Kosten. Sicher: wir könnten eine Handvoll Schiffe mit Zirkon-Hyperschall-Marschflugkörpern hinüberschicken – aber nur als einmalige Aktion. Wir haben einfach nicht genug Ressourcen, um dort eine ständige Präsenz aufrechtzuerhalten."

Die Experten sind sich dennoch einig, dass eine Stationierung russischer Kurz- und Mittelstreckenraketen in Lateinamerika – ob boden-, luft- oder seegestützt – die vielversprechendste Lösung sein könne, falls die USA und Russland keine Einigung in Sicherheitsfragen erzielen. Stefanowitsch zufolge könnte Russland dort beispielsweise eine bodengestützte Modifikation des Kalibr-Lenkwaffensystems für Mittelstreckenziele dislozieren.

Wassili Kaschin, Leiter des Zentrums für umfassende europäische und internationale Studien an der russischen Nationalen Forschungsuniversität Higher School of Economics, merkte an, dass diese Raketen auf dieselelektrischen U-Booten oder küstengängigen Schiffen nach Lateinamerika gelangen könnten:

"Diese könnten aus eigener Kraft das Land ansteuern oder von Schleppern dorthin bugsiert werden. So könnten wir die US-Amerikaner auf Trab halten und sie zwingen, zusätzliche Ressourcen aufzuwenden. Es gibt noch ein zweites Szenario – regelmäßige Besuche unserer Stützpunkte für strategischen Bomber in dieser Region."

Auch nach Chodarjonoks Ansicht könnten Kuba und Venezuela hypothetisch Raketensysteme (Iskander-M) beherbergen – oder alternativ Einheiten der taktischen Langstrecken-Flotte der russischen Luftwaffe; Havanna könnte auch als Marinestützpunkt für Überwasserschiffe und verschiedene Arten von U-Booten dienen. Einzig die Kosten beider Alternativen, vor allem aber der zweiten Möglichkeit, rät der Oberst im Ruhestand sorgfältig zu bedenken: 

"All dies würde jedoch einen enormen finanziellen und materiellen Aufwand erfordern. Die Landung von zwei Tupolew Tu-160-Bombern auf einem der venezolanischen Flugplätze erscheint mehr oder weniger realistisch. Die dauerhafte Stationierung einer Einheit der Langstreckenbomber wäre jedoch ein schwieriges Unterfangen. Dazu müssten wir zusätzliche Rollbahnen anlegen, mehrere Dutzend Standplätze für die Bomber bauen und Lagerinfrastruktur für Munition und Treibstoff schaffen."

"Nebenkosten" und letztlich Unmöglichkeit der Pacht vollwertiger Stützpunkte

Welche Variante der permanenten Stationierung auch gewählt werden würde: Moskau müsste sich dann auch mit einer Reihe weiterer Probleme befassen, insbesondere in Bezug auf die Sicherheit. Stefanowitsch erläutert dazu: "Angenommen, wir machen es – dann aber stellt sich die Frage: Wie können wir einen angemessenen Schutz dieser Systeme gewährleisten? Sie würden Deckung sowohl Richtung See als auch gegenüber Gefährdung aus der Luft benötigen. Das würde uns hinsichtlich aller Arten von Ressourcen überfordern: Personal, Ausrüstung, Geld. Und vor allem wäre die Operation extrem anfällig für äußere Störfaktoren. Der Flugplatz Hmeimim in Syrien etwa kann im Falle eines ernsthaften Konflikts, etwa mit der NATO oder der Türkei, verwundbar sein, obwohl Russland dort seit Jahren militärische Infrastruktur aufbaut, Luftabwehrsysteme unterhält und Raketensysteme an der Küste stationiert hat. Die Basis bleibt dennoch verwundbar. Was würde passieren, wenn wir das Gleiche jenseits eines Ozeans versuchen würden? Es wäre viel komplizierter."

Stefanowitsch erinnert daran, dass selbst die für die UdSSR politisch äußerst erfolgreiche Operation Anadyr in Kuba militärisch gesehen kaum als voller Erfolg gewertet werden kann: Schon damals flog der Plan auf, bevor das geplante Aufgebot an Nuklearwaffen auf die Insel gebracht werden konnte. Bei heutigem Stand der Aufklärungstechnik wäre ein verdeckter Seetransport wie im Jahre 1962 bei der Operation Anadyr kaum mehr durchführbar, äußerst gefährlich und würde das Risiko weiterer Eskalation in sich bergen. Auch der Zustand der russischen Marine mit vier Kriegsflotten einschließlich der Handelsflotte in ihrer schmalen Aufstellung lässt vermuten, dass sie an der Landung gehindert werden können, und könnte zudem neben der anfänglichen Stationierung auch die aufwändige Versorgung der stationierten Kräfte kaum gewährleisten.

Hiervon ausgehend befürwortet zum Beispiel Ilja Kramnik die in Diskussion befindliche Überholung der gesamten russischen Marine in beiden Zweigen (im Falle der Kriegsmarine wohl vor allem der Überwasser-Flotte) – doch seine Meinung teilen bei weitem nicht alle, zumal dies Jahrzehnte in Anspruch nehmen werde, während jetzt Handlungsbedarf besteht. Auch wären die wiederkehrenden ebenso wie die Einmalkosten der zweiten Option – eines permanenten Luftwaffen-, versorgungsbedingt aber (auch) zwingend eines Marinestützpunktes – enorm. Oberst a. D. Chodarjonok erinnert, dass in Lateinamerika entsprechende Infrastruktur fehlt, sie müsste erst aufgebaut und der Stützpunkt errichtet werden; auch müsste alles an Versorgungsmaterial für den anschließenden Betrieb von Russland dorthin verschifft werden: "Das allein würde einen solchen Einsatz äußerst kostspielig machen."

Auf die ebenfalls wiederkehrenden Kosten der Stützpunktpacht wurde bereits oben mit dem Beispiel der Abhörstation in Lourdes hingewiesen.

Dass die USA und nach Kräften auch der Rest des kollektiven Westens den wirtschaftlichen Druck auf jegliches Land in Lateinamerika drastisch erhöhen würden, welches russische Raketen – ob mit Nuklearwaffen oder konventionellen Sprengköpfen – permanent bei sich aufnehmen würde, ist beim besten Willen seitens Kubas oder Venezuelas ein weiteres Wagnis. Stefanowitsch brachte es sarkastisch auf den Punkt: "Es ist wirklich schwer, die Krise in Kuba und Venezuela noch schlimmer zu machen, als sie ohnehin schon ist, doch die US-Amerikaner würden es schaffen, wenn sie es wollten."

Statt ständiger Stationierung: Ständige Präsenz auf Diesel-U-Booten

Chodarjonok meint, dass im Jahre 1962 die Raketenstationierung auf Kuba sowohl aus operativer wie auch strategischer Sicht sinnvoll war: Damals hatte die UdSSR einfach nicht genug Interkontinentalraketen in ihrem Arsenal. Im Jahr 2022 jedoch sei eine permanente Stationierung russischer Streitkräfte in Lateinamerika weder militärisch noch politisch sinnvoll, so der Oberst: "Damals stationierte die Sowjetunion R-12-Raketen mit einer Reichweite von etwa 2.000 km auf Kuba. Das war aus Sicht der Verteidigung durchaus sinnvoll. Aber heute haben alle russischen Atomraketen eine Reichweite von 10.000 km."

Wassili Kaschin betont zudem, dass Russland derzeit zwar weder über eine ausreichend starke Marinepräsenz auf den Weltmeeren noch über die Ressourcen verfügt, um in deren Ausbau zu investieren. Er glaubt jedoch, dass Russland seine Ziele dennoch erreichen kann. Er sieht die Alternative in einer Art höchster Bereitschaft (anstatt permanenter Stationierung) russischer Mittelstreckenraketen in der Region Lateinamerika – intensiver als sie mit Atom-U-Booten kostentechnisch möglich ist.

RT erinnert: So gehören zur Bewaffnung einiger russischer dieselelektrischer U-Boote wie der insgesamt 19 Boote der Projekte 877 und 636 (im Westen unter NATO-Code Kilo oder wegen ihrer nahezu Geräuschlosigkeit schlicht als "schwarze Löcher" bekannt) die Mittelstrecken-Marschflugkörper des Typs "Kalibr". Dank Auslegung für den Einsatz aus 533-Millimeter-Torpedoanlagen steht einer Nachrüstung anderer nichtatomarer U-Boote grundsätzlich nicht viel im Weg. Diese Waffen sind möglicherweise auch mit Nuklearbewaffnung verfügbar (die genaue Nomenklatur dieser Marschflugkörper für das russische Militär unterliegt der Geheimhaltung, doch die Abstammung der "Kalibr" von der nuklear bestückten "Granat" legt dies zumindest nahe); jedenfalls zählen dank ihrer überragenden Genauigkeit die "Kalibr" in der Ausführung für Landziele durchaus zum nichtnuklearen Abschreckungspotenzial Russlands. Diese Waffen stünden bei intensiver Patrouille genannter dieselelektrischer U-Boote (eine größere Anzahl und weitere Typen sind in Planung) entlang der Küsten Nordamerikas in Dauerbereitschaft, mindestens gegen küstennahe Ziele in den USA.

Nach Kaschins Ansicht könnten derartige Patrouillen mit durchaus nur begrenzten Investitionen für die Errichtung logistischer Hilfsstützpunkte in Lateinamerika ermöglicht werden: "Es würde für Russland ausreichen, einen kleinen Stützpunkt zu haben, wie der in Tartus in Syrien einer war, bevor die russischen Truppen im Jahr 2015 dorthin kamen. Es handelte sich lediglich um einen umzäunten Bereich mit einem Pier, mehreren Depots und Lagerhäusern sowie einem Dieselgenerator und mehreren technischen Spezialisten vor Ort. Der Umkreis wurde vom heimischen Militär bewacht. Und ein ähnlicher, aber etwas anspruchsvollerer Stützpunkt könnte nun auf Kuba oder in Venezuela eingerichtet werden, so dass sich die russischen dieselelektrischen U-Boote dort mit Treibstoff und Vorräten eindecken und die Besatzungsmitglieder sich ausruhen könnten. Dann wären sie in der Lage, ihren Einsatz über einen längeren Zeitraum hinweg fortzusetzen."

Laut Kaschin würde bereits die russische Flagge den möglichen Standorten in Kuba und Venezuela im Wesentlichen das nötige Mindestmaß an Sicherheit garantieren – viel mehr würde auch gar nicht viel mehr helfen: 

"Ein Angriff auf eine russische Militärbasis könnte die Situation so weit eskalieren lassen, dass sie nicht mehr eingedämmt werden kann. Die Verteidigung könnte verstärkt werden, um sicherzustellen, dass diese Stützpunkte nicht von diversen Stellvertretergruppen zerstört werden. Ein paar Mann Wachpersonal und etwas Luftabwehr würden ausreichen. Aber machen wir uns nichts vor: Wenn der Gegner beschließt, diese Basis zu zerstören, wird er es tun. Die Frage ist nur: Würden sie es wagen, eine Atommacht zu provozieren?"

Kopfschmerzen und Finanzaufwand für die USA

Auch ohne die USA im demselben Maße zu bedrohen, wie diese  Russland mittels ihrer Anlagen der "Raketenabwehr" (sprich: Startrampen für Tomahawk-Marschflugkörper) in Osteuropa bedrohen, würde Russland sie mit den skizzierten Schritten dennoch hohem Druck aussetzen. Kaschin rechnet damit, dass die USA in einem solchen Fall viele Ressourcen allein schon für die Überwachung der russischen Aktivitäten aufwenden müssten – sei es mittels ihrer Atom-U-Boote, großer Überwasserschiffe oder der kleineren Schiffe zur küstennahen Gefechtsführung (aktuell vertreten von zwei Schiffsklassen Freedom und Independence des LCS-Typs). Selbst die letztgenannte Option würde enorme Summen für die Wartung bedeuten – ganz abgesehen davon, dass sich diese 3.000-Tonnen-Schiffe gegen die leisen dieselelektrischen russischen U-Boote als völlig unwirksam erweisen könnten. Der Experte argumentiert:

"Russlands Ziel ist nicht, für die USA eine ähnliche Bedrohung zu schaffen, wie diese sie für Russland in Europa geschaffen haben. Dafür sind Moskaus Ressourcen zu begrenzt, also wäre dies unmöglich. Russland versucht vielmehr, die USA unter Druck zu setzen, sie zu höheren Ausgaben zu zwingen und dabei die militärische Bedrohung zu verringern, die die USA für Russlands Partner in der Region darstellen – während es gleichzeitig die Streitkräfte dieser Partner ausbildet. Dies würde es für die USA genug Unannehmlichkeiten bereiten, um eine weitere Verschärfung der Situation doch besser zu überdenken."

Stefanowitsch nennt als mögliche, für Russland negative Folge einer Militärpräsenz in Südamerika eine mögliche Erhöhung des Drucks seitens der USA auf ihre europäischen Partner in der NATO – damit diese sich aktiver an den Bemühungen beteiligen sollen. Doch selbst eine solche Reaktion würde für die USA Aufwand bedeuten:

"Offenkundig müssten die USA noch viel Überzeugungsarbeit leisten, um ihre Verbündeten dazu zu bringen, sich gegen Russland zu stellen. Schließlich sind auch dort noch vernünftige Menschen, die erkennen, dass sie als Schachfiguren benutzt werden, um einen großen Gegner der Vereinigten Staaten abzuschrecken."

Im Klartext müssten die USA ihren Verbündeten dann dafür etwas bieten, im Idealfall etwas Materielles: Militärische wie wirtschaftliche Eindämmungsversuche bedeuten für die europäischen NATO-Staaten auf jeden Fall finanzielle Verluste, die kompensiert werden müssten. Dies wiederum könnte für die USA selbst einen hohen Finanzaufwand bedeuten.

Mehr zum Thema – Russland macht ernst – und führt nach Punkten

Es ist unklar, ob Moskau bereit ist, so viel in die Verfolgung seiner Ziele in der US-Interessensphäre einzusetzen – selbst wenn man die großen Hindernisse und Störfaktoren bedenkt, die sich daraus für Washington ergeben könnten. Denn sollte sich Russland erneut für die Taktik des Kalten Krieges (einschließlich solcher Gegeneskalation im Stil der Kuba-Krise) entscheiden, wird es sich unweigerlich all den Herausforderungen stellen müssen, vor denen die Experten warnen: Die wären ein Wiederaufflammen des Ukraine-Konflikts, ein noch gefährlicheres Patt auf der internationalen Bühne und nicht zuletzt die Handelskriege. Und in Moskau muss man darüber nachdenken und entscheiden, ob sich das wirklich lohnt oder nicht.

Wladimir Kulagin ist ein russischer Journalist mit den Schwerpunkten internationale Sicherheit, chinesische Politik und Soft-Power-Instrumente.

Übersetzt aus dem Englischen. 

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