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Marktfetischismus in der Energieversorgung: Auf Europa wartet der "perfekte Sturm"

Die Gaspreise auf Europas Markt sind gerade so hoch, dass sogar Flüssiggastanker aus den USA Kurs zu Häfen hier statt in Asien eingelegt haben. Damit steigen die Energiepreise, droht die Inflation – was den größten Marktfetischisten Europas, Großbritannien, als erstes treffen wird.
Marktfetischismus in der Energieversorgung: Auf Europa wartet der "perfekte Sturm"Quelle: Gettyimages.ru © bagi1998

Kommentar von Dmitri Lekuch

Die Volatilität auf den europäischen Gasmärkten in den letzten Tagen des Jahres sieht so verblüffend aus, vor allem für einen außenstehenden Beobachter, dass man sich die einfache Frage stellen könnte, was das alles soll und wer, mit Verlaub, von dieser Unart profitiert.

Zwar zeichnen sich die Antworten auf diese Fragen im Prinzip langsam ab. Doch ich fürchte, der Inhalt dieser Antworten wird – kann – niemandem gefallen.

Aber das Wichtigste zuerst.

Am vergangenen Freitag, dem 24. Dezember, sank der Preis für Gas-Futures laut der Londoner Börse ICE erneut auf unter 1.200 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter, obwohl er noch am 21. Dezember gerade erst das Rekordhoch von 2.200 US-Dollar durchbrochen hatte. Und dann sprach auch schon jemand von einer Erwärmung: In Berlin zum Beispiel werden für Silvester Temperaturen von +12 bis +15 °С erwartet – für den Winter, gelinde gesagt, durchaus angenehm.

Dann hat jemand "eine ganze Flottille von LNG-Tankern" bemerkt, die eiligst neuen Kurs eingelegt hatten, um dem im Griff des russischen "totalitären" Erdgases festgefrorenen Europa auszuhelfen: Laut der Nachrichtenagentur Bloomberg sind 15 Tanker mit US-amerikanischem LNG, angelockt von den überhohen Preisen an der Londoner Börse und dem niederländischen TTF-Hub, die fast 2.200 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter erreichten, tatsächlich auf dem Weg in die Alte Welt. Nach denselben Bloomberg-Daten gehen jeweils vier davon nach Großbritannien, Frankreich und Spanien und je einer in die Niederlande, nach Gibraltar und Malta. Und es wird sehr aufschlussreich sein, sowohl ihr Schicksal als auch ihre nächsten möglichen Routenänderungen zu verfolgen. Und ziemlich amüsant.

Denn die Sache ist nicht einmal, dass Tanker mit Flüssigerdgas manchmal mehrmals pro Fahrt die Richtung wechseln, denn solche Fälle sind nicht unbekannt und auch nicht gerade außergewöhnlich. Auch sind momentan die Preise auf den südostasiatischen Premium-Märkten tatsächlich etwas gesunken, weil China die derzeitige heiße Phase der Energiekrise überwunden zu haben scheint (in erster Linie aufgrund einer Zunahme des heimischen Angebots an "schmutziger" Heizkohle, aber das wird allenfalls Greta Thunberg und die deutschen Grünen unter der Führung von Annalena Baerbock beunruhigen). Dies und der starke Anstieg der Preise für den gasigen Kraftstoff in Europa ließ wohl die europäischen Märkte für die "Schiefergaspiraten" aus Übersee für eine Zeit lang wieder attraktiv erscheinen.

Das Problem hier ist ein anderes.

Die Preise der Gas-Futures an der Londoner ICE-Börse, an denen sich diese "Schiefergaspiraten" orientieren, sind nämlich rein spekulativ und existieren fast schon rein  auf dem Papier. Echte kontinentale (insbesondere große) Käufer schauen nicht besonders aufmerksam darauf. Und nur ein relativ kleiner Teil des Gases, das auf die europäischen Märkte gelangt, wird tatsächlich zu einem solchen (oder zumindest zu einem nahe daran liegenden) Spekulationspreis verkauft.

Versuchen wir, das zu erklären.

Obwohl es schwierig wäre, die real existierenden Voraussetzungen für die Erdgaskrise auf den Märkten der Alten Welt zu leugnen – hier haben wir die Verringerung der eigenen Produktion und den Abfluss von LNG auf die südostasiatischen Märkte, und die seltsamen Manöver rund um die Nord-Stream-2-Pipeline, die vor nicht allzu langer Zeit durch heldenhafte gemeinsame Anstrengungen fertiggestellt wurde – also, all dem zum Trotz hängt die aktuelle Krise in ihrem katastrophalen Szenario dennoch auch mit einigen anderen Faktoren zusammen.

Und es erinnert zu sehr, geradezu schmerzlich, an die Geschichte der noch gar nicht so lange zurückliegenden und viel globaleren Ölkrise, als genau dieselbe Preisrallye den Ölpreis erst tief in die roten Zahlen trieb – und dann wieder in schier unvorstellbare Höhen.

Und dieser Krise Herr zu werden, erinnern wir an dieser Stelle, gelang es nur durch die gemeinsamen Bemühungen der vorherigen US-Regierung und Donald Trumps persönlich sowie der führenden Politiker Russlands und des Königreichs Saudi-Arabien. Und dazu bedurfte es einer harten Politik der OPEC+-Staaten – und selbst diese schlug nicht sofort ein, und auch nicht ohne Schwierigkeiten. Gleichzeitig gibt es auf den Gasmärkten keine Entsprechung zur OPEC+, leider.

Auch waren die Nutznießer jener Preisrallye auf den Erdölmärkten recht gut bekannt, und es handelte sich keineswegs um Produzenten oder Verbraucher von Öl und Ölprodukten. Mehr noch: Daran war nicht einmal COVID-19 in besonderem Maße beteiligt. Ja, der durch die Pandemie verursachte Mangel an echter Nachfrage, z. B. auf dem Flugtreibstoffmarkt, hat den Weg aus der Krise sicherlich erschwert. Doch was die Welt in die Krise stürzte, war keineswegs der verfluchte Virus.

Nein. Dies war die klassische Überproduktionskrise, wie sie in Dutzenden von Lehrbüchern beschrieben wird, verursacht durch dysfunktionale "Markt"-Kontrollmechanismen – bezüglich sowohl der Produktion als auch der Preisbildung: An den New Yorker Börsen füllte die vielgerühmte "unsichtbare Hand des Marktes, die alles regelt", anstatt diese Funktionen zu erfüllen, fröhlich die Taschen der Nutznießer dieser "Regulierung" – durch reine Spekulation.

Grund der Krise: "Langzeitverträge nein! Börsenfieber ja!"

Und nun können wir auf den europäischen Erdgasmärkten genau das Gleiche beobachten – nur ist jetzt, wie es im Russischen heißt, der Schornstein nicht ganz so hoch und der Rauch nicht ganz so dicht. Das Szenario selbst hingegen ist sehr ähnlich und beginnt ebenfalls mit einer falschen Markteinschätzung. Nur haben wir statt Überproduktion Energieknappheit und statt New Yorker Börsen die in London. Aber sonst ist alles gleich, auch die beispiellose Gier der Börsianer, die nicht in der Lage sind, mindestens einen Schritt vorauszukalkulieren (in der Spalte "Gesamt")  und die Preissteigerung so weit wie es nur geht anfachen.

Kurzum, das Gleiche in Grün.

Und mit ungefähr demselben Ergebnis, versteht sich. Nur, betonen wir noch einmal, ohne eine träge, aber funktionierende Institution einer theoretischen "OPEC" der Erdgasmärkte, die übrigens von russischer Seite schon vor langer Zeit vorgeschlagen wurde und unter anderem solche Situationen auf den Märkten verhindern sollte.

Und jetzt ist es zu spät, so unsere Befürchtung.

Wie der berüchtigte erste und letzte Präsident der Sowjetunion sagte, "der Prozess ist losgegangen".

Karma ist Gas

Es entbehrt übrigens nicht einer gewissen Ironie, dass gerade die Staaten, die sich am aktivsten für "fortschrittliche Marktmechanismen" einsetzten, auch als erste von der einsetzenden systemischen Wirtschaftskrise getroffen wurden – und die dementsprechend keine langfristigen Verträge mit dem russischen Gazprom-Konzern hatten, der heute zu einem echten "Sicherheitspolster" für Serbien, Ungarn und Deutschland geworden ist. Und wir sprechen nicht einmal von denjenigen, die in richtigen Schwierigkeiten stecken – von der Ukraine etwa, die sich aber an alles gewöhnt hat und wahrscheinlich durch nichts mehr zu überraschen ist. Denn die ganze Ironie dabei besteht darin, dass die Krise zuerst mit voller Schmackes in den Energiesektor ausgerechnet Großbritanniens einschlug – ja, Großbritanniens, dessen Akteure sich immer noch für ein vollständiges Verbot langfristiger Gasverträge und Ölpreisformeln zugunsten einer börsenbasierten Preisbildung einsetzen. Und auf dessen Initiative hin dieser ganze Unsinn im europäischen Energiesektor de facto begann.

Urteilen Sie selbst. Die britische The Times berichtete, dass die britische Regierung am 27. Dezember dringende Gespräche mit den Chefs der lokalen Energieunternehmen führen sollte.

Den Anstoß für diese Gespräche gaben besagte Unternehmen selbst – das ist angesichts der aktuellen Lage besonders pikant. Dies ist nicht einmal mehr ein politisches Thema. Das Problem ist ganz einfach, und es gibt niemanden, der hier etwas zu verbergen hat: Mindestens zwei für das Energiewesen der Insulaner systembildende britische Unternehmen EDF und Good Energy, sowie der Verband Energy UK (und das sagt alles über den absoluten Ernst der Lage – es gilt, dass dieser Verband 80 Prozent der britischen Stromproduktion kontrolliert), haben die Regierungsbehörden aufgefordert, die notwendigen Maßnahmen "wegen der Gaspreiserhöhung" zu ergreifen. Natürlich gaben sie den Russen die Schuld, aber das ist nicht mehr wichtig und interessiert niemanden, auch nicht die Briten selbst.

Und dementsprechend ist es auch für uns nicht von Nutzen.

Uns interessiert der Gegenstand der "Zukunftsvereinbarungen" – im Allgemeinen steht er jetzt schon fest, im Großen und Ganzen verbirgt ihn niemand.

Inflation trotz Aussetzen der Steuern und Senken der Umweltabgaben

Und wenn wir sagen "interessiert", meinen wir das streng ironisch, denn wie die Zeitung The Times den Untertanen Ihrer Majestät mitteilt, hat man sich im Grunde schon über alles geeinigt: Der Minister für Wirtschaft, Energie und Industrie, Kwasi Kwarteng, soll bereits Einzelgespräche mit den Leitern der Unternehmen geführt haben. Und es ist bekannt, dass die Vertreter der Industrie von der Regierung auch drastische Steuersenkungen (Nachteil für Einnahmen ins Staatsbudget) und niedrigere Umweltabgaben fordern werden, um eine "echte Krisensituation" zu vermeiden. Und Beobachter haben kaum Zweifel daran, dass sie bekommen werden, was sie wollen: Die "Situation" selbst ist nämlich äußerst ernst. Für den "freien, alles regelnden Markt" und anderes liberales Gesülze hat man dort gerade keine Muße mehr.

Dabei ist schon jetzt klar, dass selbst diese Notmaßnahmen dem realen Sektor der britischen Wirtschaft in der gegenwärtigen Phase der Krise kaum helfen werden: Die Kluften sind zu groß. Selbst ein weitaus moderaterer Anstieg der Energiepreise wird unweigerlich zu einem Preisanstieg in anderen realen Wirtschaftssektoren führen – in der Industrie, im Verkehrswesen und letztlich auch in den Regalen.

Nein, zur Katastrophe führt das zweifelsohne – noch – nicht.

Doch die Ereignisse entwickeln sich bereits jetzt so, dass das aktuelle Szenario seine eigene innere Logik und Eigendynamik zu entwickeln beginnt. Infolgedessen wird es zunehmend unbeherrschbar und unkontrollierbar. Es ist nicht abzusehen, wann es einen Punkt erreichen, ab dem es kein Zurück mehr gibt – dass es einen solchen Punkt gibt, ist schwer zu leugnen. Und jenseits dieses Punktes könnte der vielbefürchtete "perfekte Sturm der Wirtschaft" warten.

Übersetzt aus dem Russischen

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Dmitri Lekuch ist ein russischer Unternehmer (Werbeindustrie), Prosaautor, Publizist und Journalist sowie politischer Beobachter bei RIA Nowosti. Er erforscht zudem das Phänomen der osteuropäischen Fußballfan- und Hooliganbewegungen.

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