Deutschland

Hartz IV: Ifo-Ökonomen wollen Aufstockern Geld kürzen

Der Niedriglohnsektor in Deutschland boomt, über eine Million Betroffene müssen mit Hartz IV aufstocken. Ökonomen vom Ifo-Institut wollen Betroffene nun angeblich aus dieser "Falle" befreien – mit drastischen Einschnitten, die sie noch ärmer machen. Die Union zieht mit.
Hartz IV: Ifo-Ökonomen wollen Aufstockern Geld kürzenQuelle: www.globallookpress.com

von Susan Bonath 

Hartz IV ist weit mehr als ein Verarmungsprogramm für wenige. Es kurbelt den Niedriglohnsektor an, drückt die Gehälter, schürt Angst und schränkt die Verhandlungsposition Beschäftigter massiv ein. Die einstige Hartz-IV-Mitarchitektin SPD weiß das, denn genau dies sollte Deutschland den heute erlebbaren Marktvorteil gegenüber europäischen Nachbarstaaten bescheren. Doch während führende Sozialdemokraten nun mit allerlei Reformvorschlägen in Sachen Hartz IV zurückrudern, planen das Münchner Ifo-Institut und die Unionsparteien CDU und CSU bereits neue Kürzungen, getarnt als vermeintliche Wohltaten. 

Affront gegen aufstockende Niedriglöhner 

Treffen soll es diesmal die mehr als eine Million Aufstocker unter den rund vier Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Beziehern. Sie stecken meist in prekären Arbeitsverhältnissen. Davon gibt es reichlich: Laut Bundesagentur für Arbeit (BA) schuften in Deutschland gut eine Million Leiharbeiter für wenig Geld. Über sieben Millionen Frauen und zwei Millionen Männer arbeiten in Teilzeit und 7,6 Millionen Menschen in Minijobs – Tendenz steigend. In Westdeutschland schuftet zudem jeder Fünfte, im Osten sogar jeder Dritte für Mindestlohn oder nur wenig mehr. 

Wer zusätzlich Hartz IV beziehen muss, um über die Runden zu kommen, soll dem Ifo-Vorschlag zufolge bald noch weniger in der Tasche haben. Dabei klingt der Titel des zugrunde liegenden Papiers, "Raus aus der Niedriglohnfalle", zunächst so progressiv, wie das Versprechen der Ökonomen, den Freibetrag, also den Einkommensanteil, der nicht auf Hartz IV angerechnet wird, von 20 auf 40 Prozent anzuheben. Tatsächlich versteckt sich dahinter ein drastisches Sozialkürzungsprogramm. 

Denn diese höheren Freibeträge soll es erst auf Erwerbseinkommen geben, das 630 Euro netto übersteigt. Für Löhne unterhalb dieser Grenze wollen die Ökonomen jede Vergünstigung streichen. Lediglich für Familien mit kleinen Kindern müsse es Ausnahmen geben, erklärte Ifo-Präsident Clemens Fuest am Montag in Berlin. Sein erklärtes Ziel: Die Aufstocker sollen sich darum bemühen, mehr und länger zu arbeiten. Zu viele richteten sich angeblich mit Mini- und Teilzeitjobs im Hartz-IV-System ein, meinte er. 

Rigides Sozialkürzungsprogramm 

Konkret sieht das so aus: Derzeit können Menschen mit niedrigen Einkommen aus Lohnarbeit oder selbständiger Tätigkeit zusätzlich Hartz IV beantragen. Die ersten verdienten 100 Euro gelten als Grundfreibetrag. Vom restlichen Einkommen bis 1.000 Euro bleiben 20, darüber hinaus noch zehn Prozent anrechnungsfrei. So hat jemand, der arbeitet, am Ende immer mehr in der Tasche, als jemand ohne Job. Das wollen die Ifo-Forscher ändern. 

Ein Beispiel: Eine alleinstehende Frau arbeitet im Minijob für 450 Euro monatlich als Reinigungskraft. Das Jobcenter zieht ihr aber nur 280 Euro Einkommen vom Leistungsanspruch ab. Sie kann also 100 Euro Grundfreibetrag und 70 Euro vom restlichen Lohn behalten. Damit hat sie 170 Euro mehr, als wenn sie nur von Hartz IV leben müsste. Nach den Ifo-Vorschlägen bekäme sie gar keinen Freibetrag mehr, weil ihr Einkommen geringer als 630 Euro ist. Ihr Minijob würde sich für sie finanziell nicht mehr lohnen. 

Ein weiteres Beispiel zeigt, dass die Ökonomen auch Menschen mit höheren Einkommen ans Portemonnaie wollen: Ein alleinstehender Hausmeister verdient monatlich 1.000 Euro netto. Zahlt er eine Warmmiete von 400 Euro und liegt diese unter der regionalen Obergrenze, hätte er ohne Job einen Leistungsanspruch von 824 Euro. Trotzdem kann er dank des ihm zustehenden Freibetrags von 280 Euro zusätzlich Hartz IV beantragen. Weil ihm nur 720 Euro Einkommen angerechnet würden, bekäme er noch 104 Euro vom Amt dazu. Mit den Ifo-Vorschlägen fiele dieser Anspruch weg. Sein Freibetrag – 40 Prozent von 370 Euro – würde um fast die Hälfte auf 148 Euro schrumpfen, der Anrechnungsbetrag damit auf 852 Euro steigen. 

In der Praxis ist also mit folgendem zu rechnen: Jeder Hartz-IV-Aufstocker, der nicht gerade Kinder betreut – und diese wachsen bekanntlich schnell, während der prekäre Arbeitsmarkt weiter existiert – würde seine bisherigen Zuschüsse ganz oder teilweise einbüßen. In Wahrheit geht es also um weitere drastische Einschnitte bei den Sozialleistungen für einen Teil der ärmsten Bevölkerungsschichten.

Ifo-Präsident sieht Hartz-IV-Aufstocker als potentielle Betrüger 

Doch das sagte Ifo-Präsident Fuest bei der Pressekonferenz am Montag freilich nicht. Das heutige Kernproblem im Hartz-IV-System sei, erklärte er, "dass es hohe Anreize gibt, ganz kleine Jobs aufzunehmen". Angeblich habe nicht mehr netto in der Tasche, wer mehr arbeite. Dass dies dank der sich mit dem Einkommen erhöhenden Freibeträge nicht stimmt, passt nicht in seine Propaganda. Nur eine seiner Aussagen traf einen Teil des Kerns: 

Wir wollen eine Reform, ohne mehr Steuergeld auszugeben.

Noch tiefer in die Propaganda-Kiste griff der Leiter des Ifo-Zentrums für Makroökonomik, Andreas Peichl. Makroökonomie ist die von Vulgärökonomen zur Wissenschaft erklärte Lehre vom "Verhalten" der Märkte. Man wolle Familien mit Kindern besser stellen, fabulierte er. Und: Bei solchen Programmen gebe es eben "immer Verlierer und Gewinner". Darüber hinaus hätten ihm Jobcenter-Insider gesteckt, Mini- und Teilzeitjobs seien in Wahrheit "oft Tarnkappenjobs, die Schwarzarbeit verschleiern sollen". Auch dagegen wolle sein Institut, das gern und oft die Bundesregierung berät, vorgehen. 

Pseudo-Mathematik und Armenbashing 

Zudem "glänzte" Peichl mit einer eigentümlichen Rechenleistung: Die 630-Euro-Grenze sei doch gar nicht so hoch, diese Summe entspräche gerade einmal "zwei Tagen Vollzeitarbeit zum Mindestlohn", raunte der Makroökonom ins Mikrofon. Wie er darauf kam, bleibt sein Geheimnis, denn nach Adam Riese ergeben 16 Stunden Arbeit für 9,19 Euro einen Bruttolohn von gut 147 Euro. 

Ifo-Sprecher Harald Schultz klärte die Ungereimtheit auf Anfrage der Autorin auch nicht auf. Er übermittelte nur eine ellenlange Rechenaufgabe, anstatt den Fehler Peichls einzuräumen und mitzuteilen, dass der Chefökonom – mutmaßlich – mit einem Monatslohn für zwei Tage Vollzeitarbeit pro Woche gerechnet hatte. 

Fuest und Peichl, die, neben Maximilian Blömer, für das Ifo-Vorschlagspapier verantwortlich zeichnen, punkten darin mit weiterer Demagogie. So erklärten sie entgegen jeder Realität: Diese Reform, "die zu mehr Beschäftigung und höheren verfügbaren Einkommen unter den Empfängern von Hartz-IV-Leistungen führt, würde die Einkommensungleichheit in Deutschland verringern". In einem Nebensatz kommen sie ihrem eigentlichen Ansinnen doch näher: Man wolle damit "die gesamtwirtschaftliche Produktion steigern", und dafür seien die Reformvorschläge "effizient und gerecht". 

An anderer Stelle griffen die Ökonomen in eine bekannte Trickkiste der Herrschenden: Sie verglichen Armut in Deutschland mit jener in einem Slum in Kenia oder Indien. Man könne "natürlich über die angemessene Höhe der Leistungen streiten", so die hoch bezahlten Forscher. Doch befinde man sich immer noch im Bereich der relativen Armut, was ein gravierender Unterschied zur absoluten Armut sei. Wörtlich führen sie aus:

Mit den Hartz-IV-Leistungen liegt man deutlich über jeder üblichen absoluten Armutsgrenze von 1,90 US-Dollar pro Tag.

Union, FDP und AfD wollen Sanktionssystem erhalten 

Mit ihren Vorschlägen reagierten die Ifo-Experten auf die laufende Hartz-IV-Debatte. Die SPD, die ihre verlorenen Wähler zurückerobern will, versprach zuletzt eine Abkehr von diesem System. Sie will unter anderem Hartz IV in "Bürgergeld" umbenennen, die härtesten Sanktionen auf die Wohnkosten aussetzen und die Vermögensfreibeträge von derzeit 150 Euro pro Lebensjahr erhöhen. Hinzu kommt: Am 15. Januar verhandelte das Bundesverfassungsgericht über die Sanktionspraxis. Dessen Entscheidung wird demnächst erwartet. Der Erwerbslosenverein Tacheles und andere gehen von einer Entschärfung der Regeln aus. 

CDU und CSU sind hingegen den Ifo-Vorschlägen zugetan. Kai Whittaker, CDU-Arbeitsmarktpolitiker im Bundestag, preschte Anfang dieser Woche mit einem eigenen "Fünf-Punkte-Plan" vor, der in eine ähnliche Richtung geht. Danach soll es Freibeträge für Erwerbseinkommen oberhalb von 200 Euro geben. Mietbeihilfen und Zusatzleistungen für Kranke und Schwangere will er pauschalisieren. Auch schwarze Pädagogik für Erwachsene enthält sein Konzept: Jobcenter sollen nach seinem Willen unter 40-jährige künftig unter Androhung von Sanktionen zu neuen Berufsausbildungen zwingen können. 

Der 33-jährige Jungpolitiker Whittaker punktete in der Vergangenheit nicht sonderlich mit Fachwissen über Hartz IV. So behauptete er in einer Debatte 2018 im Bundestag, lediglich ein Prozent der erwachsenen Leistungsbezieher sei von Sanktionen betroffen. Vertreter der Linkspartei verbesserten ihn. Es seien in Wahrheit drei Prozent. Doch auch dies ist lediglich ein Durchschnittswert – der übrigens inzwischen auf 3,3 Prozent angestiegen ist – der Sanktionierten pro Monat. 

Tatsächlich war 2017 fast jeder zehnte Hartz-IV-Berechtigte von solch einer Hungerstrafe betroffen. Dies ist der BA-Statistik auch zu entnehmen. Danach entfielen gut 950.000 Sanktionen auf rund 420.000 Jugendliche und Erwachsene ab 15 Jahren, was 2,3 Sanktionen und sieben Monaten Leistungsentzug pro Kopf entspricht. 

Die Unionsparteien wollen nicht von dieser Praxis abweichen. Ebenso hatten die FDP und die AfD in der Vergangenheit immer wieder für ein "Weiter so" beim Bestrafen von Betroffenen plädiert, die einen Termin versäumen, nicht die vorgeschriebene Anzahl von Bewerbungen nachweisen, ein Jobangebot ablehnen oder eine Maßnahme abbrechen.

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