Deutschland

Arme Heimat - alles andere als gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland

Am Mittwoch debattierte der Bundestag über die "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse". Dieser im Koalitionsvertrag verankerte Anspruch bringt eine Reihe unterschiedlicher, teils widersprüchlicher Forderungen mit sich. Kritik musste vor allem die Große Koalition einstecken.
Arme Heimat - alles andere als gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland Quelle: AFP

Dass Millionen von Menschen im reichen Deutschland von Armut betroffen sind, darauf machte in der vergangenen Wochen unter anderem der Bericht der Nationalen Armutskonferenz (NAK) aufmerksam.

Und die Armutsgefährdung ist in Deutschland regional sehr unterschiedlich verteilt. So war Bremerhaven im vergangenen Jahr deutschlandweit mit 28,4 Prozent die Region mit der höchsten Armutsgefährdungsquote, gefolgt von Emscher-Lippe in Nordrhein-Westfalen mit 24,6 Prozent und der Altmark in Sachsen-Anhalt mit 24 Prozent. München hatte mit 8,5 Prozent die geringste Quote an von Armut gefährdeten Menschen. Auf dem zweiten Platz lag die Region Bodensee-Oberschwaben mit 9,1 Prozent, gefolgt von Schleswig-Holstein Süd mit 9,3 Prozent.

Dies geht aus aktuellen Daten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder zu Armutsgefährdungsquoten nach Raumordnungsregionen hervor.

Arme Heimat

Am Mittwoch nahm sich der Bundestag der ungleichen Lebensverhältnisse im Land an. Bundesinnenminister Horst Seehofer wird dazu im Plenum Pläne für eine neue Strukturpolitik vorstellen, die das Ziel hat, in allen Teilen Deutschlands gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen.

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Seehofer hatte bei der Regierungsbildung darauf bestanden, dass sein Ministerium für alles zuständig sein soll, was unter den Begriff "Heimat" fällt. Die Umsetzung seiner Vorstellungen von besserer Infrastruktur, Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum und Ansiedlung von Industrieunternehmen in "abgehängten Regionen" ist dann aber eine Aufgabe für die gesamte Bundesregierung.

Am 26. September nahm die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ unter dem Vorsitz des Innenministers Seehofer (CSU) sowie dem Co-Vorsitz der Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) und der Familienministerin Franziska Giffey ihre Arbeit auf.

Zum 29. Jubiläum des Mauerfalls am 9. November ging es am Mittwoch auch um die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zwischen Ost und West. Der CDU-Abgeordnete Marian Wendt aus Nordsachsen betonte im Vorhinein der Bundestagsdebatte, die Ostdeutschen dürften nicht das Gefühl bekommen, abgehängt zu werden. Er glaube, "viele Menschen haben ein Problem damit, dass sie gefühlt von Westdeutschen regiert werden".

Dabei ist dieses Phänomen harter Fakt statt "ein Gefühl". Knapp drei Jahrzehnte nach der Einheit gibt es massive Unterschiede, das zeigte der Einheitsbericht der Regierung erst im September.
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Familienministerin Franziska Giffey (SPD) betonte, dass die Ambition gleichwertiger Lebensverhältnisse auch bedeute, dass ungleich behandelt werden müsse, nämlich, dass strukturschwache Regionen mehr Förderung erhalten.

Linda Teuteberg von der FDP hingegen kritisierte die Regierung scharf, weil diese immer mehr vom Gleichen tue und drückte aus, dass das "Weiter so", auch mit neuen Investitionen, nicht zu neuen Ergebnisse führe. Sie verwies darauf, dass es Armut auch in strukturstarken Regionen oder Städten wie München gibt.

Mehr als ein Arbeitskreis mit edlem Büffet?

Der Vorsitzende der Fraktion Die Linke, Dietmar Bartsch, lobte zunächst die Initiative, den Verfassungsauftrag möglichst gleichwertiger Lebensverhältnisse angehen zu wollen. Jedoch sei die Herangehensweise als Regierungsauftrag falsch, allein da in der Kommission nur Regierungsmitglieder vertreten seien. Zumindest jene, die in Regionen und Kommunen verantwortlich sind, müssten in diese Aufgabe miteinbezogen werden. Von den grundlegenden Problemen - der Vernachlässigung der ländlichen Regionen hinsichtlich digitaler Infrastruktur und Verkehrsinfrastruktur sowie mangelnde gesundheitliche Versorgung - seien vor allem die Geringverdiener betroffen. Außerdem sei die Grundlage mehr soziale Gerechtigkeit. Die Regierung solle dafür sorgen, dass die Kommission mehr wird, als ein "Arbeitskreis mit edlem Büffet".

Der Bundestagsabgeordnete Frank Sitta (FDP) betonte, dass in der Bundestagsdebatte der Ehrlichkeit halber auch erwähnt werden müsse, dass es bei einer Diskussion um gleichwertige Lebensverhältnisse auch um die bestehenden Differenzen zwischen Ost und West gehen muss. Außerdem blieben viele ländliche Räume auch durch den mangelhaften Netzausbau zurück.

Ministerin Klöckner betonte, dass die Ausstattung mit einem funktionierenden Internet eine Voraussetzung für Entwicklungsmöglichkeiten in ländlichen Regionen sei.

Abgeordnete verschiedener Parteien gingen darauf ein, dass außer unzureichender digitaler Infrastruktur auch die schlechte ärztliche Versorgung auf dem Land problematisch sei und mangelhafter bis nicht vorhandener Nahverkehr (ÖPNV) vielen Menschen kaum erlaube, außerhalb von urbanen Räumen zu leben.

Dirk Spaniel, AfD-Abgeordneter, beschuldigte die Grünen, mit ihrer Verkehrspolitik den Menschen auf dem Land das Familienleben zu erschweren. Unter anderem Fahrverbote und derzeitige Verbindungen per ÖPNV würden pendelnden Vätern zu wenig gemeinsame Familienzeit erlauben.

Christian Haase, CDU-Abgeordnete, empfindet es als Privileg im ländlichen Raum zu leben. Er betonte, "gleichwertige Lebensverhältnisse bedeuten nicht gleich", sondern Förderung nach Bedarf. Er betonte weiter, die Bundesregierung sei nicht untätig gewesen und verwies auf Baukindergeld, das Bundesprogramm Ländliche Entwicklung und darauf, dass der Breitbandausbau durchaus vorangebracht worden sei.

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Die Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann (Linke) sagte im Vorfeld der Debatte: 

Von gleichwertigen Lebensverhältnissen kann in Deutschland nicht gesprochen werden."

Wenn die Bundesregierung es ernst meine mit ihrem erklärten Ziel, solche Verhältnisse zu unterstützen, dürfe es nicht bei Lippenbekenntnissen und Ankündigungen bleiben.

Um Armut zu bekämpfen, braucht es ein umfassendes Konzept", so Zimmermann.

Vor allem prekäre Beschäftigung müsse zurückgedrängt werden.

Zwar stellt sich die Bundesregierung bereits seit Jahrzehnten den Anspruch, den Bürgern möglichst gleichwertige Lebensverhältnisse zu bieten. Die Realität hinkt jedoch nicht nur hinterher, sondern sieht anders aus.

Als reich gilt, wer als Single im Jahr über 40.639 Euro oder mehr verfügt. Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, gilt als arm. Die Schwelle der Armutsgefährdung lag 2017 deutschlandweit bei 999 Euro für einen Einpersonenhaushalt.

Kürzlich erst belegten aktuelle Zahlen zur Armutsgefährdung, dass davon durchaus nicht nur eine Randgruppe betroffen ist, sondern jeder fünfte Bundesbürger.

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Laut dem aktuellen Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung hat zudem der Anteil der Haushalte unterhalb der Armutsgrenze deutlich zugenommen, während der Anteil der mittleren Einkommen geschrumpft ist. 

Der laut der Studien-Autorin Dorothee Spannagel vorrangige Handlungsbedarf, der Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit und mehr gut bezahlte, sozialversicherungspflichtige Arbeit, war in der Bundestagsdebatte jedoch nicht wirklich Thema.

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