Gesellschaft

Italienischer Philosoph Diego Fusaro: "Der Kapitalismus will aus allen Bürgern Migranten machen"

Mit ihren Konzepten zur Migration löse die UN keine Probleme, so Diego Fusaro im Gespräch mit RT. Laut dem italienischen Philosophen ist die nationale Souveränität die letzte Bastion der Demokratie, die es zu verteidigen gelte.
Italienischer Philosoph Diego Fusaro: "Der Kapitalismus will aus allen Bürgern Migranten machen"Quelle: www.globallookpress.com

von Daniele Pozzati 

RT hat mit dem italienischen Philosophen Diego Fusaro gesprochen. Dr. Fusaro unterrichtet Geschichtsphilosophie an der IASSP in Mailand ("Institut für hohe strategische und politische Studien"), wo er auch als wissenschaftlicher Direktor tätig ist. Er beschreibt sich als "unabhängiger Meisterschüler von Hegel und Marx" und als "jenseits von rechts und links gegen Turbokapitalismus."

Dank seiner häufigen Auftritte in italienischen Sendungen ist Fusaro sehr populär in Italien. Sein Buch über Marx wurde ins Deutsche übersetzt.  

Laut UN-Generalsekretär António Guterres erlaube die Migration "Millionen Menschen, nach neuen Möglichkeiten zu suchen, was sowohl den Herkunfts- als auch den Ankunftsgemeinschaften zugute kommt". Stimmt das?

Ich gehe in die entgegengesetzte Richtung zu der von António Guterres und dem Chor des politisch korrekten Gedankens. Dieser wiederholt, dass es Afrikaner gebe, die nach Europa kommen wollen, weil Afrika rückständiger sei als Europa – dass Europa das Eldorado der Hoffnung sei usw. Dies ist jedoch die rassistische Erzählung des einseitigen Denkens. In Wirklichkeit befinden wir uns in der dritten Phase des Kolonialismus. Die erste war die Ära des Dreieckshandels, mit dem die Europäer die Afrikaner nach Amerika brachten, sie dort verkauften, ausbeuteten und mit den Erlösen nach Europa zurückkehrten. Dann kam die Zeit des imperialistischen Kolonialismus, die von Lenin bekämpft und beschrieben wurde, mit dem die Europäer die Afrikaner direkt in Afrika ausraubten, ausbeuteten und das Geld nach Europa brachten.

Jetzt befinden wir in einer neuen, dritten Phase des Kolonialismus, und zwar die Phase des globalisierten Kolonialismus, mit dem afrikanische Länder destabilisiert werden. Stichwort: NATO-Krieg gegen Libyen. Und auf diese Weise wird die Flucht der Afrikaner – die "willkommen", doch in Wirklichkeit nach Europa abgeschoben sind – vom Kapitalismus rücksichtslos ausgenutzt, um die Kosten der einheimischen Arbeitsmigranten zu senken und das Profil des Migranten zu verallgemeinern – das heißt, um uns alle zu Migranten zu machen. Der Kapitalismus will Migranten nicht integrieren. Er will aus allen Bürgern Migranten machen. Das Profil des prekären Migranten ist: staatenlos, ohne Wurzeln, ständig in Bewegung, denn er ist dem freien Verkehr von Waren und Personen ausgeliefert. Das ist Masseneinwanderung heute.

Im Gegensatz zu Guterres spricht der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz von Nachteilen sowohl für Europa als auch für Afrika. In einem Interview mit der "Welt" kritisierte Kurz den Migrationspakt aufgrund einer "bedenklichen Vermischung von Asyl und Migration". Und während seiner Reise nach Afrika hatte Kurz Politiker getroffen wie die äthiopische Präsidentin Sahle-Work Zewde, die "überrascht" und "enttäuscht" seien von der Politik der offenen Grenzen der EU, "die unsere jungen Menschen zur Auswanderung ermutigt".

Vorausgesetzt, dass die Afrikaner jedes Recht haben, ihre Lebenswege autonom zu entscheiden. Ich möchte an dieser Stelle die Worte wiedergeben, die vom ehemaligen Papst Ratzinger 2013 ausgesprochen wurden: "Heute ist nur die Rede von dem Recht auf Migration und niemand spricht mehr über das Recht, im eigenen Land verwurzelt zu sein." Also von den Prozessen des globalen Kapitalismus nicht entwurzelt zu werden. Dies scheint mir der grundlegende Punkt zu sein.

Afrikaner haben jedes Recht, in ihrem eigenen Land zu bleiben, und nicht durch Bombenangriffe und Kolonialismus entwurzelt zu werden – wie bei dem französischen Kolonialismus, der in vielerlei Hinsicht in afrikanischen Ländern noch sichtbar ist. Der Punkt ist: Jedem Volk, und damit auch den Völkern Afrikas, ist das volle Recht zuzuerkennen, in seiner Autonomie, in seiner Souveränität, in seiner Geschichte zu existieren – ohne von der Geschichte des Kapitalismus entwurzelt zu werden. 

Warum scheint die UNO die Migration als eine Art Allheilmittel zu sehen für die Probleme der Unterentwicklung und für die Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern? Es gäbe wirklich keine anderen Lösungen?

Dies ist in Wirklichkeit nur die Fassade, die die Substanz ideologisch verbirgt. Die Substanz ist die eines Ausbeutungsprozesses der Arbeitskraft, die den Hebel der bei Marx beschriebenen industriellen Reservearmee benutzt: Das heißt, Massen von idealen Sklaven deportieren, wie die Afrikaner. Die Afrikaner sind ideale Sklaven, weil sie aus ihrem Territorium deportiert und in ein Land geworfen werden, in dem sie die Sprache nicht kennen, in dem sie keine territorialen Wurzeln haben, in dem sie sich nicht verteidigen können. Deshalb liebt das Kapital die Masseneinwanderung so sehr.

In ganz Europa scheinen die Wähler und Politiker zu unterscheiden zwischen Pro-Immigranten in der linken und Anti-Immigranten in der rechten Szene. Oft gibt es da Extreme: entweder für eine unkontrollierte Einwanderung oder völlig gegen Einwanderung, auch wenn sie gut geregelt ist. Warum so eine Polarisierung?

Es gibt Gegenüberstellungen zwischen einseitigen Positionen. Zum einen die der politischen Linken, die in der Einwanderung etwas Positives und Wunderbares sieht. Zum anderen die der politischen Rechten, die Migranten als Feinde ansieht. Diese Positionen sind beide falsch. Die der Linken ist falsch, weil sie nicht verstanden hat, dass Masseneinwanderung eine Waffe in den Händen der dominierenden kosmopolitischen Klassen ist – und zwar eine Waffe gegen die Arbeiterklasse ganz Europas. Und die der Rechten wiederum ist falsch, weil die rechten Parteien nicht verstanden haben, dass nicht die Migranten die Feinde sind, sondern der, der sie deportiert.

Der Feind ist nicht der Hungrige – sondern der, der die Völker aushungert. Der Feind ist nicht der, der wegläuft – sondern der, der die Menschen zur Flucht zwingt. Aus diesem Grund wäre eine Position, die heute aufrechterhalten werden muss, eine, die nicht gegen Migranten gerichtet ist, sondern gegen die Einwanderung als eine Waffe in der Hand des Kapitalisten. Und während diese Position völlig fehlt, ergibt sich diese Gegenüberstellung, die nie das Herz der Macht trifft, die nie den wirtschaftlichen Widerspruch der herrschenden Klasse sieht. 

Mit der Ausnahme von Großbritannien, wo Jeremy Corbyns Labour Partei wieder populär geworden ist, scheinen die Wähler traditioneller Linksparteien enttäuscht zu sein. Es sieht manchmal so aus, als wären die Linksparteien mehr an den Schicksalen von Zuwanderern interessiert als an gewöhnlichen Bürgern – und ihren Problemen, wie einen Job finden, Häuser aufbauen, Kinder erziehen usw. 

Ja, die Trennung, die immer mehr unter den national-populären Arbeiterklassen und der Linken stattfindet, ist für alle sichtbar. Das ist die Frucht der kafkaesken Metamorphose der Linksparteien, die aus Parteien im Kampf gegen das Kapital, im Kampf um die Arbeit, im Kampf für die unterdrückten Klassen zunehmend in Parteien der kapitalistischen Modernisierung der Sitte geworden sind. Stichwort: Gender Mainstream. Stichwort: homosexuelle Ehe usw. 

Dies sind die Ansprüche der herrschenden Klassen auf sozialer und kultureller Ebene. Und genau diese Ansprüche haben die Linksparteien als sozialen Fortschritt stets verteidigt. 

Insbesondere der Fortschritt, bei dem es sich immer um den Fortschritt des Kapitals handelt, gegen alle, die es einschränken können: Gemeinschaftssinn, traditionelle Werte, gewerkschaftliche Erfolge und Löhne usw. Deshalb sind heute alle Schlachten der Linken die gleichen Schlachten wie die des Kapitals, aus Sicht der Kultur und der Sitte gesehen. 

Die Linksparteien verteidigen alle Exzentrizitäten und stehen zudem im Einklang mit dem Profil des kapitalistischen Individuums. Sie verteidigen die Migranten, weil es das Kapital selbst ist, das uns alle auf den Rang von Migranten reduzieren will. Sie verteidigen den hysterischen Feminismus, nicht deshalb, weil er sich um die wirklichen Belange von Frauen kümmert, sondern lediglich, weil er die Bevölkerung auf den Rang einer feminisierten Masse von Individuen reduzieren möchte, die in Stille leiden und nicht mehr den heroischen Kampf des Fabrikproletariats führen. 

Paradoxerweise können die heutigen Linksparteien nicht die Lösung sein, weil sie das Problem sind. Dadurch haben die Linksparteien Marx und Gramsci völlig verraten. Deshalb ist es meiner Meinung nach notwendig, von Marx und Gramsci aus neu zu starten und gegen die heutigen Linksparteien zu kämpfen, die die Negation von Marx und Gramsci sind. 

Die Rechte, insbesondere die neue Rechte wie die Lega Nord in Italien und die AfD in Deutschland, wachsen stattdessen im Konsens weiter, werden jedoch mit dem Beinamen "populistisch" verleumdet. Was heißt populistisch? Und welchen Unterschied gibt es zwischen populär, und damit demokratisch, und populistisch, und damit gewissermaßen verdammenswert? 

Ich kenne die AfD eigentlich nicht so gut. Die Lega Nord würde ich nicht als Rechtsbewegung definieren. Die Fünf-Sterne-Bewegung lässt sich ebenfalls weder als rechte noch als linke Partei definieren. Die Lega ist im heutigen Sinne eine populistische Partei. Das heißt, eine Partei, die das Volk gegen die Eliten verteidigt. Das ist populistisch. Es ist die Bedeutung der Neo-Sprache der Märkte, die jede Position, die nach unten schaut, als populistisch diffamiert – jede Position, die den Standpunkt der Dominierten und nicht den der Dominanten verteidigt. Das ist das Paradoxe. 

Die Elite sagt, dass Parteien wie die Lega Nord und die Fünf-Sterne-Bewegung populistisch sind. In Wirklichkeit ist die Elite ihrerseits demophobisch: Das heißt, sie hasst die Menschen und die Demokratie. Es ist eine Elite, die zunehmend autokratisch entscheiden will, ohne sich auf die volkstümliche Bevölkerung zu beziehen. Nicht umsonst wird zu diesem Zeitpunkt des Jahrtausends immer mehr über die Legitimität der Aufrechterhaltung der Demokratie diskutiert, oder über die Möglichkeit, ihren Raum zu reduzieren. Im unteren Teil heißt es: "Nur diejenigen, die kompetent sind, sollten wählen." Ein Thema, das sich in einer bestimmten Häufigkeit in den Ensembles der Finanzeliten wiederholt. Deshalb müssen wir heute populistisch und nicht elitär, demokratisch und nicht demophob sein, um die nationale Souveränität und nicht die Globalisierung zu verteidigen. 

Die nationale Souveränität ist der letzte Schrein der Demokratie: Es gibt keine Demokratie außer im nationalen souveränen Staat. Wie im antiken Griechenland. Dort gab es keine Demokratie außer in der Gestalt der klassischen Polis. Wer heute gegen nationale Souveränität ist, ist daher selbst gegen Demokratie. Das ist der grundlegende Punkt. Es gibt keine Realitäten, die post-national und gleichzeitig demokratisch sind. Souveränität wegnehmen heißt immer, Demokratie wegnehmen. Deshalb müssen wir demokratische Populisten sein und für die Souveränität. Es gibt keine Möglichkeit, diese Dimensionen zu trennen.

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