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"Alles müsste aus Frankreich importiert werden" – Paris und Kiew planen Produktion von Kampfbooten

Frankreich soll der Ukraine Patrouillenboote liefern. Ferner verhandelt Kiew mit Paris über eine gemeinsame Produktion der Schiffe. Allerdings ist zu bezweifeln, ob die Ukrainer zu einem solchen Projekt außer der Rümpfe überhaupt etwas beitragen können.
"Alles müsste aus Frankreich importiert werden" – Paris und Kiew planen Produktion von KampfbootenQuelle: Reuters

Frankreich wird der Ukraine eine Charge von 20 Patrouillenbooten des Modells OCEA FPB 98 liefern, erklärte der Pressedienst der ukrainischen Regierung. Die Einzelheiten des Geschäfts wurden noch nicht bekannt gegeben, aber Analytiker bezweifeln, dass es sich dabei um ein kostenloses Hilfsangebot handelt.

Darüber hinaus verhandeln Paris und Kiew über eine gemeinsame Produktion von Militärbooten. Allerdings wird die ukrainische Seite nach Ansicht von Militärexperten, falls es zu einer solchen Zusammenarbeit kommt, lediglich zum Bau der Schiffshüllen beitragen können. Angesichts des weitgehenden Zusammenbruchs der Schiffbauindustrie in der Ukraine müsste die gesamte Ausrüstung – von der Elektronik bis zum Antrieb – von der französischen Seite geliefert werden.

Der ukrainische Grenzdienst wird zwanzig in Frankreich hergestellte OCEA FPB 98-Patrouillenboote erhalten, sagte der Pressedienst des ukrainischen Kabinetts und fügte hinzu, dass Paris und Kiew jetzt über die mögliche Aufnahme einer gemeinsamen Schiffproduktion verhandeln. Weitere Details, wie die Fristen und Bedingungen des möglichen Geschäfts, sind noch nicht bekannt. Die Regierung machte auch keine Angaben, ob Kiew auf den Start der gemeinsamen Produktion warten muss, um die genannte Charge von Schnellbooten zu erhalten, oder ob sie in absehbarer Zeit geliefert werden.

Die Länge der OCEA FPB 98-Boote beträgt 32 Meter, die Höchstgeschwindigkeit 35 Knoten mit einer Reichweite von 1.200 Seemeilen bei 12 Knoten. Die Besatzung besteht aus 13 Personen; zur Bewaffnung kann das Boot mit einer 30mm-Maschinenkanone bestückt werden.

Laut der Webseite des Herstellers ist das Mehrzweckboot FPB 98 für den Einsatz bei der Küstenwache konzipiert. Es ermöglicht ferner eine allgemeine Präsenz auf See zur Eindämmung des Unwesens von Schmugglern, Piraten und Wilderern sowie für den Schutz der Meeresumwelt und für Suchmissionen. Die ersten Boote dieses Typs wurden im Jahr 2008 nach Algerien geliefert, später nach Benin, Nigeria und Suriname.

Laut Militärexperte Michail Timoschenko greifen französische Hersteller jedoch bei der Förderung ihrer Waffen auf dem Drittweltmarkt, vor allem in Afrika, oft auf korrupte Praktiken zurück. So kam in den 1990er-Jahren ein hochkarätiger Skandal um die Lieferung französischer U-Boote nach Pakistan ans Licht, als festgestellt wurde, dass die französische Seite pakistanischen Beamten eine Entlohnung für die Wahl eines französischen Lieferanten gezahlt hatte. Der Fall war so schwerwiegend, dass seine Auswirkungen selbst den Wahlkampf im Jahr 2012 in Frankreich beeinflussten. Experten bezweifeln, dass französische Beamte diese Praxis heute aufgegeben haben. Timoschenko kommentierte dies in einem Gespräch mit RT wie folgt:

Auf andere Länder wenden die Franzosen die gleiche Vorgehensweise an, die sie im Handel mit Afrika erarbeitet haben, so dass wir ein ähnliches Szenario im Falle der Ukraine nicht ausschließen können. Es ist natürlich möglich, dass die Boote als kostenlose Hilfe an Kiew übergeben werden, aber es ist noch nichts darüber bekannt. 

Sterben der Industrie

Schon früher hatte die Ukraine Kriegsschiffe aus dem Ausland erhalten – allerdings wurden der ukrainischen Marine im Jahr 2017 lediglich zwei im Jahr 1988 gebaute und bereits ausgemusterte US-Patrouillenboote der Island-Klasse überlassen. Darüber hinaus übergaben die Vereinigten Staaten der Ukraine im Rahmen ihres Entsorgungsprogramms für überschüssige alte Militärgüter im Herbst 2018 zwei weitere solcher Boote – aber ohne Waffen. Die ukrainische Seite musste etwa 10 Millionen Dollar für den Transport der Schiffe und die Ausbildung des Personals zahlen.

Im März dieses Jahres kündigte General Curtis Scaparotti, Kommandant der Europäischen Gemeinsamen Streitkräfte der NATO (JAF), an, dass die Vereinigten Staaten der ukrainischen Marine weiterhin diese Art von Unterstützung gewähren würden. Die US-Seite bot Kiew zwei weitere ausgemusterte Patrouillenboote der Island-Klasse an.

Es sei darauf hingewiesen, dass die Ukraine noch aus der Zeit des zaristischen Russlands und der Sowjetzeit eine entwickelte Tradition des militärischen Schiffbaus und eine starke industrielle Basis dafür geerbt hatte. Doch heute ist Kiew gezwungen, ausgemusterte militärische Ausrüstung zu kaufen, weil sich der eigene Schiffbau des Landes in einem bedauernswerten Zustand befindet, so Experten.

So wuchs die Stadt Nikolajew um jene Werft herum, die im Auftrag des Prinzen Grigori Potemkin an der Mündung des Ingul-Flusses lag. Bereits im Jahr 1790 wurde hier das erste Kriegsschiff vom Stapel gelassen. In der Sowjetzeit wurde Nikolaev zu einem wichtigen Zentrum des militärischen und zivilen Schiffbaus. Obwohl die Truppen Hitlers während des Großen Vaterländischen Krieges die Produktionsstätten der Stadt zerstörten, wurden in den Nachkriegsjahren hier gleich drei große Werften gebaut: die Okean-Werft, die Schwarzmeerwerft und die Werft der 61 Communards (heute Nikolajew-Werft).

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR sah die Ukraine jedoch allmählich vom Bau von Großschiffen ab. Die Situation verschärfte sich nach dem sogenannten Euromaidan im Jahr 2014, als im Land eine neue Runde der Umverteilung von Vermögenswerten einsetzte. Im Jahr 2017 wurde die Schwarzmeerwerft für bankrott erklärt und das Unternehmen im Jahr 2018 aufgelöst.

Ende des gleichen Jahres wurde der Konkurs der Okean-Werft bekannt. Sie wurde für 122 Millionen Hryvnja an ein wenig bekanntes Unternehmen verkauft. Wie die ukrainischen Massenmedien damals feststellten, wurde das größte Unternehmen zum Preis eines Elite-Anwesens verschleudert.

Vor dem Hintergrund des kompletten Erliegens beim Bau von Großschiffen ist der Bau verschiedener Typen von Schnellbooten der einzige Ausweg für die ukrainische Seite. Kiew kann es sich auch nicht leisten, große Kriegsschiffe im Ausland zu kaufen – das Land schafft es kaum, seine Auslandsschulden zurückzuzahlen und balanciert buchstäblich am Rande der Zahlungsunfähigkeit.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR erbte die Ukraine 30 Kriegsschiffe, ein U-Boot und etwa 30 weitere Geleitfahrzeuge. Jedoch hat diese Flotte nach Expertenaussagen in den Jahrzehnten seit dem Jahr 1991 ihre Substanz fast vollständig verschlissen.

Diese Probleme haben dazu geführt, dass bei der ukrainischen Marine die sogenannte Moskitotaktik eingeführt wurde, die sie von einer Schnellboot-Flotte abhängig macht: Es wird davon ausgegangen, dass Verbände solcher Schiffe aufgrund ihrer Manövrierfähigkeit und geringen Ortbarkeit große, überlegene feindliche Schiffe nach dem Wolfsrudel-Prinzip angreifen können.

Kiew erklärte, dass die Radare großer Schiffe nicht in der Lage seien, kleine Boote die im "Wolfsrudel" beziehungsweise im "Moskitoschwarm" operieren, effektiv zu erkennen. Experten stehen dieser Idee jedoch skeptisch gegenüber: Obwohl die Boote wirklich schlechter zu orten sind als große Schiffe, sind auch sie alles andere als unsichtbar.

Aber noch dürfte Kiew diesen Ansatz nicht in Frage stellen, zumal der Hauptverfechter der Idee von der "Moskito-Flotte", Igor Worontschenko (zur Sowjetzeit Kommandeur einer Panzerbataillon), weiterhin den Posten des Oberbefehlshabers der ukrainischen Marine bekleidet.

Worontschenko ist der Auffassung, dass das Rückgrat der ukrainischen Marine von den neuen Raketenbooten des Typs Lan gebildet werden soll. Ihr Bau ist im Kiewer Werk "Kusniza na Rybalskom" geplant. Nach Angaben der Konstrukteure sollen die Schiffe mit Schiffsabwehrraketen sowie Überhorizont-Zielerfassungssystemen für diese Lenkwaffen ausgestattet sein. Darüber hinaus wird das Boot Artillerie und Kurzstrecken-Flugabwehrraketensysteme tragen.

Es war geplant, das erste Boot bereits im Jahr 2019 vom Stapel zu lassen, doch im Mai wurde bekannt, dass die vorgesehenen Fristen nicht eingehalten werden können. Denis Antipow, stellvertretender Vertriebsleiter von "Kusniza na Rybalskom", erklärte, dass in diesem Jahr nur das erste Lan–Boot in den Bau gehen und demnach nicht vor Ende 2020 vom Stapel laufen wird. Daher wird die ukrainische Marine in absehbarer Zeit auf Lenkwaffenboote verzichten müssen.

Im vergangenen Jahr wurde in Kiew eines der beiden Lande- und Angriffsboote des Projekts 58503 (Zentaur-LK) vom Stapel gelassen. Die Länge dieses Schiffes beträgt 24 Meter, die Höchstgeschwindigkeit 50 Knoten, es kann einen Landetrupp von bis zu 32 Mann aufnehmen und ist mit einem Maschinengewehr, einem Granat-Maschinengewehr und Mehrfach-Raketenwerfern ausgestattet.

An der Zeremonie zum Stapellauf nahm die gesamte militärische Führung des Landes teil: der Verteidigungsminister, der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine und der Kommandant der Marine. Das Schnellboot entpuppte sich aber als völlige Fehlkonstruktion – im Mai dieses Jahres wurde bekannt, dass es nicht in der Lage ist, die angegebene Geschwindigkeit zu erreichen. Daher soll der "Zentaur" weiterentwickelt werden, erklärte Wasyl Radtschuk, Leiter der Schiffbauabteilung des ukrainischen Marinekommandos.

Versuch eines Gewichtsklassenaufstiegs

Ein relativer Erfolg der ukrainischen Militärführung wurde bisher beim Bau der Flussartillerieboote des Projekts Gjursa-M erzielt. Insgesamt wurden seit dem Sommer 2014 sechs solcher Schiffe in Dienst gestellt, zwei weitere befinden sich auf den Werften "Kusniza na Rybalskom" im Bau. Diese Boote sind jedoch nur für den Einsatz auf Flüssen und Seen sowie an den Küsten vorgesehen – sie können nicht weit ins offene Meer hinausfahren.

Nach Ansicht des Militärexperten Viktor Litowkin ist die Ukraine nicht einmal in der Lage, ein vollwertiges Küstenwachboot zu bauen:

Ja, auf der einzigen in Betrieb befindlichen Werft in 'Kusniza na Rybalskom' wird noch etwas gefertigt, aber diese Produkte zeichnen sich nicht gerade durch Qualität aus. Um ein Schiff zu bauen, braucht man nicht nur einen Außenrumpf, sondern auch Navigations- und Steuerungssysteme, die die Ukraine nicht hat", erklärte Litowkin gegenüber RT.

Gleichzeitig bezweifeln Analytiker, dass die Lieferung französischer Patrouillenboote zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeiten der Ukraine auf See beitragen wird. Laut Michail Timoschenko würde selbst die Einführung schwererer Lenkwaffenboote Kiew wenig helfen.

"Ein Lenkwaffenboot ist eher in der Lage, Schiffe derselben Klasse zu bekämpfen, nicht solche mit großer Tonnage. Der Betrieb solcher Boote erfordert auch ausgebildete Besatzungen und eine gute Küsteninfrastruktur", hob der Militärexperte hervor. Analytiker neigen zu der Ansicht, dass die Entscheidung von Paris, Kiew eine Charge Patrouillenboote zu liefern, weniger von praktischen dafür aber eher von politischen Erwägungen bestimmt wird.

Wahrscheinlich kann für die französische Regierung der Kontaktausbau mit der Ukraine auch ein Versuch sein, mehr Gewicht im 'Normandie-Quartett' zu gewinnen", räsonnierte Timoschenko.

An dieser Stelle sei daran erinnert, dass der französische Präsident  Emmanuel Macron seinen ukrainischen Amtskollegen Wladimir Selenskij bereits zu einem Besuch in Frankreich eingeladen hatte, als dieser noch lediglich ein Präsidentschaftskandidat in der Ukraine war. Die letzten Verhandlungen zwischen den beiden Staatschefs fanden am 17. Juni statt und eines der Themen des Treffens war die Situation im Donbass sowie die russisch-ukrainischen Beziehungen.

Wenn also die im ukrainischen Kabinett angekündigten Verhandlungen über den Beginn einer gemeinsamen Bootsproduktion zur Unterzeichnung eines Vertrages führen sollten, wird Kiew eine "sehr beschnittene Rolle" in dieser Partnerschaft zugewiesen werden, so die Ansicht von Fachleuten. Laut Michail Timoshenko kann die Schiffbauindustrie der Ukraine in ihrem derzeitigen Zustand die Produktion solcher Technik nur teilweise sicherstellen.

Schließlich wird Kiew auch für die zukünftigen Lan-Raketenboote fast die gesamten Innereien der Schiffe, wie Eloka-Systeme, Kommunikations- und Navigationssysteme, weitere elektronische Geräte und nicht zuletzt die Triebwerke, importieren müssen.

Ja, es gibt noch funktionierende Werften in der Ukraine, aber die ukrainische Verteidigung wird weder Motoren noch andere Ausrüstung für neue Schiffe herstellen können. All dies muss aus Frankreich geliefert werden", betonte der Experte.

Viktor Murachowski, Chefredakteur der Zeitschrift Arsenal des Vaterlands und Mitglied des Expertenrats im Kollegium der Militärisch-Industriellen Kommission Russlands, vertritt einen ähnlichen Standpunkt:

Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass Frankreich und die Ukraine eine gemeinsame Produktion von Booten starten können, bei der die Ausstattung von Frankreich und der Rumpfbau von der Ukraine vorgenommen wird – doch auch das wird in der Praxis wohl kaum umgesetzt werden", schloss der Militärexperte.

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