Europa

Erdoğan unter Druck: Unzufriedene AKP-Granden sollen eigene Partei planen

In der Türkei gibt es immer konkretere Anzeichen dafür, dass hochrangige AKP-Politiker in den kommenden Monaten eine eigene Partei gründen könnten. Das würde die innenpolitisch ohnehin schon heikle Lage des Landes dramatisch verschlechtern.
Erdoğan unter Druck: Unzufriedene AKP-Granden sollen eigene Partei planenQuelle: Reuters

von Dennis Simon

Nach der empfindlichen Wahlniederlage der regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan bei den Oberbürgermeisterwahlen in Istanbul dringen immer mehr Berichte an die Öffentlichkeit, denen zufolge die innerparteiliche Opposition in der AKP in den kommenden Monaten einen riskanten Schritt wagen will. Einige unzufriedene AKP-Granden, darunter auch Gründungsmitglieder, die seit den 1990er-Jahren an der Seite Erdoğans stehen, sollen vorhaben, eine Alternative zur AKP zu gründen.

So erklärte der türkische Journalist Deniz Zeyrek kurz nach der Kommunalwahl in Istanbul Ende Juni, er habe erfahren, dass der ehemalige Europa- und Außenminister sowie stellvertretende Ministerpräsident Ali Babacan Pläne eingeleitet habe, eine eigene Partei zu gründen. Abdullah Gül, ebenfalls früherer Außenminister sowie Staatspräsident während Erdoğans Amtszeit als Ministerpräsident, unterstütze seine Initiative im Hintergrund. Gül war am Wahltag am 23. Juni dadurch aufgefallen, dass er bei der Stimmabgabe erklärte hatte, alles werde gut werden, womit er den Wahlspruch des oppositionellen CHP-Kandidaten Ekrem İmamoğlu aufgriff. Ende Juni kritisierte Gül in einer öffentlichen Rede "absolute Autorität", was als direkter Angriff auf Erdoğan aufgefasst wurde.

Babacan soll sein Projekt im September der Öffentlichkeit vorstellen, berichtete die türkische oppositionelle Zeitung Cumhuriyet. Hande Firat, Journalistin der zentristischen Zeitung Hürriyet, die seit dem letzten Jahr einer als AKP-nah geltenden Holding gehört, schrieb, dass Babacan und sein Umfeld schon den ganzen Winter an dem Plan einer AKP-Alternative arbeiteten. Am Mittwoch wurde bekannt, dass ein ehemaliger türkischer Beamter aufgrund seiner angeblichen Unterstützung der in der Türkei als Terrororganisation eingestuften Gülen-Sekte Strafanzeige gegen Babacan gestellt hat.

Andere Quellen wiederrum berichteten, dass der AKP-Politiker und frühere Außenminister Ahmet Davutoğlu, der später in Erdoğans Amtszeit als Staatspräsident von 2014 bis 2016 Ministerpräsident war, ebenfalls plane, eine eigene Partei zu gründen, allerdings in Konkurrenz zu Babacans Projekt. Wenige Tage später fiel Davutoğlu tatsächlich dadurch auf, dass er auf einer Veranstaltung vor laufenden Kameras hart mit der derzeitigen Politik der AKP ins Gericht ging.

Die Nachrichtenagentur Reuters zitierte mehrere anonyme hochrangige AKP-Politiker, die die Existenz beider Parteiprojekte bestätigten. Es gebe innerhalb der AKP ein gewisses Potenzial an Unterstützung für die Alternativen. Ein Berater Babacans, der seinen Namen nicht nennen wollte, erklärte gegenüber Reuters, die Partei werde die Politik in der Anfangszeit der AKP fortsetzen. Es gebe derzeit Gespräche mit einer Reihe von AKP-Abgeordneten und Akademikern.

Ende Juni soll Erdoğan bei auf einer Vorstandstagung der AKP erklärt haben, Gül und Davutoğlu seien ihm in den Rücken gefallen, wie die Cumhuriyet berichtete. Der türkische Präsident soll zudem seinem Vertrautenkreis mitgeteilt haben, dass Babacan ihm bereits vor der Wahl seine Absicht mitgeteilt habe, aus der AKP auszutreten und eine eigene Partei zu gründen.

Zudem gibt es Spekulationen über Neuwahlen. Wie das liberale Nachrichtenportal Gazete Duvar erfahren haben will, gilt es sowohl in Regierungs- als auch in Oppositionskreisen als wahrscheinlich, dass im Herbst des Jahres 2020 Neuwahlen stattfinden, obwohl reguläre Wahlen erst wieder 2023 vorgesehen sind.

Sowohl das Duo Babacan-Gül als auch der frühere Ministerpräsident Davutoğlu könnten den Unmut in der Partei nutzen, um AKP-Abgeordnete zu überreden, ihrer Alternative beizutreten. Zwar ist aufgrund des neu eingeführten Präsidialsystems die Regierung nicht mehr wie noch vor einigen Jahren verfassungsrechtlich dem Parlament gegenüber verantwortlich, dennoch wäre eine derartige Entwicklung sehr gefährlich für die Gruppe um Erdoğan, da das Parlament wichtige Initiativen der Regierung blockieren könnte, sollte die AKP ihre Mehrheit dort verlieren. Das wäre ein weiterer Schlag nach dem Verlust wichtiger Stadtverwaltungen bei den letzten Kommunalwahlen. Hinzu kommt die sich immer weiter verschlechternde Wirtschaftslage.

Beide Seiten stehen in Konkurrenz zueinander, den ersten Schritt Richtung Neugründung einer Partei zu unternehmen, um die Unzufriedenheit in der AKP – nicht nur in der Führungsetage, sondern auch an der Basis – auszunutzen. Diese äußerte sich etwa darin, dass am Abend der Wahlniederlage wütende AKP-Anhänger in Istanbul den Rücktritt der lokalen Parteiführung verlangten. Sie konnten vom anwesenden Innenminister Süleyman Soylu kaum besänftigt werden.

In der Geschichte der türkischen Politik sind bereits einige einst als besonders stark und solide geltende Parteien von innen heraus zerbröselt, etwa die Mutterlandspartei (ANAP), die liberalkonservative Regierungspartei der 1980er-Jahre mit ihrer charismatischen Führungspersönlichkeit Turgut Özal, oder die Demokratische Linkspartei (DSP) des legendären türkischen Linkspolitikers Bülent Ecevit, die sich, auch unter dem Druck einer Wirtschaftskrise, in mehrere Lager spaltete und bei den Wahlen im Jahr 2002 von 22,1 Prozent im Jahr 1999 auf 1,2 Prozent abstürzte, womit sie nicht nur aus der Regierungsverantwortung, sondern auch aus dem Parlament gewählt wurde.

So ein Desaster ist nicht zwangsläufig vorprogrammiert. Erdoğan ist ein Meister des politischen Taktierens, und er hat bereits einige politische Krisen überstanden, die weniger gewandte Politiker in eine sichere Niederlage geführt hätten. Es scheint sich aber eine Koalition von westlichen Großmächten, stark international vernetzten Großunternehmen alteingesessener Familien in Istanbul, prowestlichen Oppositionsparteien sowie unzufriedenen, einflussreichen AKP-Politikern zu bilden, die den zunehmenden Frust des Volkes über die Wirtschaftskrise dazu nutzen könnten, der Erdoğan-Regierung mittelfristig den Todesstoß zu versetzen. Der türkische Präsident hat nur wenige Möglichkeiten, so ein Szenario zu verhindern. Aktuell scheint er noch keine erfolgreiche Strategie gefunden zu haben, seine Macht zu sichern.

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