Europa

Proteste wie von Zauberhand – Wer steckt hinter den anti-russischen Unruhen in Georgien?

Ein "Protokollfehler" der Gastgeber zur Sitzung eines kirchenennahen Gremiums hat eine politische Krise ausgelöst. Es kam zu Angriffen auf russische Abgeordnete und Journalisten. Die langsame Annäherung zwischen Russland und Georgien konnte dadurch gestoppt werden.
Proteste wie von Zauberhand – Wer steckt hinter den anti-russischen Unruhen in Georgien?Quelle: Reuters

Protestaktionen und Unruhen mit antirussischer Rhetorik in Georgien bestimmten in den letzten Tagen in Russland die Schlagzeilen. Am 20. Juni hielt Sergej Gawrilow, ein russischer Duma-Abgeordneter eine kleine Ansprache im Präsidium des georgischen Parlaments, im Beisein auch eines griechischen Kollegen. Gawrilow hat in diesem Jahr – gemäß einem zwischenstaatlichen Rotationsprinzip – den Vorsitz der sogenannten Interparlamentarischen Versammlung für Orthodoxie (IAO) inne. Das ist ein Gremium, das vermutlich bis zu diesem denkwürdigen Tag nur wenige kannten.

Die Anwesenheit eines Russen im georgischen Parlament – ausgerechnet auf dem Sessel des Parlamentssprechers – sollte nun Proteste der Oppositionsparteien hervorrufen. Eine Gruppe georgischer Abgeordneter besetzte während der Pause jenes Präsidium, es wurden antirussische Parolen gebrüllt, die russischen Parlamentarier mussten das Parlamentsgebäude und später auch ihr Hotel unter Polizeischutz verlassen. Es kam zu Rangeleien und Angriffen, Gawrilow wurde mit Wasserflaschen beworfen.

Video-Screenshot

Am gleichen Tag kam es zu heftigen Protesten vor dem Parlamentsgebäude – gegen Russland und gegen die eigene Regierung –, woraufhin wichtige innenpolitische Entscheidungen für Georgien im Eiltempo beschlossen wurden. Diese könnten die Oppositionsparteien bei den Parlamentswahlen im nächsten Jahr stärken. Russland reagierte mit einem Erlass, dem zufolge es ab dem 8. Juli keine Direktflüge nach Georgien geben wird.

Der Skandal im Parlament habe den georgischen Stolz sehr getroffen, meinen Beobachter. Viele Georgier werfen Russland die Okkupation georgischen Territoriums durch die Anerkennung der beiden Zwergstaaten Abchasien und Südossetien vor. Die Anerkennung erfolgte nach dem fünftägigen russisch-georgischen Krieg, dessen Ausgangspunkt ein georgischer Angriff auf die südossetische Hauptstadt Zchinwali war.

Doch bei allem Verständnis für solche Befindlichkeiten bei Georgiern wirkt der aktuelle Anlass, der auf einem "Protokollfehler" der Gastgeberseite beruhte, wie sie später einräumte, für derartige Tumulte eher nichtig. Das überraschte sogar Kenner der Situation wie den britischen Journalisten des Guardian und Buchautoren Shaun Walker. Am 20. Juni postete er Bilder von den Protesten und schrieb dazu auf seinem Twitter-Kanal:

Kam nach Georgien, um ein Panel über Proteste zu moderieren, und wie von Zauberhand stürmen die Menschen das Parlament.

Was äußerlich wie Magie wirkt, könnte dennoch auch eine gut vorbereitete Aktion einiger Profis vom Schlage des georgischen Ex-Präsidenten Micheil Saakaschwili sein. Ausgerechnet Abgeordnete und Aktivisten seiner Partei Vereinte Nationale Bewegung waren bei den Protesten im Parlament und auf den Straßen die Anführer.  Bereits vor dem Besuch des russischen Duma-Abgeordneten gab es Proteste (mit US-Fahnen!), in georgischen Medien wurden Meldungen lanciert, Gawrilow selbst habe an den Kämpfen in Abchasien gegen Georgien im Jahr 2008 teilgenommen, sodass er solche Gerüchte während seiner ersten Pressekonferenz nach der Ankunft in der georgischen Hauptstadt richtigstellen musste. "Meine Gegendarstellung haben georgische Medien nicht wiedergegeben", sagte er später gegenüber RT.

"Unter den Protestlern gab es von Beginn an mehrere Personen, die die Aktion auf Englisch koordinierten", sagte der Abgeordnete, der mit seinen Kollegen wegen der aufgebrachten Menge buchstäblich evakuiert werden musste. Am gleichen Tag standen bis zu 10.000 vor allem jüngere Menschen vor dem Parlamentsgebäude und begannen, es stürmen zu wollen.

Wir halten diese Aktion für geplant. Denn es waren in Windeseile Dutzende Kameras aufgestellt. Personen, die zur Sitzung kamen, demonstrierten mit im Voraus vorbereiteten Plakaten mit dreckigen, beleidigenden, antirussischen Inhalten", so Gawrilow.

Es sei offensichtlich, dass nicht das orthodoxe Forum, um dessen Ausrichtung Georgien sich selbst beworben hatte, die Ursache für Ausschreitungen war, sondern Versuch eines Staatsstreiches und einer Besetzung des Parlaments, so der russische Politiker.

Zusammenstöße mit der Polizei unter Teilnahme zahlreicher radikaler Kräfte sind ein Beweis dafür", schlussfolgerte er bei einem Presseauftritt.  

Als merkwürdigen Zufall haben russische Medien auch den Tweet des einflussreichen US-amerikanischen Gastes des Landes Michael Carpenter gewertet. Am 18. Juni, nur zwei Tage vor dem Eklat im Parlament und den darauffolgenden Unruhen, schrieb er:  

Ich habe gerade 3 Tage in Georgien verbracht. Ich bin mir nicht sicher, ob die Regierung die Auswirkungen ihrer Politik der offenen Tür gegenüber Russland vollständig versteht. Mit so vielen 'Touristen' (ehem FSB) & so viel Land, das von russischen Geschäftsleuten aufgekauft wird, können sie eines Tages aufwachen und nicht 20%, sondern 100% besetzt finden.

Der Direktor des Joe Biden Centers und führende Experte des NATO-nahen Thinktanks Atlantic Council nahm in der georgischen Hauptstadt an der Konferenz zum russischen Einfluss in Georgien teil. Offenbar wertet er den russischen Tourismusboom in Georgien, dem sogenannten "Italien der UdSSR", als "hybride Kriegsführung".

Im letzten Jahr hat die georgische Tourismusbehörde mehr als 1,7 Millionen russischer Touristen gemeldet, in diesem Jahr bereits 500.000. Die Einnahmen aus dem Geschäft mit Russland betragen bis zu zehn Prozent des georgischen Bruttoinlandproduktes. Russland bildet auch den wichtigsten Absatzmarkt für georgische Weine. Noch vor wenigen Jahren gab es ein Warenembargo in Russland, das die georgische Wirtschaft schwer traf. Seit dem Machtwechsel im Jahr 2012, als Micheil Saakaschwili abgewählt wurde und wegen eines Strafverfahrens aus dem Land fliehen musste, gibt es zwischen Russland und Georgien eine zaghafte Annäherung.

Doch das Land befindet sich auf striktem EU- und NATO-Kurs, im Parlament der kleinen Kaukasusrepublik gibt es keine Parteien, die man als russlandfreundich bezeichnen könnte. Es werden weiterhin regelmäßig Militärübungen mit US- und NATO-Kräften abgehalten. Dennoch musste sich die Präsidentin Salome Surabischwili, die sich am 20. Juni in der weißrussischen Hauptstadt Minsk befand, nicht bei den in die Flucht geschlagenen russischen Diplomaten entschuldigen, deren Sicherheit Georgien zuvor schriftlich garantierte, sondern erstaunlicherweise bei den Radikalen. Russland sei Georgiens Feind und Okkupant, schrieb sie reuemütig auf Facebook. Am nächsten Tag traten der Parlamentssprecher sowie der Hauptorganisator der IAO von georgischer Seite von ihren Ämtern zurück.

Für die russische Führung brachte eine solche Bewertung der Unruhen seitens des georgischen Staatsoberhaupts das Fass zum Überlaufen. Wladimir Putin ließ am 21. Juni per Erlass Direktflüge nach Tiflis streichen. Begründet wurde das mit dem offenkundig "erhöhten Sicherheitsrisiko" für russische Staatsbürger. In diesen Tagen berichteten russische Medien von Übergriffen auf russische Journalisten und von gezielten Preiserhöhungen für russische Touristen. Der zufällig anwesende "Gast" aus den USA Michael Carpenter dagegen begrüßte frohlockend die Proteste als freie Meinungsäußerung einer Zivilgesellschaft und verspottete Spekulationen über einen nicht nur zeitlichen Zusammenhang zwischen seinem Twitter-Kommentar und den späteren Ereignissen in einem vielsagenden Tweet als "Agitprop sowjetischer Art".

Der US-amerikanische Politikveteran Joe Biden von den "Demokraten", dessen Zentrum Carpenter leitet, gilt als aussichtsreichster Kandidat seiner Partei für das im nächsten Jahr bevorstehende Präsidentschaftsrennen in den USA. Zu seinem Credo gehört die Bekämpfung russischen Einflusses und der Ausbau der US-Hegemonie im gesamten postsowjetischen Raum. Legendär ist sein Auftritt im Sessel des ukrainischen Premierministers im Frühjahr 2014, kurz nach dem Staatsstreich im Februar. Im November 2016 kommentierte RT das so: 

Die Sitzung im ukrainischen Parlament, die Joe Biden am 22. April 2014 leitete, ging als Sinnbild für die öffentliche Unterweisung einer Marionettenregierung um die Welt.

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz in Februar 2019 sagte Biden:

Wir müssen Partnern der NATO wie Ukraine und Georgien maximal helfen, damit sie widerstandsfähiger gegen russischen Einfluss werden.

Von der Trump-Administration wird ihm nun allerdings Korruption zu familiären Gunsten im ukrainischen Gassektor nachgesagt. Für den georgischen Politologen und Chefredakteur des Portals ru.grusininform.ge Arno Chidirbegischwili sind es vor allem gemeinsame finanzielle Projekte, die Biden zu einem Machtwechsel in Georgien treiben könnten.

Am 24. Juli 2009, noch zu Zeiten der Präsidentschaft von Micheil Saakaschwili, besuchte Biden auch Georgien. Drei Monate später verkündete Saakaschwili den Bau eines Tiefseehafens am Küstenort Anaklia. Nach Angaben von Chidirbegischwili sollte Biden für US-Investitionen sorgen. Hunter Biden, sein Sohn, sollte den Posten im amerikanisch-georgischen Konsortium übernehmen. Der georgische Staat habe seinen Beitrag für das Projekt in Höhe von 300 Millionen Dollar bereits geleistet. Doch nach Saakaschwilis Abwahl wurde der kostspielige Bau erst einmal auf Eis gelegt. Nun hofft Biden offenbar, dass seine Rückkehr in die georgische Politik das totgeglaubte Projekt doch noch wiederbeleben könnte.

Bislang sind die Saakaschwili-Partei Vereinte Nationale Bewegung (VNB) und die Partei "Europäisches Georgien" die Hauptprofiteure der jüngsten Proteste. Und die derzeitige Regierung hat gezeigt, dass sie genauso gewalttätig gegen die Demonstranten vorgehen kann wie seinerzeit Saakaschwili. Die Spezialeinheiten schossen am 20. Juni mit Gummigeschossen in die Menge, mehr als 200 Demonstranten wurden verletzt, zwei von ihnen verloren dabei ein Auge. Nun wird es für die Regierung schwer, den Vorwurf aufrechtzuerhalten, dass Saakaschwili ein besonders "autoritäres Regime" in Georgien führte.

Außerdem hat das Parlament einer Gesetzesänderung zugestimmt, wonach es nun mit einem Proporz-Wahlsystem für die Parteien ohne Amtsbonus leichter werden könnte, ins Parlament zu gelangen. Die Polularität der Regierungspartei "Georgischer Traum" befindet sich dazu noch im Abwärtstrend. Laut einer Umfrage des US-Instituts NDI vom Mai dieses Jahres wird sie noch von 21 Prozent der Wähler unterstützt, auf dem zweiten Platz liegt bereits Saakaschwilis VNB mit 15 Prozent auf der Lauer.

Saakaschwili ist seit 2015 in der ukrainischen Politik aktiv, lässt aber seine Verbindungen nach Georgien nie gänzlich abreißen. Laut NDI sind es nun bereits 31 Prozent der Befragten, die ihm wieder vertrauen – der höchste Wert seit Jahren. Damit wird die VNB für die Regierungspartei zum Hauptkonkurrentem.

Deshalb müsse auch die regierende Partei die Schlagzahl ihrer antirussischen Rhetorik erhöhen, denn die VNB vertritt in der georgischen Politik noch den härtesten Kurs gegen Russland, sagte der russische Politikwissenschaftler Wladimir Scharichin bereits vor den Unruhen zu RT. "Vor den Parlamentswahlen im Jahr 2020 werden wir noch viele laute Erklärungen hören, dass Georgien bald in die NATO oder die EU eintritt."

Mehr zum Thema - Wahlen in den USA: Was wird die Ukraine ohne Joe Biden tun?

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.