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Wird Selenskij die Auflösung des ukrainischen Parlaments einleiten?

Der gewählte Präsident der Ukraine Wladimir Selenskij wird die Auflösung der Obersten Rada einleiten – und zwar obwohl die Regierungskoalition dort soeben zerfallen ist. Dies erklärte sein Berater Dmitri Rasumkow in der Sendung "Recht zur Macht" im Fernsehsender "1+1".
Wird Selenskij die Auflösung des ukrainischen Parlaments einleiten?Quelle: AFP © Genya Savilov

"Natürlich wird Selenskij die Auflösung der Rada einleiten, denn dafür gibt es eine Reihe von Voraussetzungen, insbesondere das Fehlen einer Koalition im Parlament", sagte er.

Diese Voraussetzungen, so Rasumkow, "sind im Gesetz klar formuliert, manchmal nicht endgültig klar, aber stets mehr oder weniger verständlich". Vor allem gehöre dazu die verfassungsrechtlich festgelegte Mindestanzahl von 226 Abgeordneten in der Regierungskoalition im ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada. "Aus meiner Sicht gibt es heute keine Koalition, weil es in den beiden Koalitionsfraktionen keine 226 Abgeordneten gibt", zitiert TASS Rasumkow.

Damit verwies er auf die Tatsache, dass sich die "Radikale Partei" am 1. September 2015, Julia Timoschenkos Partei "Vaterland" am 18. Februar 2016 und die Partei "Samopomitsch" ("Selbsthilfe") am 19. Februar 2016 aus der Koalition "Europäische Ukraine" zurückzog. In der Koalition verblieben 135 Abgeordnete vom Parteienblock Petro Poroschenko und 80 Abgeordnete von der Fraktion der "Volksfront". Daher ist es wahrscheinlich, dass es in der Regierungskoalition der Obersten Rada seit dem Jahr 2016 nur 215 Abgeordnete gegeben hat – sprich, elf Mann weniger als die Mindestanzahl.

Der Parlamentsvorsitzende Andrei Parubij behauptete zwar, dass die Koalition durch fraktions- beziehungsweise parteilose Abgeordnete auf den Sollwert aufgefüllt wurde. Anträge und Klagen, in denen Parubij aufgefordert wurde, die Namen aller Mitglieder der Koalition anzugeben, gab es genug – aber "das ist nie geschehen", so Rasumkow.

Zudem besteht seit Oktober 2010 keine gesetzliche Auskunftpflicht über Mitglieder der Regierungskoalition im ukrainischen Parlament mehr. Daher kann der Parlamentsvorsitzende bei unzureichender Anzahl fraktionsgebundener Abgeordneter in der Koalition selbst dann auf Fraktions- und Parteilose verweisen, wenn es sie gar nicht gibt – solange ihm geglaubt wird.

Aufschubmanöver?

Die Frage, ob Seleskij das ukrainische Parlament auflösen will, wurde akut, weil dieses (zusammen mit dem Noch-Präsidenten Poroschenko) seine Amtseinführung bisher hinauszögerte – dies dürfte kein gutes Omen für eine parlamentarisch-präsidiale Zusammenarbeit sein.

Die zweite Frage lautet, ob Selenskij die Rada auflösen darf: Am 17. Mai wurde der Austritt der "Volksfront"-Fraktion aus der Koalition "Europäische Ukraine" wirksam, schreibt TASS – damit ist diese Regierungskoalition im ukrainischen Parlament endgültig und für alle ersichtlich Geschichte. In solchen Fällen sieht das ukrainische Gesetz jedoch vor, dass das Parlament eine einmonatige Frist zur Bildung einer neuen Mehrheitsfraktion oder Koalition erhält, bevor der amtierende Präsident es auflösen und ein neues einberufen darf. Mehr noch, selbst falls die neue Koalition bis dahin nicht zustande kommen sollte, würde Selenskij die Rada nach diesem Datum nicht auflösen dürfen: Die ukrainische Verfassung verbietet dem Präsidenten die Auflösung des Parlaments in den letzten sechs Monaten vor den Parlamentswahlen – und diese stehen der Ukraine bereits am 27. Oktober dieses Jahres ins Haus.

Vielen jetzigen Mitgliedern der Werchowna Rada wären diese sechs Monate ein willkommener Aufschub, um vor Amtsantritt des neuen Präsidenten noch alles für sie Wichtige im Eilverfahren abzusichern. Wenn aber tatsächlich die Koalition "Europäische Ukraine" seit drei Jahren eigentlich nicht einmal auf Papier existiert, so ist auch diese einmonatige Frist längst vergangen, und einer Auflösung der Obersten Rada durch Selenskij steht schon jetzt nichts im Wege.

Dieser Ansicht ist Andrei Portnow, ein ukrainischer Rechtsanwalt und ehemaliger stellvertretender Leiter der Verwaltung des vierten Präsidenten des Landes, Wiktor Janukowitsch: "Es ist eine Tatsache, dass es seit 2016 keine Koalition von Fraktionen in der Rada gibt. [...] Und auf dieser Grundlage kann der Präsident jederzeit ein Dekret über die Auflösung des Parlaments und die Verkündung vorgezogener Wahlen unterzeichnen", erklärte der Jurist in einem Kommentar gegenüber der Internetzeitung Strana.ua am Freitag. Eine gerichtliche Entscheidung sei dazu nicht notwendig – vielmehr müssten gegebenenfalls die Gegner einer Auflösung diese gerichtlich streitbar machen. Sogar die ständige Vertreterin des amtierenden Präsidenten in der Rada, Irina Luzenko, vertritt diesen Standpunkt, schreibt TASS.

Zwang zu Verhandlungen durch die "Volksfront"?

Genau dies hat jedoch zum Beispiel die neofaschistische Partei "Volksfront" vor, sollte Selenskij sich für die Auflösung der Rada entscheiden. Eine entsprechende Ankündigung von Igor Lapin, einem "Volksfront"-Abgeordneten, zitiert das Nachrichtenportal strana.ua. Selenskij würde ein solches Verfahren zwar gewinnen: Eine dahingehende Aussage des Leiters des Kiewer Administrativen Bezirksgerichts, Pawel Wowk, zitiert das Nachrichtenportal ebenfalls. Auch die von Selenskij bezüglich der Rada erlassenen Anordnungen würden mindestens für die Dauer des Verfahrens gesetzliche Wirkung haben, bis zu 60 Tage – und falls die Klägerpartei(en) bei verlorenem Verfahren in Berufung gehen, was zu erwarten sei, dann nochmas für mindestens weitere 60 Tage, eher noch länger. Diese Zeit würde aber nicht nur Mitgliedern der Rada der VIII. Einberufung verloren gehen, sondern auch Selenskij selbst – Zeit, die er schon jetzt besser nutzen könne, nämlich zur Umsetzung seiner Pläne. Viele Rada-Mitglieder sprechen von einer angeblich genügenden Anzahl von Abgeordneten, die zur Zusammenarbeit mit Selenskij bereit seien. Immerhin haben genug von ihnen für den von ihm vorgeschlagenen Termin seine Amtseinweihung am 19. Mai gestimmt – und die "Volksfront"-Fraktion käme mit einer hohen Wahrscheinlichkeit hinzu, was Selenskijs eine mehrheitliche Unterstützung für seine Anstöße sichern würde.

"Sie sind für seine Personalvorschläge offen, bereit, für seine zukünftigen Gesetzesentwürfe zu stimmen. Ich weiß auch gar nicht, wozu er jetzt diese Spielchen mit der Auflösung der Rada spielen soll. Im Wesentlichen ist jetzt das Fenster der Möglichkeiten offen, in dieser Periode würde alles angenommen werden – alles, was die Gesellschaft will, Aufhebung der Immunität, neues Wahlrecht, alle möglichen Gesetze. Und so? Natürlich kann Selenskij seine eigene Fraktion bilden, aber damit jagen wir vier Monate in den Schornstein – zwei für die Neuwahl, noch zwei für die Neubesetzung der Verwaltungsorgane der Regierung – doch realisiert wird in dieser Zeit nichts", befindet der fraktionslose Abgeordnete Wiktor Tschumak.

Kolomoiski ebnet seinem Favoriten die Bahn?

Ein weiterer Grund dafür, der Ankündigung von Selenskijs Berater zu misstrauen, sind Informationen, denen zufolge der ukrainische Oligarch Igor Kolomoiski, der mit Selenskij in engem Kontakt steht, in der Rada verdeckt um Unterstützung für diesen werben soll. Zumindest behauptet dies eine anonyme Quelle in der rechtsradikalen "Volksfront", in der eine Gruppe um den amtierenden Innenminister Arsen Awakow enge Kontakte zu Kolomoiski unterhält. Der Oligarch gehe so weit, eine zunächst informelle Koalition für Selenskij in der Rada mit ihrer jetzigen Besetzung zusammentrommeln zu wollen. "Diese Koalition ist eine Alternative für die Auflösung der Rada. Teilnehmen sollen 'Batkiwschtschina' [dt.: "Vaterland", Partei von Julia Timoschenko], ein Teil des Parteienblock Petro Poroschenko (die mehrheitsgewählten Abgeordneten), die Partei 'Wiedergeburt' und die 'Volksfront'. Kolomoiski hatte diese Idee. Und viele bei uns unterstützen sie – das Gerede um eine Auflösung der Rada wird da nur als Element des Zwangs und der Einschüchterung seitens der Mannschaft des zukünftigen Präsidenten verstanden", gab die Quelle gegenüber Strana.ua zu wissen.

In der Fraktion des Parteienblock Petro Poroschenko werden ähnliche Vorhersagen gemacht. Vor allem die Wähler der fraktionslosen und de facto fraktionslosen Abgeordneten würden es unterstützen, wenn diese sich der Mehrheit anschließen – egal, um welche Parteien diese zusammenkommt –, weil diese dann unmittelbar für ihren Wahlkreis etwas erreichen könnten, erklärte der Abgeordnete Walerij Karpunzow der Internetzeitung Gazeta.ua.

Viel Lärm – und am Ende wird kollaboriert?

Letztendlich scheint es, als ziehe so gut wie das ganze politische Establishment der Ukraine hier an einem Strang. Noch im Februar dieses Jahres gab immerhin Präsident Poroschenko zu Protokoll: "Das Einzige, was ich betonen möchte, ist, dass ich in diesem Stadium keine vorgezogenen Parlamentswahlen zulassen kann und werde", wie das Nachrichtenportal Unian den Politiker zitert. Auch die Aussagen von Rada-Abgeordneten und aus den Reihen der "Volksfront" bestätigen dies letztendlich. Vor allem dürfte Kolomoiski sich nicht vergebens um eine informelle Pro-Selenskij-Koalition in der Rada bemühen wollen.

Gleichzeitig muss man bedenken, dass Selenskij bereits häufig vorgeworfen wurde, Kolomoiskis Marionette zu sein – würde er die VIII. Werchowna Rada der weiter bestehen lassen, würde er diesen Vorwurf angesichts der Aussagen der Abgeordneten indirekt bestätigen und damit seinem Image schaden. Tatsächlich würde er sich spätestens dann in zumindest teilweise Abhängigkeit von Kolomoiski und seiner "informellen" Koalition im Parlament begeben.

Dass Selenskij für seine Präsidentschaft die Unterstützung radikaler Nationalisten benötigt, dürfte außer Frage stehen: Auch wenn diese in der Ukraine eine absolute Minderheit darstellen, sind sie eine sehr laute und vor allem eine sehr gewaltbereite Minderheit, die Kritik durch Waffeneinsatz anbringt, analysiert der Journalist Andrej Babizki auf dem Informationsportal life.ru

Dementsprechend veröffentichte der damalige Präsidentschaftskandidat im Rahmen seiner Wahlkampagne ein Video auf Facebook, in dem er den Freiwilligenbataillonen "Kriwbas", "Donbas", "Aidar", "Asow" und dem Nationalkorps für ihren "Dienst" im umkämpften Südosten der Ukraine dankt: Vor allem "Asow" (mittlerweile zum Regiment umformiert) ist immer wieder durch offen faschistische Symbolik aufgefallen.

So forderte der Neofaschist Igor Wjatrowitsch, Leiter des ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken, von Selenskij unlängst einen Treueschwur auf die rechtsradikalen Kräfte im Land, schrieb RIA Nowosti.

Eine interessante Frage ist daher, ob die Rechtsradikalen (die in der Ukraine durch mehrere Parteien vertreten werden, nicht nur durch die "Volksfront") in einer Auflösung des ukrainischen Parlaments (wo neben der Volksfront auch Abgeordnete anderer Parteien sitzen) auch einen Bruch mit ihrer Sache gleichsetzen würden.

Beschlüsse und Gesetze seit 2016 illegitim?

Ein weiterer Aspekt der Rada-Auflösung aufgrund einer fehlenden gesetzgebenden Koalition, der an dieser Stelle zu bedenken ist, ist die Legitimität der Beschlüsse der Werchowna Rada seit dem 19. Februar 2016. Wenn die Regierungskoalition im ukrainischen Parlament unter der Mindestanzahl von 226 Mann liegt und dies als Begründung für die Auflösung des Parlaments geltend gemacht werden kann, dann möglicherweise auch dafür, die Geltung der Beschlüsse und Gesetze in Zweifel zu ziehen, die seit dieser Zeit die Rada passierten. Darunter fiele zum Beispiel das unlängst verabschiedete, im Kern russophobe Gesetz "Über die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der ukrainischen Sprache als Staatssprache", das vom noch-Präsidenten Poroschenko bereits unterzeichnet wurde.

Indes wurde am Samstag, dem 18. Mai 2019, ein Dekretentwurf der Mannschaft Selenskijs zur Auflösung der Werchowna Rada veröffentlicht, schreibt Strana.ua.

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