Europa

40 Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur: "Der Tote packt den Lebenden" – Teil 1

"Spain is different!" Dieser Slogan aus der Zeit der Franco-Diktatur galt bis vor kurzem auch noch für das seit 1978 demokratische Spanien. Mit dem Wahlerfolg der ultrarechten Partei Vox bei der Regionalwahl in Andalusien gilt dies nicht mehr. Essay in drei Teilen.
40 Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur: "Der Tote packt den Lebenden" – Teil 1Quelle: www.globallookpress.com

von Em Ell

Wesen ist, was gewesen ist.* (Pierre Bourdieu)

Weitere Teile dieser Serie:

Teil II – Francos langer Schatten

Teil III – Vox, die Stimme der Vergangenheit

Teil I – Spanien ist anders?

Im vergangenen Dezember jährte sich zum vierzigsten Mal die Annahme per Volksabstimmung der demokratischen Verfassung Spaniens von 1978 und ihr Inkrafttreten kurze Zeit später. Nach dem Tod des Diktators Franco im Herbst 1975 endete damit nach fast vier Jahrzehnten auch offiziell das diktatorische Regime der Franco-Zeit (1939-1978), an dessen Anfang 1936 der Militärputsch Francos gegen die legitime demokratische Regierung der Zweiten Spanischen Republik und ein äußerst blutiger und brutaler dreijähriger "Bürgerkrieg" (1936-1939) mit dem Sieg der Putschisten und der Errichtung einer faschistischen Diktatur in Spanien standen. So feiert das demokratische Spanien dieser Tage seinen 40-jährigen Geburtstag – und macht sich dabei selbst ein unbequemes Geburtstagsgeschenk. Denn ebenfalls im Dezember konnte die ultrarechte Partei Vox bei den Regionalwahlen in Andalusien, der bevölkerungsreichsten und zweitgrößten Region Spaniens, einen unerwarteten und unerwartet deutlichen Wahlerfolg feiern. Pünktlich zum vierzigsten Jubiläum der offiziellen Beerdigung des Geistes der Vergangenheit tritt genau dieser Geist so offensichtlich und öffentlich lebendig wie nie zuvor im Spanien der Nach-Franco-Zeit auf – und er schickt sich an, dauerhaft seinen Platz in der parteipolitischen Landschaft und den staatlichen Institutionen des Landes einzunehmen.

Lange galten Portugal und Spanien als sogenannte "iberische Ausnahmen" angesichts der Wahlerfolge betont rechter und nationalistischer Parteien in Europa und anderen Teilen der Welt (wie etwa auf den Philippinen, in Indien oder jüngst in Brasilien). Es hieß, die Erinnerung an die jahrzehntelangen faschistischen Diktaturen in beiden Ländern sei nach deren jeweiligem Ende vor gerade einmal vier Dekaden und damit weniger als zwei Generationen noch immer zu lebendig, als dass sich ein solcher Geist der Vergangenheit in Form einer relevanten eigenen parteipolitischen Stimme und Kraft formieren und etablieren könnte. Sie seien quasi immun vor solchen Entwicklungen, durch ihre eigene noch allzu frische diktatorische Vergangenheit und durch ihre nachfolgende, umso beachtlichere politische und gesellschaftliche Modernisierung hin zu freiheitlichen Parteiendemokratien und sozialstaatlichen Marktwirtschaften des Westens, integriert in das moderne Europa der Europäischen Union (EU) und Währungsunion (Eurozone). Wirtschaftlicher Erfolg und eine spürbare Verbesserung der Lebensqualität für die breite Bevölkerung, eine für die westlichen Demokratien und Marktwirtschaften typische breite Mittelschicht, die in beiden Ländern entstand, seien die Basis und der Garant für dauerhafte politische und gesellschaftliche Stabilität. Eine gesellschaftliche Gleichung – und Banalität –, die nicht nur für die liberalen Demokratien des Westens gilt, sondern auch für weniger liberale Systeme (etwa das der Volksrepublik China) bis hin zu totalitären Regimen – wie das der Franco-Diktatur. Schließlich lautete deren erklärtes politisches Programm: "Wir wollen ein Spanien von Hausbesitzern statt Proletariern" ("no queremos una España de proletarios sino de propietarios").

Dass und wie sehr diese Gleichung und entsprechend auch ihre Umkehrung gilt, konnte man in der Zeit der wirtschaftlichen Krise der 1930er Jahre (der großen Depression) und ihrer politischen Radikalisierung nach rechts mit der Ausbreitung des Faschismus in Europa sehen. Und man kann es erneut seit dem Ausbruch der wirtschaftlichen Krise des Neoliberalismus im Jahr 2007/2008 (der großen Rezession) in Europa und andernorts (etwa in den USA und in Brasilien) sehen. In dem Maße, in dem die materiellen Kosten der Krise von den politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen auf die breite Masse der einfachen Bevölkerungen abgeladen werden und die Spaltung der Gesellschaften in Arm und Reich Extreme wie im frühen 20. Jahrhundert annimmt, nimmt die gesellschaftliche und politische Instabilität und Radikalisierung, insbesondere nach rechts hin, zu. Das gesellschaftliche Fundament und Klima einer breiten Teilhabe und Zuversicht materieller und sozialer Stabilität erodiert und wird umgewandelt und kanalisiert in ein Fundament und ein Klima des Ausschlusses, der Ausgrenzung und der Angst vor materieller und sozialer Instabilität und Prekarisierung: Gesellschaftliches Miteinander durch die Bekräftigung eines Gegeneinanders, eines exklusiven, verdienten und gerechten "Wir gegen die Anderen", im Inneren wie Äußeren, entlang sichtbarer Merkmale wie nationaler, kultureller, religiöser, ethnischer, sexueller und materieller Unterschiede. In der Betonung der Konkurrenz, des Gegeneinanders und des verdienten gesellschaftlichen "eigenen" Erfolgs und gerechten wie rechtmäßigen Dazugehörens treffen sich der moderne Neoliberalismus und die reaktionäre politische Rechte. So auch in Spanien, das – im Gegensatz zum benachbarten Portugal – nun keine "iberische Ausnahme" mehr ist.

Vor dem besonderen geschichtlichen Hintergrund der Franco-Diktatur, seiner Überwindung bzw. Nicht-Überwindung in Form seines Übergangs (buchstäblich und offiziell heißt dieser historische Prozess im Spanischen: La Transición), überlagern sich in der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation Spaniens Entwicklungen auf lokaler, regionaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene. "Spanien ist anders!" Nein, nicht mehr. Und ja, sehr wohl. Denn so wie Spanien auch schon im Vorfeld und während der Franco-Zeit und seiner Einbettung in die geopolitischen Entwicklungen nicht wirklich anders, sondern Teil dieser Entwicklungen war (siehe Spanien: Von Diktatur, Geopolitik und der Krise der Parteiendemokratie – Teil 1), so hat der spanische Weg in dieser Entwicklung etwas Eigentümliches: Anders als in anderen Demokratien der Europäischen Union wird die extreme Rechte der Partei Vox nicht nur in den staatlichen Institutionen präsent sein, sondern für die etablierten rechten Parteien der Konservativen (Partido Popular/PP) und der Rechtsliberalen (Ciudadanos/Cs) ohne großes Zögern eine legitime Partei zur politischen Zusammenarbeit und Regierungsbildung – ganz so, wie es aktuell in Andalusien geschieht. Der Grund hierfür liegt in der Besonderheit der "Transición", des Übergangs Spaniens von der Diktatur zur Demokratie, die sich in diesen Tagen zum vierzigsten Mal jährt – und die ein ganz besonderes politisches Gemeinwesen in Spanien hervorgebracht hat, indem es das gesellschaftliche Gebäude einer liberalen Demokratie unmittelbar auf dem Fundament einer totalitären und faschistischen Diktatur errichtet hat. So massiv und stabil das Fundament, so fragil und instabil ist das auf ihm errichtete Gebäude. Doch bevor wir das spezifische Fundament der spanischen Demokratie betrachten, werfen wir für ein vollständigeres Bild noch einen Blick auf das Fundament der liberalen Demokratie selbst.

Das Fundament des liberalen Gesellschaftsmodells des Westens

Spanien ist mit seinem Übergang zu einer Demokratie und seiner anschließenden, auch offiziell vollendeten, Einbindung in die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Strukturen des Westens (EWG/EU, Eurozone, NATO) selbst Teil eines Gebäudes einer "liberalen Gesellschaftsordnung" geworden, das seinerseits auf massiven und stabilen Fundamenten einer illiberalen, oligarchischen und imperialen Machtordnung des Rechts des Stärkeren beruht. Die liberale Gesellschaftsordnung des Westens ist selbst Ausdruck und Resultat seiner Machtelite, die ihre etablierten Machtstrukturen nur soweit öffnete, dass sie ihre eigene Machtposition nicht wirklich bedrohte, sondern gemäß ihren Interessen transformierte und dadurch stabilisierte. So konnte (und musste) sie im Sinne des Universalismus der Aufklärung und nach entsprechenden langen sozialen Kämpfen im 19. und 20. Jahrhundert schließlich die "Macht des Volkes" durch republikanische und formale demokratische Freiheit und Teilhabe mit einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht des Volkes anerkennen bzw. zugestehen. Doch nur weil – und in dem Maße, in dem – sie gleichzeitig eben diese Macht des Volkes für ihre eigenen Machtpositionen und Interessen risikolos organisieren, einschränken und kanalisieren konnte (und musste), insbesondere durch die Steuerung der Wahlmöglichkeiten im Rahmen der repräsentativen Parteiendemokratie sowie der "Erziehung" bzw. Bildung der breiten Bevölkerung und "öffentlichen Meinung" durch das Bildungs- und Mediensystem (auch das weite Feld des Wissenschafts- sowie des Kunst- und Kulturbetriebes ist hier zu nennen). Das materielle Fundament dieser liberalen Gesellschaftsordnung, die Wirtschaftsordnung, wurde nicht "liberalisiert" bzw. demokratisiert, sondern durch die Verbesserung der Lebensverhältnisse der breiten Bevölkerung mit dem Entstehen einer breiten Mittelschicht "befriedet". Eine tatsächliche demokratische Teilhabe und Änderung der Eigentums- und damit Machtverhältnisse in der Wirtschaftsordnung sind jedoch etwas grundsätzlich anderes als lediglich eine Beteiligung an den Früchten derselben. Ohne eine Demokratisierung der Wirtschaftsordnung als Fundament der Gesellschaftsordnung ist und bleibt ein "sozialer Frieden" lediglich ein von den Machteliten "von oben" zugestandener, erkaufter und gekaufter, kein wirklich "von unten" aufgebauter, erlebter und gelebter.

Trotz einer Fundierung in den liberalen universellen Werten und Menschenrechten der Aufklärung gegen den ständestaatlichen Feudalismus und Absolutismus bleibt das maßgebliche und diesen Werten widersprechende Fundament der liberalen Gesellschaftsordnung in Form der materiellen und sozialen Unterschiede einer vermeintlich "klassenlosen Leistungsgesellschaft" intakt. Entsprechend sind in den formal demokratisierten Machtstrukturen der repräsentativen Parteien- und Wahldemokratie sowie speziell deren Bildungs- und Medienwesen die für dieses System zur Ausübung und Erhaltung der Macht fundamentalen Mechanismen und Techniken wie Korruption und Manipulation fest etabliert: insbesondere die Techniken des massiven Lobbyismus durch einseitige Beeinflussung und Bildung der "öffentlichen Meinung" anstelle eines offenen und aufgeklärten Diskurses, bis hin zur vorsätzlichen Täuschung mittels Marketing und "Public Relations" – und damit die grundlegenden Elemente verkürzender, verschleiernder und irreführender populistischer Rhetorik, Agitation und Demagogie. So ist und bleibt auch das Menschenbild dieser Gesellschaft entsprechend verkürzt und schief und den Werten der Aufklärung widersprechend. Denn in dem Maße, in dem es mit der neoliberalen Betonung "individueller Leistungsgerechtigkeit und Verantwortlichkeit" (auf der Basis "formaler Chancengleicheit") von deren strukturell ungerechten sozialen und materiellen Bedingungen und Verantwortlichkeiten (den realen Chancenungleicheiten) absieht, macht es den Einzelnen für seinen Erfolg und Misserfolg in einem Maße verantwortlich, das jenseits seiner eigenen Verantwortlichkeiten liegt. Womit ganz im Sinne der tatsächlich maßgeblichen Macht- und Verantwortungsverhältnisse durch deren Machtelite eben diese real "herrschenden Verhältnisse" verschleiert werden sowie von ihnen effektiv abgelenkt werden kann (tatsächliche Opfer werden zu Tätern und Sündenböcken erklärt, tatsächliche Täter entziehen sich ihrer Verantwortung) und mitunter offenem Sozialdarwinismus und – angesichts der historischen Erfahrungen speziell des 20. Jahrhunderts – blankem Zynismus Tür und Tor geöffnet wird.

Sehr wohl gab es in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine spürbare Verbesserung der materiellen, sozialen und politischen Verhältnisse in den liberalen westlichen Gesellschaften, insbesondere bis zum Durchsetzen der neoliberalen Wende Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre – just zu dem Zeitpunkt, als in Spanien der Übergang von der Diktatur zur Demokratie und damit seine auch offizielle Eingliederung in den Westen erfolgte. Doch dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kern und das Fundament dieser liberalen Gesellschaftsordnung, seine Wirtschaftsordnung, auf Ausbeutung und Übervorteilung und damit auf dem Prinzip "auf Kosten anderer" (nicht zuletzt auf Kosten der Natur im Allgemeinen), auf dem Recht des Stärkeren, auf struktureller und in letzter Konsequenz auf physischer und militärischer Gewalt beruht. In den "goldenen Zeiten des Kapitalismus", während des Kalten Krieges und der "Systemkonkurrenz" zwischen Ost und West sowie des noch bis in die 1970er Jahre existierenden Kolonialismus, konnte sich diese Gewalt auf Kosten anderer vornehmlich nach außen, gegen den Ostblock und die vom Kolonialismus geprägten Drittweltstaaten, richten und dafür die westlichen Gesellschaften nach innen und als Zeichen der Überlegenheit und des Erfolgs des Westens im Kampf gegen den Osten "in der Breite" prosperieren und befrieden lassen. Und mit dem Durchsetzen des neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells sowie dem wenig später folgenden Zusammenbruch des Ostblocks konnten sich die Machteliten des Westens tatsächlich als überlegen und als uneingeschränkte Sieger erleben und versuchen, dem Erfolgsmodell des Westens (dessen "Betriebssystem") so umfassend und global und unumkehrbar ("das Ende der Geschichte") wie möglich zum Siegeszug zu verhelfen. Das Prinzip des "freien Marktes" (analog zum Prinzip der lediglich "formalen Chancengleicheit") und der ständigen Konkurrenz in einem globalisierten Wettbewerb sollte als "alternativlos" in einer "marktkonformen Demokratie" von ganzen Gesellschaften bzw. Staaten ("Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften") bis hinunter zu jedem einzelnen Gesellschaftsmitglied ("Ich-AG", "wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht") umfassend und daher im Wortsinne "totalitär" durchgesetzt werden.

Jede alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, jeder "Dritte Weg" – etwa des sozialdemokratischen skandinavischen Modells Schwedens, an dem sich insbesondere Michael Gorbatschow, der letzte Staatspräsident der Sowjetunion, für eine gemeinsame Neuordnung der Welt zwischen Kapitalismus und Kommunismus nach dem Ende des Kalten Krieges orientieren wollte, oder das Modell Jugoslawiens – konnte (und musste) gemäß den eigenen siegreichen Überzeugungen, Überlegungen und Überlegenheit des westlichen Systems verhindert werden – wenn nötig mit Gewalt (vom Militärputsch und den "Chicago Boys" in Chile über die Diskreditierung und schließlich Ermordung des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme bis hin zur kriegerischen Zersetzung Jugoslawiens). Damit war der Weg frei für diese liberale Gesellschaftsordnung und die ihr eigene Gewalt und Dynamik des Rechts des Stärkeren auf Kosten anderer konnten auch wieder verstärkt im Inneren der Gesellschaften wirken und legitimiert werden. An die Stelle der Schaffung und Bewahrung eines sozialen Friedens durch breite (gar demokratische) Teilhabe und Verteilung der Lasten – auch und gerade "in enger werdenden Zeiten" – tritt zunehmend eine autoritäre Durchsetzung und Instrumentalisierung, Beherrschung und Stabilisierung von sozialem Unfrieden (gesellschaftliche Spaltung, Unsicherheit und Krise) durch Teile und Herrsche (man denke auch hier an George Orwells "1984" und dessen Kapitel zu "Die Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus": "Langfristig war eine hierarchische Gesellschaft nur auf der Grundlage von Armut und Unwissenheit möglich").

Dieses massive und stabile Fundament der Gewalt der liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung erschüttert und zersetzt das unmittelbar auf ihm errichtete und damit entsprechend fragile und instabile Gebäude der "Herrschaft des Volkes", der Demokratie. In einer Zeit, in der diese Erschütterungen und Zersetzungen der liberalen Demokratien des Westens durch deren neoliberale Wende in die Wege geleitet wurden, wurde eine solche liberale Demokratie in Spanien auf den massiven und stabilen Fundamenten seiner eigenen spezifischen Gewaltherrschaft errichtet (siehe Spanien: Von Diktatur, Geopolitik und der Krise der Parteiendemokratie – Teil 2). Und "in einer enger werdenden Zeit", in der verschärft seit dem Ausbruch der neoliberalen Krise 2007/2008 sowohl das globale Gebäude der westlichen Ordnung durch die Dominanz und Gewalt seiner Hegemonialmacht USA als auch – und damit zusammenhängend – das kontinentale Gebäude der Europäischen Union und Währungsunion durch die Dominanz und Gewalt seiner Hegemonialmacht Deutschland gegenüber seinen europäischen Partnern und Konkurrenten (Beggar-thy-Neighbor-Politik) zunehmend erschüttert werden, wird als ein Teil dieser Ordnungen auch das nationale Gebäude Spaniens zunehmend erschüttert – entlang der spezifischen Bruchlinien des Fundaments, auf dem es errichtet wurde (siehe Spanien: Von Diktatur, Geopolitik und der Krise der Parteiendemokratie – Teil 3). Und so wie andernorts (aktuell etwa in den USA und Brasilien) präsentieren sich in den Zeiten der gesellschaftlichen und politischen Polarisierungen speziell gen rechts ausgerechnet Teile, Profiteure und Erfüllungsgehilfen der für dieses System und dessen Erschütterungen verantwortlichen Machteliten als berufene Retter und Neukonstrukteure desselben – und rufen auch damit Erinnerungen an die Vergangenheit des Franco-Regimes hervor, das als berufener Retter zum "Wohle Spaniens" bzw. seiner traditionellen Machteliten und ihrer Privilegien lediglich aus "patriotischer Pflicht" das tat, was es tun musste. Indem es gegen die demokratisch legitimierte Regierung der Zweiten Spanischen Republik putschte und eine äußerst brutale und totalitäre, fast vierzig Jahre lang dauernde Diktatur errichtete.

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Das Fundament des demokratischen "Regimes von 1978" in Spanien

Je mehr man versucht, die 'Legitimität' des politischen Systems und der Rechtsordnung der Verfassung von 1978 im historischen Prozess der 'Transition' zu rechtfertigen, desto mehr wird der 'grundlegende Mythos' und sein Ergebnis entwertet.

Die beiden Schlüsselinstitutionen, die die 'Transition' vollzogen haben, die Monarchie und die Cortes Generales [Spanisches Parlament], wurden von General Franco als erste und von den Cortes franquistas ['Parlament' der Diktatur] als zweite durch 'La Ley para la Reforma Política' ['Das Gesetz für politische Reformen'] definiert. Beide Institutionen wurden so in die Verfassung aufgenommen, wie sie von General Franco im ersten und von den 'organischen' Cortes im zweiten Fall definiert wurden. Die Monarchie und das Parlament der Verfassung von 1978 sind im Wesentlichen 'vorverfassungsmäßig'. Sie wurden nicht von dem Parlament, das die Verfassung ausgearbeitet hat, definiert, sondern einfach in die Verfassung übernommen.

Die 'Transition' und die Verfassung wurden dadurch mit einem Defizit an demokratischer Legitimität bemerkenswerter Herkunft gestaltet. Einem Defizit, das in diesen vierzig Jahren nicht im Geringsten korrigiert wurde. Das ist der Grund, weshalb auf die fortschreitende institutionelle Erosion, wie sie immer und überall stattfindet und durch den bloßen Lauf der Zeit entstanden ist, nicht reagiert wurde. Die Unfähigkeit, die in der Verfassung vorgesehenen Reformverfahren zu aktivieren, liegt in diesem Defizit ihrer ursprünglichen demokratischen Legitimität.

Das Problem ist, dass dieser 'Mangel' vom König und dem Parlament anerkannt werden muss und dass letzteres die einzige Institution ist, die ihn korrigieren könnte. Das ist die Mausefalle, in der wir uns befinden. Es sind die institutionellen Träger des Mangels der demokratischen Legitimität, die diesem Mangel ein Ende setzen müssen. Dazu muss die Existenz dieses 'Mangels' anerkannt werden. Und das ist es, was in der Rede des Königs nicht einmal andeutungsweise zu sehen war.

So lautet die essenzielle Bestandsaufnahme des spanischen (andalusischen) Verfassungsrechtlers Javier Pérez Royo zu Ursprung, Entwicklung und Zustand des demokratischen "Regimes von 1978" ("el régimen de 1978") in Spanien – der Verfassung, die für das Land gilt (seine oberste Rechtsnorm) und in der es sich befindet (sein Zustand) – anlässlich der Rede des spanischen Königs Philipp VI. zum vierzigsten Verfassungsjubiläum, die zu diesem fundamentalen Mangel der spanischen Verfassung schwieg. Philipp VI. überging in seiner Rede nicht nur diese geschichtliche Erinnerung zum Fundament der heutigen spanischen Demokratie, sondern insbesondere auch die Opfer der schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise seit 2008 und die Bedrohung durch die extreme Rechte in Spanien seit der andalusischen Regionalwahl wenige Tage zuvor. Darüber hinaus berief sich der König in seinen Worten ausdrücklich auf die "Vorherrschaft des Rechts" als dem Fundament des Rechtsstaates – speziell zur Lösung der "katalanischen Frage" angesichts ihrer Eskalation rund um die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien – und feierte die aktuelle spanische Verfassung als eine ganz besondere in der spanischen Geschichte, da sie "die erste wirkliche Frucht von Übereinstimmung und Verständnis und nicht von Auferlegung ist". Mit diesen Worten entwertete er die Verfassung der Zweiten Spanischen Republik von 1931, die im Gegensatz zu der von 1978 tatsächlich von einer demokratisch konstituierten verfassungsgebenden Versammlung ausgearbeitet, debattiert und verabschiedet wurde – und somit seine eigenen Worte zur Vorherrschaft des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, da eben jene demokratisch legitimierte verfassungsmäßige Ordnung von 1931 durch den Militärputsch und die Diktatur Francos hinweggefegt wurde. Zwar sprach der König von der "Rückkehr Spaniens in die Demokratie Europas" und deutete damit zumindest implizit eine Anerkennung der Zweiten Spanischen Republik und eine Kritik am Franquismus an. Doch weiter und tiefer reichte die historische Erinnerung und Aufarbeitung seitens des spanischen Staatsoberhauptes nicht.

Pérez Royo beschreibt des Weiteren drei konkrete Anzeichen für die Krise der verfassungsmäßigen Ordnung Spaniens:

Das erste Anzeichen betrifft die Legislative, das spanische Parlament und damit direkt die Souveränität des spanischen Volkes als "Gesetzgeber". Denn Spanien war 2015 das erste westeuropäische Land, in dem Parlamentswahlen wiederholt werden mussten, da es zu keiner parlamentarischen Regierungsbildung kam. Und als eine solche parlamentarische Mehrheit für die zweite Amtszeit von Mariano Rajoy (PP) als Ministerpräsident einer konservativen Regierung zustande kam, so galt diese Mehrheit nur für ihn zur Bildung einer Regierung. Sie galt jedoch im Weiteren nicht für seine Regierung, die keine parlamentarische Regierungsmehrheit besaß. Eine Situation, die bis heute anhält. Denn auch der derzeitige Ministerpräsident einer sozialdemokratischen Regierung, Pedro Sánchez (PSOE), der durch ein erfolgreiches konstitutives Misstrauensvotum gegen die Regierung Rajoy im Juni 2018 ins Amt kam, verfügt über keine parlamentarische Regierungsmehrheit. Dieser Mangel einer parlamentarischen Regierungsmehrheit führt in der parlamentarischen Praxis dazu, dass die Regierung kontroverse Gesetze nicht mehr in eine parlamentarische Debatte einbringt, sondern sie in Form des in der Verfassung nur als Ausnahmeverfahren vorgesehenen Dekrets erlässt. Dies gilt auch für Entscheidungen zum Staatshaushalt, der parlamentarischen Kernkompetenz (Budgetrecht) schlechthin. Und soweit es keine parlamentarische Aktivität zur Gesetzgebung gibt, gibt es auch keine tatsächliche parlamentarische Kontrolle der Regierung.

Das zweite Anzeichen betrifft die territoriale Verfassung, die sich seit der Entscheidung des Verfassungsgerichts 2010 über die Reform der Verfassung der autonomen Region Katalonien in der Krise befindet. Diese mündete in einen Konflikt, der politisch außer Kontrolle geraten ist und in die spanische Justiz verlagert wurde (um eine im Kern politische Frage juristisch zu entscheiden, statt sie politisch tatsächlich zu lösen). Eine "verfassungsmäßige Normalität" wird es erst wieder geben, wenn Katalonien in einer Weise in den spanischen Staat integriert ist, die sowohl für die Bürger Kataloniens als auch für die der anderen Regionen Spaniens akzeptabel ist.

Das dritte Anzeichen betrifft die Monarchie, für die bis zum zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kein nennenswertes Problem bestand. Doch dieser Zustand endete mit den Skandalen rund um König Juan Carlos I., die schließlich zu dessen Abdankung zugunsten seines Sohnes Philipp VI. führten. Seitdem steht die Debatte über die Monarchie auf der politischen Agenda, und es ist nicht absehbar, dass sie verschwinden wird.

Insgesamt befindet sich die "große Vereinbarung für das politische und soziale Zusammenleben in Spanien", die Verfassung des Landes, in einer fundamentalen Krise: wirtschaftlich und sozial seit dem Ausbruch der Krise des Neoliberalismus 2007/2008, institutionell hinsichtlich der Monarchie und der parlamentarischen Gesetzgebung und Kontrolle, territorial durch die ungelöste "katalanische Frage". Verschärfend hinzu kommen noch weitere krisenhafte Erschütterungen staatlicher Institutionen und Fundamente durch massive Probleme und Skandale im Justizwesen (politische Entscheidungen, insbesondere gegen politische Gegner), dem Sicherheitsapparat (gezielter Einsatz gegen politische Gegner), den Parteien (grassierende Korruption mit "schwarzen Kassen" und "Drehtüren" zwischen Politik, Verwaltung und Wirtschaft) sowie die auch in Spanien mit dem Neoliberalismus eingetretene generelle Krise des politischen Systems des liberalen Gesellschaftsmodells des Westens (dessen Polarisierung, bis hin zur Auflösung des lange Zeit stabilen Quasi-Zweiparteiensystems mit seinen sich in der Regierung abwechselnden konservativen und sozialdemokratischen Volksparteien). All diese krisenhaften Entwicklungen in Spanien stehen auf die eine oder andere Weise und zum Teil unmittelbar mit dem Erbe der Franco-Diktatur in Verbindung.

Dies ist das Krisenszenario im demokratischen Spanien zu seinem vierzigsten Geburtstag. Die jüngsten Wahlen in Andalusien haben es lediglich bestätigt. Schon in ihrem Vorfeld schrieb der spanische (andalusische) Professor und Publizist für politische Ökonomie, Juan Torres López:

Der während der 'Transition' in Spanien entstandene Politikstil mit seinen großen Vorteilen und Tugenden und seinen unbestreitbaren Mängeln ist längst nicht mehr lebensfähig. Denn seine führenden Protagonisten haben daran mitgewirkt, oder es nicht verhindert, den politischen Raum in etwas Schmutziges, sehr Korruptes und "Kainisches" zu verwandeln. Und weil es für die einfachen Menschen, die mit der großen Wirtschaftskrise konfrontiert sind, beweist, dass dieses System vor allem die Mächtigsten schützt.

Es bleibt jetzt noch zu sehen, welche Entwicklungsrichtung sich aus dieser Krise des Regimes ergibt. Diese Art der Politik, wie sie sich entwickelt hat, kann Spanien nicht mehr lange aushalten: die ständige und unfaire Konfrontation, verbale und symbolische Gewalt, Misstrauen, Korruption, der Niedergang der Industrie und der Produktionstätigkeit, die Kontrolle unserer Wirtschaft durch ausländische Interessen und die Unmöglichkeit zu entscheiden, was uns gehört, die Ungleichheit, die mehr als irgendwo sonst in Europa wächst, der Verlust einer Generation junger Menschen... Die Trumpsche Versuchung steht vor der Tür. Und in einer Gesellschaft, in der es ein solches Ausmaß gefälliger Erinnerung an eine Diktatur gibt, kann jederzeit das Schlimmste passieren.

Spanien ist dem Wandel verpflichtet. Und in Andalusien geht es darum, ob der erste Schritt in die eine oder andere Richtung getan wird. Was auch immer die Ergebnisse (...) sein mögen, sie öffnen die Tür zu einer neuen historischen Etappe, zumindest in Andalusien und sicherlich in ganz Spanien.

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(*) "Es ist wahr, dass das gesellschaftliche Sein das ist, was gewesen ist, aber auch das, was einmal gewesen ist, für immer nicht nur in die Geschichte, was sich von selbst versteht, sondern in das gesellschaftliche Sein, in die Dinge und auch die Körper eingeschrieben ist. Die Vorstellung einer offenen Zukunft, mit unbegrenzten Möglichkeiten, hat verdeckt, dass jede neue Wahl (und seien es auch die nicht getroffenen des Laisser-faire) das Universum der Möglichkeiten weiter einschränkt oder genauer, das Gewicht der in den Dingen und den Körpern instituierten Notwendigkeit anwachsen lässt, mit der eine Politik rechnen muss, die auf andere Möglichkeiten und insbesondere auf die sukzessive ausgeschlossenen gerichtet ist. Der Prozess der Instituierung, der Etablierung, d.h. die Objektivation und Inkorporation als Akkumulation in den Dingen und den Körpern eines ganzen Ensembles von historischen Errungenschaften, die den Stempel ihrer Produktionsbedingungen tragen und die Tendenz haben, die Bedingungen ihrer eigenen Reproduktion zu erzeugen (schon durch den Effekt der Bedürfnisweckung, den ein Gut allein durch seine Existenz ausübt), negiert in einem fort alternative Möglichkeiten. In dem Maße, wie die Geschichte voranschreitet, werden diese Möglichkeiten unwahrscheinlicher, ihre Verwirklichung schwieriger, weil ihr Übergang ins Dasein die Vernichtung, Neutralisierung oder Rückverwandlung eines mehr oder minder großen Teils des geschichtlichen Erbes, das auch Kapital ist, zur Voraussetzung hätte. Selbst diese Möglichkeiten überhaupt zu erkennen, wird schwieriger, aus dem Grund, weil die Denk- und Wahrnehmungsschemata stets das Produkt zu Dingen gewordener früherer Entscheidungen sind. Jede Aktion, die darauf abzielt, dem Wahrscheinlichen, d.h. der in die bestehende Ordnung objektiv eingeschriebenen Zukunft, das Mögliche entgegenzusetzen, muss mit dem Gewicht der verdinglichten und inkorporierten Geschichte rechnen, die wie in einem Alterungsprozess dazu tendiert, das Mögliche auf das Wahrscheinliche zu reduzieren." (Pierre Bourdieu – Der Tote packt den Lebenden)

RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Fortsetzung: Teil II – Francos langer Schatten

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Liberale Gesellschaftsordnung / Neoliberalismus

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