Europa

"Moderne Kanonenbootdiplomatie" – Wie Varoufakis die EU entblößt (Teil 2)

Im zweiten Teil der Rezension des Buches des ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis zur Griechenland-Krise und seinen Verhandlungen mit dem EU-Establishment geht es um die wahren Machtverhältnisse in der EU. Diese legt Varoufakis offen.
"Moderne Kanonenbootdiplomatie" – Wie Varoufakis die EU entblößt (Teil 2)Quelle: AFP

von Hasan Posdnjakow

Varoufakis liefert ein vernichtendes Urteil über die Tricksereien der EU-Elite ab, die er in seinem Buch detailgetreu schildert:

Uneingeweihte könnten vielleicht glauben, diese Eurozonen-Trickserei sei die Folge von Inkompetenz seitens des Gegners. […] Die Trickserei ist eine bewusste Methode, Kontrolle über die Regierungen von Ländern auszuüben, deren Bankensektor oder öffentlicher Sektor in finanzielle Schieflage geraten ist. Für Politiker wie Wolfgang Schäuble ist sie ein fester Bestandteil ihrer Tätigkeit in den Gremien der Eurozone."

Ein Beispiel für diese "Trickserei": Varoufakis und chinesische Vertreter einigten sich darauf, dass China 1,5 Milliarden Euro in kurzfristige griechische Staatsanleihen investieren würde. Die Chinesen kauften aber nur einige hundert Millionen. Es stellte sich heraus, dass Berlin die Vereinbarung sabotiert hatte. Die deutsche Regierung warnte Peking davor, größere Mengen zu investieren, ehe eine Vereinbarung zwischen Athen und der Troika zustande gekommen sei.

Von Anfang an drohen Vertreter der Troika der neuen Regierung mit ernsthaften Konsequenzen für den Fall, dass sie sich nicht an die bestehenden Schuldenvereinbarungen hält. Troika-Bevollmächtigte drohen etwa damit, die griechischen Banken zu schließen und sogar mit dem Rauswurf der Hellenen aus der Eurozone.

Der vermutlich wertvollste Verdienst von Varoufakis ist jedoch, die wahren Machtverhältnisse in den Schaltzentralen der EU offenbart zu haben. Beispielhaft seine Schilderung der Verfahrensweise der Eurogruppe, also des inoffiziellen Finanzausschusses der Eurozone: Zu jedem Tagesordnungspunkt äußern zuerst die (nicht-gewählten) "Institutionen" (IWF, EZB und EU-Kommission) ihre Meinung und bestimmen dadurch maßgeblich die Debatte. Dann äußern sich die gewählten Minister, die, so Varofakis, "keine substantiellen Informationen" erhalten. Weiter Varoufakis:

Ein vernünftiger und unparteiischer Beobachter hätte den Zweck der Eurogruppe schnell erkannt: Die Minister sollten Entscheidungen, die von den drei Institutionen bereits getroffen worden waren, zustimmen und sie damit legitimieren."

Wie verkehrt die Welt der Eurokraten ist, lässt sich aus folgendem Bericht von Varoufakis nachvollziehen: Kommissionspräsident Juncker und EU-Kommissar Moscovici schlugen während eines Eurogruppen-Treffens einen Kompromiss zu dem abschließenden Kommuniqué vor, dem die griechische Seite zugestimmt hätte. Doch Jeroen Dijsselbloem, als Vorsitzender der Eurogruppe theoretisch weniger befugt als Moscovici, sträubte sich vehement dagegen und erniedrigte dabei sogar Moscovici. Dijsselbloem konnte sich das erlauben, weil er ein wichtiger Verbündeter von Schäuble war.

Dem Ex-Finanzminister zufolge stand die Eurogruppe vollständig unter der Kontrolle Schäubles. Die Finanzminister der osteuropäischen Staaten seien auf den Sitzungen der Gruppe als seine "Cheerleader" aufgetreten.

Eine weitere Anekdote illustriert, wie undemokratisch die EU, das Lieblingsprojekt der grünliberalen Meinungsmachermehrheit, tatsächlich ist: Bei dem erstem Treffen der Eurogruppe begrüßte der französische Finanzminister vorsichtig die Vorschläge von Varoufakis, wurde dann aber schnell von Schäuble zurechtgewiesen, mit dem Hinweis:

Man kann nicht zulassen, dass Wahlen die Wirtschaftspolitik beeinflussen."

Noch ein Beispiel: Das Sekretariat der Eurogruppe verhinderte unter Verweis auf fadenscheinige Argumente sogar, dass Varoufakis seine Vorschläge den Finanzministern der anderen Eurostaaten schriftlich unterbreiten konnte. Eurozonen-Verantwortliche erklärten ihm gegenüber, dass, wenn er dennoch Emails an seine Finanzministerkollegen mit den Vorschlägen schicken würde, man diese auf der Sitzung nicht besprechen würde. Später erklärt Varoufakis, dass ähnliche kindische Sabotageversuche erfolgten, etwa in der Form, dass man ihm die Emails, Telefonnummern und andere Kontaktdaten von wichtigen Entscheidungsträgern der Troika-Institutionen nicht nannte, obwohl er sie für seine Arbeit als Finanzminister und Chefunterhändler Griechenlands benötigte.

Varoufakis beschreibt, wie Brüssel ständig negative Halb- und Unwahrheiten an die westliche Presse über die griechische Regierung durchsickern ließ. Er spricht von einer koordinierten Rufmordkampagne. Am Anfang seiner Amtszeit hatte er eine Warnung von einem Mitarbeiter des US-Finanzministeriums erhalten, dass es eine derartige Kampagne geben würde. An mehreren Stellen beschreibt er diese Medienmacht der EU-Bürokratie als "Brüssels Propagandamaschine".

Durch die Berichte von Varoufakis erhalten wir auch weitere Belege für etwas, was schon länger auf der Hand lag: Die antisoziale Grundeinstellung, die in den Chefetagen der EU vorherrscht. So berichtet Varoufakis, dass der von Schäuble eingesetzte Klaus Regling, Leiter des Rettungsfonds der Eurozone, auf die Frage von Varoufakis, ob die griechische Regierung, wenn keine Einigung zwischen der Troika und Athen erzielt wird, die Renten und Gehälter oder eine bald fällige Rate an den IWF zahlen soll, antwortete:

Ihr dürft auf gar keinen Fall gegenüber dem IWF zahlungsunfähig werden. Verschiebt lieber die Rentenzahlungen."

Die Härte, mit der die Troika gegenüber der neuen Regierung in Griechenland auftrat, erklärt Varoufakis so:

Im Frühjahr 2015 hatten die griechischen Gläubiger schlicht und ergreifend keine Lust zu verhandeln. Sie waren vielmehr entschlossen, ihre Herrschaft über ein rebellisches Volk ihres Imperiums wiederherzustellen, damit andere Untertanen nicht auf dumme Gedanken kamen. […] In Wirklichkeit erlebten wir eine moderne Form der Kanonenbootdiplomatie des British Empire im 19. Jahrhundert."

Varoufakis schildert einen weiteren Grund, warum Griechenland auf dem Austeritätsaltar vom Sparschweinkönig Schäuble geopfert wurde. Quellen aus dem Umfeld des Multimilliardärs George Soros hätten folgende Nachricht durchsickern lassen:

Europa kann es sich nicht leisten, zwei offene Wunden auf einmal zu haben – Griechenland und die Ukraine. Athen muss gegenüber Deutschland kapitulieren, damit Europa sich ganz der Lösung der Ukraine-Krise widmen kann."

Dieses und vieles mehr wird in einer fast literarisch-flüssigen, leichten Weise im Polit- und Finanzthriller von Yanis Varoufakis geschildert. Aus Platzgründen konnte hier etwa auf die Spannungen, Hoffnungen und Enttäuschungen innerhalb der griechischen Regierungspartei Syriza gar nicht eingegangen werden. Sie würden viele weitere Seiten Kommentar erfordern.

"Die ganze Geschichte" sei jedem, der sich ernsthaft mit der Eurokrise und der Schuldknechtschaft Griechenlands befassen möchte, wärmstens empfohlen: Sowohl denjenigen, die bereits die progressive Masche der EU durchblicken und ihr zutiefst antidemokratisches Wesen erkannt haben, sie werden mit vielen konkreten Belegen für dieses Urteil beliefert, als auch denjenigen, die noch Illusionen bezüglich des vermeintlich emanzipatorische Projektes hegen, denn sie werden von diesen Wahnerscheinungen schnellstens kuriert werden. Auch wenn das vielleicht gar nicht das Ziel von Varoufakis war, als er dieses Buch niederschrieb. Nach der Lektüre des Buches kann getrost festgestellt werden: Das einzige, wovon sich die EU und die EU-Staaten emanzipieren wollen, sind ihre eigenen Bürger und die Demokratie.

Yanis Varoufakis: Die Ganze Geschichte: Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment, Verlag Antje Kunstmann, ISBN 978-3-95614-202-4.

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