Europa

Experte des Europa-Instituts: Wir sollten endlich über rechtswidrige Auflösung der UdSSR sprechen

Eine nüchterne Bestandsaufnahme der russisch-europäischen Beziehungen zeichnete der führende Germanist des Europa-Instituts in Moskau, Wladislaw Below, beim Potsdamer Außenpolitischen Dialog. Selektive Anwendung des Völkerrechts sei dabei das erste Problem.
Experte des Europa-Instituts: Wir sollten endlich über rechtswidrige Auflösung der UdSSR sprechen© Christian Spicker

Der wichtigste Vorwurf gegen Russland vonseiten der EU lautet, Russland habe mit der Aufnahme (im EU-Sprachgebrauch als "Annexion" bezeichnet) der Autonomen Republik Krim in sein Staatsgebiet am 18. März 2014 zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte die "Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa" erschüttert. Dieser Vorwurf ist auch in OSZE-Dokumenten festgelegt und gehört zum obligatorischen Politvokabular aller EU-Staaten, darunter auch Deutschland.

Helsinki-Prinzip bei UdSSR nicht angewendet

Dabei berufen sich alle EU-Gremien auf die Helsinki-Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vom 1. August 1975 und das darin festgehaltene Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen. Damals wurde das Dokument von der Führung der Sowjetunion unterzeichnet und Russland als legitimer Nachfolger der UdSSR habe das Dokument mit der "Krim-Annexion" verletzt.  

Diese Behauptung ist einer verzerrten doppeldeutigen Auslegung des Völkerrechts geschuldet, meint der russische Deutschland-Experte Wladislaw Below. Mit seiner Auswertung von Rechtmäßigkeiten bei den Fragen der Grenzverschiebung begann er seinen Vortrag beim diesjährigen Potsdamer Außenpolitischen Dialog.  

Wenn die deutsche Wiedervereinigung einen internationalen Rechtsrahmen durch "Zwei plus Vier"-Gespräche bekam, erfolgte die Auflösung der Sowjetunion in einem völkerrechts- und verfassungswidrigen Umfeld. Die Scheidung der Sowjetrepubliken erfolgte nach dem Willen von Jelzin und einer Parteinomenklatura und nicht gemäß dem Wunsch der vielen sowjetischen Völker, die in zahlreiche Unions- und Autonomrepubliken lebten. Die Auflösung geschah trotzdem, obwohl die innersowjetischen Grenzen kein Bestandteil der bislang unangefochtenen Helsinki-Akte gewesen seien. Man habe diese Grenzen rückwirkend für völkerrechtskonform erklärt.

Jelzin "schenkte" die Krim erneut an die Ukraine 

So sei es auch mit der Krim gewesen. Die Krim war gemäß Gesetz des Obersten Rates der UdSSR vom 3. April über die Regelung eines Austrittes aus der Sowjetunion per Referendum vom 21. Januar 1991 zu einem Subjekt der Sowjetunion geworden und damit zur sechszehnten Unionsrepublik, was auch wenige Wochen später in der Verfassung der ukrainischen SSR festgelegt wurde.

Niemand redet darüber, dass die Auflösung der UdSSR völkerrechtswidrig war, genauso wie die Übergabe der Krim an die Ukraine im Jahr 1992. Die Krim hatte den Status einer Unionsrepublik, was auch die Verfassung der ukrainischen SSR bestätigte. Nach der Auflösung der Sowjetunion per Beloweschski-Akte im Dezember 1991 wurde die Republik aber lediglich nach Anweisungen Jelzins zurück in die Ukraine geführt. Eben das war eine Annexion!", verdeutlichte der Politologe seine Position im Gespräch mit RT Deutsch.

Die Aufnahme der Republik Krim in das russische Staatsgebiet im März 2014 sei der Übergang von einer staatlich-rechtlichen Jurisdiktion in die andere gewesen. Da er in einer grauen Zone des Völkerrechts erfolgte, sei dieser Übergang durchaus diskussionswürdig, aber es sei keine Annexion gewesen, so der Experte. Außerdem sei das Referendum über die Unabhängigkeit auf der Krim am 16. März 2014 völlig gewaltfrei gewesen, betonte Below.

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Wladislaw Below leitet seit 26 Jahren das Zentrum für Deutschlandstudien im Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften und hat sich in dieser Zeit einen Namen als bester Deutschland-Kenner gemacht. Er ist bekannt für seine ausgewogenen und gemäßigten Positionen, vor allem, wenn es um die Vorschläge an die Politik geht. Doch auch ihm platzt manchmal der Kragen, wenn er ständig von den deutschen Kollegen von der "Annexion" hört.

Ich frage sie dann: War der Staatsstreich in Kiew verfassungswidrig oder nicht? Diese Frage mag mir keiner beantworten", sagte Below auf der Konferenz in Potsdam.

Das ausgeschlagene Angebot

Laut Below haben Doppelmoral, unehrliches Verhalten und mangelnde Bereitschaft im Westen, russische Sicherheitsbedürfnisse ernst zu nehmen, dazu geführt, dass Russland und der Westen nun gegenseitig einander als Gegner rezipieren. Dabei unterscheidet der Experte sehr wohl zwischen Europa und den USA. Es bestünden gute Chancen auf eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Russland und Europa. Die letzte Chance, einen gemeinsamen Sicherheitsraum in Europa zu schaffen, liege allerdings nun fast zehn Jahre zurück.

Damals – im Juni 2010 – warb der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew auf internationaler Bühne für die Schaffung einer gesamteuropäischen Sicherheitsgemeinschaft, die von Vancouver bis Wladiwostok reichen sollte. Neben allen europäischen Staaten und Russland sollte das Sicherheits- und Verteidigungsnetzwerk auch den USA und Kanada sowie NATO, OSZE und OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) als gleichberechtigte Mitglieder offen stehen. Der "kollektive", transatlantisch ausgerichtete Westen habe dieses Angebot abgelehnt – eine Tatsache, die sogar eine Analyse der deutschen Stiftung für Wissenschaft und Politik kritisch betrachtete. Die russischen Signale für eine verstärkte russisch-westliche Zusammenarbeit würden in den westlichen Thinktanks zu wenig gewürdigt, schrieb SWP im Juli 2010.

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Nun stellt Below eine Situation voller Anspannung und gegenseitigem Misstrauen fest. Auf jeden Fall sei es aber wichtig, so der Experte im unserem anschließenden Gespräch, dass Missverständnisse der Geschichte geklärt werden müssten. Dabei zitierte er die Legende russisch-sowjetischer Diplomatie, Walentin Falin: "Wer schreibt Geschichte, plant die Zukunft."   

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