Europa

Interview: Zwei serbische Blogger über ihr Land und EU: "Niemand will nur billige Arbeitskraft sein"

Serbien strebt in die EU, zugleich soll der jahrzehntelange Konflikt mit der abgespaltenen Provinz Kosovo gelöst werden. Offiziell geht es dem Land auch wirtschaftlich gut. Aber was sagen die Menschen selbst? RT sprach mit zwei Bloggern aus Belgrad.
Interview: Zwei serbische Blogger über ihr Land und EU: "Niemand will nur billige Arbeitskraft sein"Quelle: Reuters

Von Mojra Bozic

Ausländische Investitionen steigen, Arbeitslosenzahl sinkt: Serbien geht es in den letzten Jahren relativ gut. RT Deutsch sprach darüber mit Miljan Tanić, Journalist und Dolmetscher, und Nemanja Paleksić, Politologe.

Ihr beschäftigt euch im Podcast "Berichte aus Disneyland" mit dem Alltagsleben in Serbien, Problemen, dem Einfluss der Politik auf den "kleinen Mann". Warum "Disneyland"?

Miljan: Ich habe für das ehemalige Radio Jugoslawien gearbeitet, in der deutschsprachigen Redaktion. Ich bemerkte, wie hier Politiker oder ausländische Offizielle – wie die ehemalige Chefanklägerin des Haager Tribunals, Carla del Ponte – die unmöglichsten Dinge ohne jegliche Folgen sagen oder tun können. Also wie in Disneyland. Ich begann mit meinem Blog 2006 – "Dopisi iz Diznilenda", "Berichte aus Disneyland" –, um einfach Frust abzulassen. Später kam Nemanja dazu, und daraus entstand der Podcast. Wir sind sozusagen "Korrespondenten aus Disneyland", wie uns Freunde nun spaßeshalber nennen.

Ihr lebt in Belgrad, das in letzter Zeit in westlichen Medien als angesagte Metropole des Westbalkans dargestellt wird. Wie würdet ihr die Stadt beschreiben?

Nemanja: Belgrad ist immer noch das Zentrum aller Ereignisse auf dem Gebiet Ex-Jugoslawiens. Es zieht viele Menschen an, teils als exotisches Reiseziel, teils als Metropole. Es scheint jedoch, als begreife Belgrad immer noch nicht, dass es auch Besucher gibt, die kein Serbisch sprechen. Freunde aus dem Ausland beklagen sich immer, dass sie sich hier schwer verständigen könnten. Aber auch das wird besser. Wo es aber auch mit den größten Metropolen der Welt mithalten kann, ist, dass man hier immer was zu tun, sehen und erleben hat.

Miljan: Belgrad ist der erste Ort, an dem ich mich seit Anfang des Bosnienkriegs wirklich zu Hause fühle. Ich liebe die Naturschönheiten – zwei große internationale Flüsse, ein riesiger See, Wälder, Parks –, aber ich hätte schon gerne mehr Ordnung. Die Mentalität der Menschen ist aber einfach so, wie sie ist. Wir mögen nicht wie Deutsche brav in der Schlange stehen, und für jemanden wie mich, der teilweise in Deutschland aufgewachsen ist, ist das sehr nervig. Aber die Stadt ist tatsächlich irgendwie offener geworden.

Wie würdet ihr Serbien aktuell beschreiben? Das Land strebt in die EU, aber die Kosovo-Frage beherrscht derzeit die öffentliche Debatte. Viele Analytiker meinen, ohne Anerkennung des Kosovo könne es keine EU-Mitgliedschaft für Serbien geben.

Nemanja: Schritte vorwärts sieht man etwa in der Wirtschaft oder bei der Arbeitslosenzahl. Aber auch da kann man die Frage stellen, zu welchem Preis dies erzielt wird. Was aber Rechtsstaatlichkeit, demokratische Institutionen, Pressefreiheit angeht – da ist die Situation wirklich alarmierend. Die Verfassung wird tagtäglich verletzt, Vertreter der Regierung überschreiten ihre Befugnisse, das Parlament ist nur eine "Abstimm-Maschine".

Die Kosovo-Frage ist aber älter als die EU-Frage – auch älter, als es die Regierung darstellen möchte. Was die Regierung bzw. Präsident Aleksandar Vučić zu sagen meidet, ist aber, wieso jetzt die Frage der endgültigen Lösung so intensiviert wurde. Viele andere Fälle ungelöster Beziehungen dauern viel länger, und niemand hat es eilig, sie zu lösen – Zypern zum Beispiel. Unsere Regierung möchte aber neuesten Erklärungen zufolge eine ethnische "Abgrenzung". Das ist immer Glatteis.

Miljan: Ich finde, die EU würde als heuchlerisch dastehen, wenn sie von Serbien verlangt, das Kosovo anzuerkennen, da fünf EU-Länder das auch nicht getan haben. Was ich aber besonders traurig finde, ist Folgendes: Die meisten Serben wollen das Kosovo zurückhaben, aber ohne Albaner. Denn zwei Millionen Albaner könnten bedeutend die Politik beeinflussen und gar einen Präsidenten wählen. Und man will doch keinen albanischen Präsidenten Serbiens haben, oder?

Die Menschen denken, dass es noch wie im Mittelalter ist und im Kosovo nur Serben leben oder zumindest in der Mehrheit sind, aber gleichzeitig wissen sie, dass es nicht so ist. Was aber auf jeden Fall wichtig ist, ist, die Kontrolle über die serbischen Kultur- und Religionsdenkmäler zu behalten.

Wie würdet ihr die Stimmung im Land bezüglich des EU-Beitritts einschätzen? Mitte der 2000er-Jahre waren fast 90 Prozent meiner Freunde in Serbien für die EU. Heute habe ich das Gefühl, viele sind müde geworden von diesem Hin und Her.

Nemanja: Es ist offensichtlich, dass die Unterstützung für den EU-Beitritt abnimmt, und das seit Jahren. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Aus der serbischen Perspektive gibt es immer weniger Interesse, weil nach 18 Jahren dieses Ziel immer weiter erscheint. Viele denken, dass Serbien ewig vor den Toren der EU stehen wird, wie die Türkei. Viele Unterstützer des Beitritts sind letztlich in die EU ausgewandert. Dazu kommt die Tatsache, dass diejenigen Politiker, die für den EU-Beitritt waren, arrogant und verantwortungslos waren, was bei den Wahlen 2012 bestraft wurde, was wiederum zusätzlich die Idee der Eurointegration schwächt.

Miljan: Manche von uns sind von der EU enttäuscht – es herrscht das Gefühl vor, dass Brüssel immer neue Aufgaben für Belgrad kreiert, um uns einfach hinzuhalten. Dabei kommen viele Firmen aus der EU nach Serbien, bekommen Subventionen vom Staat und bezahlen Arbeiter gar drei- bis viermal weniger, als sie es in den eigenen Ländern tun müssten. Wir wollen nur gleiche Rechte wie EU-Bürger, und uns wird immer klarer, dass es dazu nicht kommen wird. Niemand will nur billige Arbeitskraft sein.

Der serbische Präsident Aleksandar Vučić, ein ehemaliger Ultranationalist, der nun als Proeuropäer auftritt, möchte der große Modernisierer Serbiens sein. Die Unterstützung in der Bevölkerung hat er. Warum?

Nemanja: Weil er alle großen Medien kontrolliert, weil die Opposition schwach und zersplittert und ständigen Angriffen der regierungstreuen Medien ausgesetzt ist. Die Wähler sind es gewöhnt, immer für die amtierenden Parteien zu stimmen, weil für viele ihre Jobs vom Staat selbst abhängen. Die Unterstützung liegt aber in absoluten Zahlen bei 25 bis 30 Prozent. Die Regierung tut zudem alles, um unentschlossene Wähler von den Urnen fernzuhalten, hat aber eine eigene treue Wählerarmee.

Miljan: Ich bin enttäuscht davon, dass viele Menschen in meiner Umgebung ihn unterstützen und ständig das Mantra wiederholen: 'Aber er tut wenigstens was, macht doch nichts, dass er nicht der Beste ist!' Vučić redet nur darüber, wie er etwas macht. Aber er hat das so perfekt gemeistert, dass er die Menschen einfach in seinen Bann zieht. Mir macht das ein wenig Angst. Wenn jemand, der all das gesagt und gemacht hat, was er in den Neunzigern gesagt und gemacht hat, nach so kurzer Zeit so viel Macht haben kann, da ist es doch kein Wunder, dass wir Serbien "Disneyland" nennen.

Ist seine Popularität Folge des Handelns prowestlicher Parteien wie der Demokratischen Partei? Die Korruption wurde leider auch von ihnen nicht bekämpft. Ganz im Gegenteil.

Nemanja: Der Kampf gegen Korruption ist ein Mythos, alle werden immer an der Front sein, aber niemand wird jemals den Kampf anfangen, weil Korruption wahrscheinlich die am schwierigsten heilbare Krankheit einer Gesellschaft ist. Auch jetzt scheint es, als würde man lieber des Kosovo entsagen, als die Macht aufzugeben.

Miljan: Das Wirken dieser Parteien ist sicher einer der Gründe. Aber ich würde auch Einflüsse von außen nicht ausschließen, die sich hinter den Kulissen abspielen. Ich werde nie verstehen können, warum Länder wie Deutschland ihn und seine Art der Regierungsführung unterstützen.

Serbien, aber auch der ganze Westbalkan ist mit einer erneuten Auswanderungswelle konfrontiert. Wer geht und warum?

Nemanja: Menschen sind müde von allem, von schlecht bezahlten Jobs, schlechter Stimmung, vom Gefühl der Hoffnungslosigkeit. In den Neunzigern wanderten Hochgebildete in den Westen aus, die aber dort dann schlecht bezahlte körperliche Arbeit bekamen. Jetzt wandern alle aus – Fahrer, Handwerker, medizinisches Personal. Die Mittelschicht verlässt uns, die ohnehin am meisten gefährdet war.

Miljan: Die Leute haben einfach die Nase voll und wollen für sich und ihre Kinder eine bessere Zukunft. Völlig legitim, was mich angeht.

Würdet ihr Serbien verlassen?

Nemanja: Es wäre schön, eine Zeitlang in einem Land zu leben, wo der Job nicht von der Mitgliedschaft in einer Partei abhängt, wo man mit der Hälfte des Gehalts den ganzen Urlaub bezahlen kann, wo Medien nicht ständig mit Krieg drohen usw. Ich hätte das aber gern hier, wo meine Freunde und Familie leben und wo ich mich am wohlsten fühle.

Miljan: Ich muss sagen, definitiv jein. Gerne würde ich in einem "normalen" Land leben, aber ich bin jetzt schon in einem Alter, wo man sich verankert fühlt, man hat Routine, Freundeskreise, die man nicht einfach aufgeben will und kann.

Ist der Graben zwischen den Nationen Ex-Jugoslawiens auch mehr als 20 Jahre nach den Bürgerkriegen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina immer noch groß, oder spielen die Politiker immer wieder die nationalistische Karte, weil sie keine andere Politik machen können und wollen?

Nemanja: Unglaublich, aber dieser Graben ist in den letzten Monaten größer denn je – angefangen beim Erfolg Kroatiens bei der Fußball-WM und der Siegesfeier mit einem ultranationalistischen Sänger bis zu den nationalistischen Tönen, was die Lösung des Kosovo-Problems angeht. Die Situation nach den Kriegen der Neunziger wirkt viel gelassener, und das ist gerade das, was deprimierend ist. Man fragt sich: Wie und wo haben wir 20 Jahre verloren? Wenn man aber sieht, wer auf allen Seiten regiert, dass das alles die gleichen Politiker aus den schon erwähnten Neunzigern sind, stellt sich dann die Frage, ob sie überhaupt in der Lage sind, eine andere Story zu erzählen.

Miljan: Ich finde es absolut erschreckend, dass es heute angespannter wirkt als vor zehn bis 15 Jahren. Und auch die Tatsache, dass auf der Politbühne immer noch die gleichen Politiker sind, die teils für den Horror des Krieges unserer Kindheit verantwortlich sind – da ist man natürlich sprachlos.

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