Europa

Mordsache Skripal: Die fraglichen Beweismittel von Scotland Yard (Teil 1)

Großbritannien macht die russische Regierung für das Attentat auf die Skripals verantwortlich. Aber wie begründet ist der Vorwurf? Der ehemalige Kriminalbeamte Jürgen Cain Külbel untersucht für RT Deutsch die Ermittlungsergebnisse der britischen Behörden.
Mordsache Skripal: Die fraglichen Beweismittel von Scotland Yard (Teil 1)Quelle: Reuters © Reuters

von Jürgen Cain Külbel

Am 5. September 2018, sechs Monate nach der Vergiftung des MI6-Agenten Sergej Skripal und seiner Tochter Julia in Salisbury, Großbritannien, sagte Neil Basu, Chef der Anti-Terror-Polizei bei Scotland Yard: „Wir haben jetzt genug Beweise, um Anklage in Bezug auf den Angriff auf Sergej und Julia Skripal in Salisbury zu erheben.“ Basu benannte zwei Russen als Tatverdächtige: Alexander Petrow und Ruslan Boschirow. Die beiden Personen, so Basu, seien um die 40 Jahre alt, und vermutlich nicht unter ihrem eigenen Namen nach Großbritannien eingereist. Er räumte ein, die Polizei kenne die Identität der Angeklagten nicht. Scotland Yard veröffentlichte mehrere Fotos von den Tatverdächtigen, die vorgeblich aus deren Reisedokumenten sowie von Überwachungskameras stammen sollen.

(Teil II und III könne Sie hier und hier nachlesen.)

Die Russen Alexander Petrow und Ruslan Boschirow, reale Personen, wie sich herausstellte, meldeten sich am 13. September 2018 im Fernsehsender RT zu Wort und erklärten in einem ungeschnittenen Interview, mit welcher Absicht sie im März 2018 ins britische Salisbury gereist waren. Beide seien mittelständige Unternehmer; jegliche Verwicklung in den vermeintlichen Chemiewaffenangriff auf Sergej und Julia Skripal weisen sie vehement von sich.

In meiner Analyse, bestehend aus Teilen, beschäftige ich mich mit den von Scotland Yard vorgelegten fotografischen und anderen materiellen Beweismitteln, ohne sie vorerst auf ihre Beweiskraft hinsichtlich der Aufklärung des Verbrechens zu untersuchen. Komplexe Schlussfolgerungen hinsichtlich der der Beweiskraft der Fotos, anderer vorgelegter Beweismittel, und ihre Einordnung in den möglichen Tathergang, werden im letzten Teil der Analyse gezogen. Zudem werden die Interview-Aussagen von Petrow und Boschirow den korrelierenden Statements der britischen Polizei gegenübergestellt.

Untersuchungsfrage an Scotland Yard: Wieso wurden manipulierte Passfotos von Petrow und Boschirow veröffentlicht?

Eine erste, allerdings oberflächliche Analyse mit den Mitteln der digitalen Bildforensik ergab, dass die von Scotland Yard veröffentlichten Passfotos der Verdächtigen Petrow und Boschirow - CO1416-2018-BOSHIROV.jpg und CO1416-2018-PETROV.jpg - einem Manipulationsprozess unterworfen worden waren. Laut Wikipedia ist die „digitale Bildforensik  [...] eine Teildisziplin der digitalen Multimediaforensik, und widmet sich der Untersuchung der Authentizität digitaler Bilder, unter anderem zur Gewinnung von Indizien in der Kriminalistik“. Aber man sollte auch erwähnen, dass alle gängigen Methoden der digitalen Bildforensik nur Wahrscheinlichkeiten liefern können.

Vorweg: Die von Scotland Yard zum Download angebotenen Porträtfotos sind leider komprimiert. Die Auflösung - Breite: 426 Pixel, Höhe: 525 Pixel - der Fotos von Petrow und Boschirow ist zu klein, um erkennen zu können, ob sie mit Photoshop oder anderen Bildbearbeitungsprogrammen nachträglich verändert worden waren. Vergrößert man die Pixel auf 600 Prozent, sehen sie alle gleichmäßig aus. Das ergibt den Schluss: es hat am Bild keine nachträglichen Modifikationen gegeben.

Allerdings wird bei der Vergrößerung deutlich, dass die Fotos offenbar keiner Bilddatei entstammen, sondern einer Vorlage – meinetwegen einer Vorlage, die mit Laserdruck, mittels Fotokopie oder Ähnlichem erstellt worden war. Diese Vorlage wurde abfotografiert, im Fachbegriff: reproduziert. Denn: bei Vergrößerung der Fotos von Scotland Yard auf „normal“, das heißt 100 Prozent zeigt sich ein Raster, das nur von Druckern stammen kann. Raster von Zeitungsfotos, Abbildungen in Büchern usw., sehen völlig anders aus. Beweisen lässt sich das anhand des Fotos CO1416-2018-BOSHIROV: man sieht, dass es schief auf der Bildebene liegt, das heißt die Vorlage wurde schief fotografiert, und später am Rechner gerade gerückt, was eben auf solch eine Reproduktion schließen lässt.

Beide Fotos wurden zudem mehrmals kopiert, da im Datenhintergrund nichts mehr auszulesen ist. Normalerweise kann mittels einer Metadaten-Software erkannt werden, mit welcher Blende und Belichtungs- und Aufnahmezeit das Foto gemacht worden war; ebenso sind Kameramarke und Kameramodel auszulesen. Diese Informationen sind verschwunden; sie können aber nur „gelöscht“ werden, indem ein Foto mehrfach digital ausgeschnitten, und in einen neuen neutralen Hintergrund einfügt wird.

Das kann man sehr gut erkennen an Bild CO1416-2018-PETROV. Um das Bild herum findet sich ein weißer, nicht ganz gleichmäßiger „Rahmen“ - rechts, oben und unten. Beide Fotos, also die ursprünglichen Fotos vor der Reproduktion, wurden mit dem gleichen Gerät gemacht. Möglich ist, dass eine Art Passbildautomat oder eine Studio-Einrichtung zur Herstellung von Passbildern zum Einsatz kam – keine hochwertige Technik. Ebenso der Hintergrund lässt auf einen Automaten schließen, auch, weil die abgebildeten Personen sehr nahe vor dem Hintergrund sitzen. Das erste Fazit muss lauten: es waren keine professionellen Fotografen am Werk, eher „Dienstleister“ oder ähnliches.

Die viel diskutierten Fotos CO1416-2018-CCTV1.jpg und CO1416-2018-CCTV2.jpg

Das Foto CCTV 1, laut Zeitstempel aufgenommen von einer Überwachungskamera am Freitag, den 2. März um 16.22 Uhr, zeigt den Mann, den Basu als Petrow benannt hat, als dieser am Londoner Flughafen Gatwick ankommt. Das Foto CCTV2 soll Boschirow zeigen, als dieser in Gatwick eintrifft. Der Zeitstempel auf beiden Bildern ist identisch: 02/03/2018 16:22:43. Das mag daran liegen, dass es im Nordterminal des Gatwick Airport, am nördlichen Ende der Ankunftsebene Null, mehrere parallele und scheinbar identische Durchgänge gibt, die in den Flughafen führen. Jeder dieser Gänge ist mit einer Überwachungskamera bestückt. Zufall hin, Zufall her. Es ist nicht auszuschließen, dass zwei verschiedene Personen auf die Sekunde genau beim Durchqueren zweier unterschiedlicher Gänge zeitgleich abgelichtet werden.

Der von Scotland Yard als tatverdächtige Person gehandelte Boschirow gab im Interview dazu folgende Erklärung ab:

Wir gehen immer gemeinsam durch denselben Korridor und am selben Zollbeamten oder einem Polizisten vorbei. Einer geht, der andere wartet. Wir sind gemeinsam durch den Korridor gegangen, wir haben es immer zusammen gemacht. Wie ist das (mit dem identischen Zeitstempel) passiert? Es ist besser, sie zu fragen [die britische Polizei].

Mehr zum ThemaBenutzt Scotland Yard gefälschte Bilder? Unstimmigkeiten auf den "Täter-Fotos" im Fall Skripal

Die beiden Fotos mit identischem Zeitstempel könnten durchaus Spielmaterial sein, also Informationen, die bewusst der Öffentlichkeit zugespielt wurden, um ein bestimmtes operatives Ziel zu erreichen. Nämlich: Ablenkung von den eigentlichen Ermittlungslücken in der Sache. Der Erfolg ist auch eingetreten, stürzten sich doch investigative Journalisten und politische Amtsträger zuerst auf diese „Anomalie Zeitstempel“, die sie lang und breit diskutierten, und dabei andere wesentliche Dinge gar nicht ins Auge fassten. Ich persönlich bin der Überzeugung, dass diese beiden Fotos tatsächlich Spielmaterial darstellen, welches  von grundlegenden Problemen und Lücken in der Untersuchung der Mordsache Skripal ablenken soll – vor allem von dem Problem Tatzeit und Tatort. 

Untersuchungsfrage an Scotland Yard: Bitte stellen Sie die genaue Tatzeit für den Angriff gegen Leben und Gesundheit von Julia und Sergej Skripal fest!

Neil Basu, der Chef der britischen Anti-Terror-Polizei, sagte am 5. September 2018 ebenfalls:

Angesichts dessen, was wir aus dieser Untersuchung gelernt haben, ist es wahrscheinlich, dass jeder, der Nowitschok ausgesetzt ist, innerhalb von 12 Stunden nach der Exposition Symptome davongetragen hat.

Nun, die 33jährige Julia und ihr 66jähriger Vater Sergej Skripal, wurden am Sonntag, den 4. März 2018, 16.03 Uhr von der Zeugin Freya Chuch auf einer Parkbank nahe The Maltings Shopping Centre in Salisbury beobachtet: „Sie war ohnmächtig geworden, und er benahm sich seltsam“. Gegen 16.15 Uhr traf der Rettungsdienst ein.

Folgt man den Aussagen von Basu, müssen beide Opfer an jenem Tag in der Zeitspanne zwischen 4.03 Uhr frühmorgens bis 16.03 Uhr nachmittags, mit dem Nervengift kontaminiert worden sein. Das ist ein sehr langes Intervall, in dem die Tat geschehen sein muss, (wenn sie denn je stattgefunden hat). Was Basu nicht bekannt machte, ist, ob Scotland Yard zwischenzeitlich in der Lage war, die Bewegungsprofile der Opfer innerhalb dieses Zeitrahmens lückenlos zu ermitteln.

Für den möglichen Tatzeitraum zwischen 4.03 Uhr morgens und 9.03 Uhr, also fünf lange Stunden, lieferte er bislang nämlich keine (öffentlich zugänglichen) Daten. Ebenso nicht für den möglichen Tatzeitraum zwischen 9.15 Uhr und 13.15 Uhr. Nach Angaben der Ermittler befand sich Sergej Skripals burgunderfarbener BMW 320D Saloon, Kennzeichen HD09 WAO, an jenem Tag um 9.15 Uhr in der Gegend um London Road, Churchill Way North und Wilton Road, im nördlichen Teil von Salisbury. Beide Skripals schalteten ab dem Zeitpunkt ihre Mobiltelefone für vier Stunden aus, was eine Geo-Lokalisierung, und damit eine Feststellung ihrer Aufenthaltsorte unmöglich macht. Das zumindest behaupten die Ermittler.

Halten wir also fest: Ab 9.15 Uhr kommunizieren die Mobiltelefone der Skripals nicht mehr mit den jeweils benachbarten Mobilfunkzellen. Allerdings kann der Standort, an dem sich beider Mobiltelefone zum Zeitpunkt des Ausschaltens befanden, exakt bestimmt werden. Die Ermittler haben sich jedoch auch dazu nicht öffentlich geäußert. Wenn die Ermittler jedoch feststellen konnten, dass die Skripals ihre Mobiltelefone etwa gegen 9.15 Uhr ausgeschaltet hatten, bedeutet das im Umkehrschluss, dass die Geräte zuvor eingeschaltet waren.

Also hat Scotland Yard eine Funkzellenabfrage durchgeführt, die der Feststellung dient, welche Mobiltelefone sich zu einer bestimmten Zeit in welcher Funkzelle befunden haben. Die Behörden könnten dadurch vollständige oder unvollständige Angaben darüber liefern, wo sich die Mobiltelefone der Skripals zwischen 4.03 Uhr und 9.15 Uhr befanden.

Zusammenfassung: Es sind insgesamt neun Stunden und zwölf Minuten des Tattages, also von 4.03 Uhr bis 13.15 Uhr, von denen die Ermittler offenbar keine Vorstellung haben, was die Skripals gemacht, und wo sie sich aufgehalten haben. Gemäß Interpretation der Aussage von Neil Basu, kann die Kontaminierung in dieser Zeitspanne erfolgt sein. Scotland Yard steht daher wohl noch immer vor der wichtigen Aufgabe, die Tatzeit exakt einzugrenzen. 

Untersuchungsfrage an Scotland Yard: Bitte stellen Sie den Tatort für den Angriff gegen Leben und Gesundheit von Julia und Sergej Skripal fest!

Wie aus Scotland Yards lückenhaften Ermittlungen zur Tatzeit ersichtlich ist, waren die Skripals am Tag der Tat volle vier Stunden „außer Kontrolle“, nachdem ihr BMW letztmalig um 9.15 Uhr fahrend gesehen wurde. Natürlich ist es möglich, dass sie nur 15 Minuten unterwegs waren, sich dreieinhalb Stunden irgendwo aufhielten, um dann erneut um 13.15 Uhr wieder aufzutauchen. Oder dass sie verschiedene andere Örtlichkeiten aufsuchten, Pausen machten, Besuche usw.

Da Scotland Yard allerdings nicht weiß, wo und zu welcher Zeit sie sich in diesem Zeitraum aufhielten, bleibt der Londoner Ermittlungsbehörde nichts Anderes übrig, als maximale Grenzen für den Bereich abzustecken, in dem der Tatort liegen könnte. Gesetzt den Fall, Skripal wäre vier Stunden mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 30 km/h aus Salisbury heraus und wieder zurückgefahren, so könnten sich die beiden Skripals in einem maximalen Umkreis von 60 km um Salisbury herum aufgehalten haben. Wäre er indes durchschnittlich 50 km/h gefahren, so erweiterte sich der Radius auf 100 km. Und so weiter und so fort. Gut, es ergeben sich hier rechnerisch viele Möglichkeiten und Spekulationen. Doch wird deutlich, dass auch der Tatort im fraglichen Zeitintervall ganz woanders gelegen haben kann. 

Ist in einem Fahrzeug ein SIM-Modul einbaut, so ist auch eine Kfz-Ortung möglich. BMW zum Beispiel bietet die fest installierte SIM-Karte, mit innovativen BMW ConnectedDrive Funktionen, wie BMW Teleservices, Concierge Services, Internet, Remote Services und Echtzeit-Verkehrsinformationen, die in vielen Ländern der Welt problemlos genutzt werden können; und zwar, ohne ein eigenes Mobiltelefon zu benötigen! Ob Skripals BWM mit einem SIM-Modul versehen war, ist nicht bekannt. Wenn ja, würde es Aufschluss über die Bewegungen des Fahrzeuges innerhalb besagter vier Stunden geben. Leider hält Scotland Yard das Auto unter Verschluss, und äußert sich nicht, ob es ein SIM-Modul enthält.

Fazit: Scotland Yard hat bislang weder die exakte Tatzeit noch den konkreten Tatort bestimmen können. Das bedeutet, dass die Ermittlungen zur Tatzeit und zum Tatort alles andere als kriminalistisch und juristisch verwertbar sind.

Mehr zum Thema - "Cyberkrieg wird Mays Rache an den Russen" - Anonyme Regierungsquellen instruieren britische Presse

 

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.