Europa

Ständiger Vertreter Russlands in der OPCW: "Die Organisation steht kurz vor dem Kollaps"

Alexandr Schulgin, der Ständige Vertreter Russlands in der OPCW, kommentiert die Versuche Großbritanniens, den neu vorgelegten Bericht der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen nach der eigenen aktuell-politischen Linie auszulegen und zu instrumentalisieren.
Ständiger Vertreter Russlands in der OPCW: "Die Organisation steht kurz vor dem Kollaps" Quelle: Reuters

Am 4. September hat das Technische Sekretariat der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen einen Bericht zur technischen Hilfestellung an Großbritannien in Verbindung mit dem Vorfall in Amesbury vom 30. Juni 2018 vorbereitet. In einem Interview mit RT kommentiert Alexandr Schulgin, der Ständige Vertreter der Russischen Föderation bei der OPCW, den Umgang Großbritanniens mit der darin enthaltenen Information. Ebenso thematisiert er die allgemeine aktuelle Entwicklung innerhalb der OPCW – nicht nur Russland findet sie mehr als nur beunruhigend.

Wie kommentieren Sie das aktuelle OPCW-Statement, die Organisation sei mit den Folgerungen Großbritanniens einverstanden, dass bei den Zwischenfällen von Amesbury und Salisbury ein und derselbe toxische Stoff verwendet wurde?

Heute Abend hat das Technische Sekretariat der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen ein Presse-Statement veröffentlicht – und eine Kurzversion des Berichts zu den Ergebnissen der technischen Hilfestellung für die Briten zum Amesbury-Inzident am 30. Juni diesen Jahres. Im Bericht ist davon die Rede, dass die Ergebnisse der Analyse der Material- und Gewebeproben, die in OPCW-zertifizierten Laboren durchgeführt wurden, die Folgerungen der Briten zur Zusammensetzung der toxischen Chemikalie bestätigen, mit der sich zwei Bürger in Amesbury – einer von ihnen tödlich – vergiftet haben. Zur chemischen Zusammensetzung heißt es in der Kurzfassung des Berichts: Es geht um ein Nervengift, um dasselbe, das in den Proben gefunden wurde, die man zur Sache der Vergiftung der Skripals im Jahre 2017 entnommen hat. Hier muss allerdings betont werden: Der Bericht sagt nichts über das Herkunftsland des Nervengifts aus, die Bezeichnung "Nowitschok", die die Briten in den Umlauf gebracht haben, kommt darin nicht vor, es gibt auch keine Klassifizierung des Nervengifts als Kampfstoff (military grade).

An alldem störten sich die Briten allerdings – wie üblich – keineswegs, als sie den Bericht in einer für sie nutzbaren Auslegung darstellten. In der Tat hat der Chef des Foreign Office, Hunt, verkündet, der OPCW-Bericht habe alle britischen Auslegungen [der Fälle] bestätigt. Es sei, so Hunt, das Nervengift "Nowitschok" gewesen, dasselbe, das beim Anschlag auf die Skripals genutzt wurde; weiter enthält Hunts Verlautbarung grundlose Anschuldigungen gegen den russischen Staat, derer man schon überdrüssig geworden ist, das, so Hunt, die volle Verantwortung für den Vorfall trage. Vermerkt sei auch, dass die Ermittlung von Scotland Yard in dieser Sache noch andauert, da ist kein Ende in Sicht – doch das offizielle Großbritannien singt weiter sein Lieblingslied "Highly likely, highly likely" und stellt verleumderische Behauptungen einer Komplizenschaft Russlands auf. Ungeachtet dessen, dass im Bericht keine Rede von Russland oder einem Ursprungsland ist, und auch die Klassifizierung als Kampfstoff fehlt, führen die Briten ihre Linie fort.

Im Großen und Ganzen ist ihnen gleichgültig, ob im OPCW-Bericht etwas zu "Nowitschok" gesagt wird oder nicht – wie wir das sehen, ist das Wichtigste für sie, mit Biegen und Brechen die OPCW in ihre "Ermittlung" auf der nationalen Ebene einzubinden, das Ergebnis der Ermittlungen auf der nationalen Ebene irgendwie mit der Autorität dieser internationalen Organisation in Verbindung zu bringen. Bildlich ausgedrückt, wollen sie dem OPCW-Stempel als eine Art Qualitätssiegel bekommen, wie man ihn aus den früheren Zeiten von bestimmten Waren kennt. Es ist bedauernswert, dass das Technische Sekretariat der OPCW willentlich oder unwillentlich in diese würdelosen politischen Spielchen der Briten involviert wurde.

Wir haben unsere Haltung zur Überlassung der Ergebnisse des technischen Gutachtens an die Briten bereits geäußert. Die Chemiewaffenkonvention hat nicht einen Punkt, der das Technische Sekretariat verpflichten würde, an einer Bestätigung der Ergebnisse einer inländischen Ermittlung eines Teilnehmerstaates mitzuwirken. Technische Hilfe wird strenggenommen nur einem Teilnehmerland geleistet, die darauf für die Erfüllung ihrer Pflichten laut der Konvention angewiesen sind – vor allem für die Vernichtung von Chemiewaffen. Im Regelfall geht es dabei um Länder, denen Ausstattung und Fachleute dafür fehlen – doch die Briten haben Beides im Überfluss.

Man nehme nur das Labor in Porton-Down, wo, wie wir verstehen, mit dem Stoff, den Briten heute Nowitschok nennen, gearbeitet wurde. Indes sind nach der Chemiewaffen-Konvention für Fälle, wenn ein Teilnehmerstaat an einen anderen Fragen hat wie jetzt die Briten an Russland in Sachen Skripals und Amesbury, Beratungsprozeduren vorgesehen. Man kann sie auf direktem Wege zwischen Russland und Großbritannien durchführen. Oder, wenn die Briten das nicht wollen, dann geht das unter Vermittlung des Technischen Sekretariats oder anderer Organe des OPCW. Entsprechende Angebote haben wir den Briten unterbreitet, sie haben sie abgelehnt – doch wir rechnen damit, dass die britischen Kollegen so oder so die Aussichtslosigkeit der Versuche einsehen, mit den Statuten der Konvention jonglieren zu wollen, und ins Rechtsfeld dieses wichtigen internationalen Dokuments zurückkehren und die darin festgeschriebenen Vorschriften nutzen. Was die russische Seite betrifft, muss man uns nicht darum bitten.

Unlängst wurde verkündet, dass die OPCW jetzt in konkreten Fällen Schuldige bestimmen kann. Was denken Sie – wird sich das irgendwie auf den Gang der Ermittlungen im Salisbury-Fall auswirken?

Auf der Sondersitzung der Vertragsstaaten-Konferenz im Juni diesen Jahres, die auf Initiative der USA und Großbritanniens einberufen wurde, ist es den Ländern des Westens gelungen, mithilfe groben Drucks die Entscheidung durchzudrücken, in Den Haag einen sogenannten "Attributivmechanismus" im Rahmen der OPCW einzuführen – also das Technische Sekretariat mit Funktionen der Schuldzuweisung in Fällen der Chemiewaffen-Anwendung auszustatten. Das ist eine Rahmenentscheidung, das Technische Sekretariat und sein Generaldirektor werden Empfehlungen ausarbeiten und Vorschläge zu deren konkreter Umsetzung einbringen müssen. Am Jahresende findet eine ordentliche – die 23ste – Sondersitzung Vertragsstaaten-Konferenz, auf der wir zur Frage der Ausstattung des Technischen Sekretariats mit solchen Funktionen der Schuldattribuierung zurückkehren werden.

Was Russland betrifft, so haben wir unsere Haltung zu dieser Entscheidung bereits geäußert. Wir halten sie für illegitim, weil die aktuell geltende Chemiewaffenkonvention nicht einen einzigen Punkt hat, der so gedeutet werden könnte, als sei Erfüllung solcher Funktionen durch das Technische Sekretariat zulässig. Um die Einführung des Attributiven Mechanismus‘ hier in Den Haag zu erwirken, würden die Weststaaten eine Sonderkonferenz für entsprechende Korrekturen an der Chemiewaffenkonvention einberufen.

Diese Entscheidung konnten die westlichen Länder auch deswegen durchprügeln, weil die Stimmen derjenigen, die sich enthalten, nicht zählen. Sehr viele haben sich enthalten – ich kann mich an etwa ein halbes Hundert Staaten erinnern, die sich enthalten haben, und 24 Länder haben mit uns gegen den britischen Entscheidungsentwurf gestimmt –, also, wenn die Stimmen derer, die sich enthalten, in die Ergebnisse der Abstimmung einfließen würden, wäre es den Briten und den US-Amerikanern nie gelungen, diese Entscheidung herbeizuführen.

Wir haben bekanntgegeben, dass wir alles Mögliche zur Besserung der Lage tun werden, und im Laufe der bevorstehenden Sitzungen des Exekutivrates der Organisation, der Vertragsstaaten-Konferenz werden wir unsere Sicht darlegen darauf, wie man die Entwicklung der Dinge wieder in eine annehmbare Richtung lenkt. Wir haben unsere Partner gewarnt, dass ein Fortführen von ihrer destruktiven Linie zu einer Verschlimmerung der Lage in der OPCW führen wird.

Die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen war bis vor Kurzem ein erfolgreiches Abrüstungsforum, wurde mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt. Die Entscheidungen wurden hier größtenteils im Konsens gefällt. Jetzt aber – dank des Kurses auf eine hemmungslose Politisierung, den die USA, Großbritannien und andere, sie unterstützende westliche Länder eingeschlagen haben – bietet die Organisation einen beweinenswerten Anblick. Die Spaltung wird immer tiefer, die Reibungen immer ernster. Viele Teilnehmerstaaten verstehen die Abnormität der Lage in der OPCW. Gestern habe ich mich mit einer Gruppe von Vertretern gleichgesinnter Staaten – einer ganzen Reihe gleichgesinnter Staaten – getroffen. 23 Staaten nahmen am Treffen im Hauptquartier der OPCW teil. Wir haben unseren Standpunkt zu den Chemiewaffen-Provokationen geäußert, die in der syrischen Provinz Idlib vorbereitet werden, und davor gewarnt. Beim Treffen wurde bekanntgegeben, dass sehr viele Länder – nicht nur die 23, die auf unserem Treffen gestern repräsentiert wurden, sondern deutlich mehr – ich zitiere – "sich unter dem aggressiven Druck, den die USA und Großbritannien ausüben, unbequem fühlen."

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Die Menschen verstehen: Die Organisation steht kurz vor dem Kollaps, wenn das so weitergeht. Sie wird ihre Wirksamkeit verlieren und ihre Funktionen nicht mehr wahrnehmen können, die in ihr ursprünglich angelegt wurden. Deswegen gibt es einen Bedarf, in einer gemeinsamen Anstrengung die Arbeit der Organisation zu normalisieren, und wir werden alles von uns Abhängende tun, um dieses Ziel zu erreichen.

Alexander Wasiljewitsch, vielen Dank für das Interview.

Ich danke Ihnen. Alles Gute für Sie und bis bald.

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