Europa

Frankreich: Streikende Eisenbahner können auf breite Solidarität in der Bevölkerung zählen

Mit einem langen Streik wollen die Bahngewerkschaften die von der Regierung Macron ins Auge gefassten Reformen vereiteln. Noch ist die Solidarität mit den Eisenbahnern groß. Macron spielt jedoch auf Zeit und setzt auf die Unzufriedenheit der Reisenden.
Frankreich: Streikende Eisenbahner können auf breite Solidarität in der Bevölkerung zählen

von Pierre Lévy, Paris

Diese Woche hat in Frankreich eine Machtprobe begonnen, die sich angesichts ihres Ausmaßes und ihrer Dauer als beispiellos erweisen könnte. Bei dem Kräftemessen stehen die Eisenbahner, die sich für die Erhaltung des öffentlichen Eisenbahndienstes einsetzen, der Regierung und deren deutlich zum Ausdruck gebrachter Absicht gegenüber, ihre "Reform" des Schienenverkehrs durchzusetzen. Bei dieser handelt es sich um die direkte Anwendung des so genannten Vierten Legislativpakets, das 2016 durch den Rat der EU und das Europäische Parlament verabschiedet wurde und dessen Umsetzung Brüssel bis Ende 2018 fordert.

Vier Gewerkschaften der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF haben sich zusammengeschlossen, um die Arbeitnehmer zum Streik aufzurufen. Neu ist diesmal, dass bereits geplant ist, die Streikbewegung bis Ende Juni auszudehnen - es sei denn natürlich, die Staatsmacht gäbe bis dahin nach. Der veröffentlichte Zeitplan sieht vor, abwechselnd Streiktage und Arbeitstage einzulegen: So wollen sie die langfristige Dauer ermöglichen und gleichzeitig die Verdienstausfälle begrenzen.

Nach einem ersten Protesttag am 22. März, der eine starke Beteiligung hervorrief, haben die Arbeitsniederlegungen nach Ostern begonnen und bereits massiv Teilnehmer mobilisiert. So fielen am 4. April fast 90 Prozent der TGV-Verbindungen und 80 Prozent der regionalen Verbindungen aus.

Kampf gegen Privilegien oder sinnarme Umsetzung von EU-Ideologie?

Das Reformprojekt konzentriert sich auf drei Schwerpunkte: die Freigabe des Wettbewerbs, die den Kern der Reform bildet; die Aufgabe des besonderen Status der Eisenbahner bei Neueinstellungen sowie die Umwandlung der SNCF in eine Aktiengesellschaft, d. h. eine privatrechtliche Vereinigung. Zwar behauptet die Regierung, dass der Staat deren einziger Anteilseigner sein und bleiben wird. Doch ein solches Versprechen wurde in der Vergangenheit auch bezüglich der Elektrizitätsgesellschaft EdF und des Erdgaskonzerns GDF gegeben - und später gebrochen.

Die schrittweise Aufgabe des Status der Eisenbahner, der weitreichende tarifliche Garantien und soziale Vergünstigungen umfasst, zielt offen auf eine "Kostensenkung" ab - insbesondere dadurch, dass für mehr Flexibilität und Vielseitigkeit bei den Arbeitskräften gesorgt würde.

Der dritte Aspekt, die Freigabe des Wettbewerbs, bildet die Grundlage der beiden vorangegangenen Aspekte und stellt ein Grundprinzip dar, welches das Wesen der Europäischen Union ausmacht. Als solches entspricht es einem finanziellen und ideologischen Wunsch der Eliten Europas, neue Bereiche der Kapitalaufwertung zu eröffnen. Telekommunikation, Post, Energie: Diese Sektoren waren lange Zeit sowohl aus rationalen (Einheitlichkeit der Netze) als auch historischen Gründen (Bekenntnis zu den Grundsätzen öffentlicher Dienstleistungen, insbesondere der Gleichbehandlung) von einem staatlichen Monopol beherrscht.

Diese Dimension ist wesentlich, denn sie erinnert daran, dass es dabei um mehr geht als nur um den Eisenbahnsektor. Wenn Emmanuel Macron seine Ziele durchsetzen würde, wäre der Weg frei, um Frankreich komplett den von Brüssel verabschiedeten ultraliberalen Dogmen zu unterwerfen.

Bislang ist die Front der Ablehnung noch breit

Dies erklärt, dass die Beschäftigten im Schienenverkehr nicht allein dastehen. Ihre Kollegen aus dem Energiesektor (EdF) sind ebenfalls einem Streikaufruf des Gewerkschaftsbundes CGT gefolgt, auch wenn diese Mobilisierung keine sichtbaren Konsequenzen hat. Auch die Müllwerker sind in mehreren großen Städten in Aktion getreten.

All das spielt sich in einem Klima ab, in dem unlängst auch schon die Beamten, die gleichfalls von ähnlichen Reformen bedroht sind, von sich hören ließen - ebenso wie die Rentner, die ihre Kaufkraft schwinden sehen. Piloten und Flugpersonal von Air France setzen ihrerseits die geplanten Arbeitsniederlegungen vor dem Hintergrund einer Freigabe der Löhne fort. Zudem sind bereits zwanzig Hochschulen von "Streiks" und Besetzungen seitens der Studierenden betroffen, die gegen das neue System des selektiven Zugangs zur Hochschulbildung protestieren.

Das ist genau das, was der französische Präsident befürchtet: ein Zusammenlaufen der sich derzeit abzeichnenden Arbeitskämpfe. Um die Bewegung zu diskreditieren, setzt er auf die Unzufriedenheit der Bahnnutzer, für die sich die Fortbewegung viele Wochen lang äußerst schwierig gestalten wird. Doch diese Nutzer sind auch der Arbeitnehmer und Bürger. Wenn eine übergreifende Interessengemeinschaft entsteht, muss man sich im Elysée ebenso wie in Brüssel Gedanken machen.

Im Moment ist noch alles drin. Doch die nächsten Wochen werden entscheidend sein.

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