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"Die Bundesrepublik ist noch da": Ukraineexperte Reinhard Lauterbach zur Reise Gabriels nach Kiew

Sigmar Gabriel zeigte in Kiew Sinn für politischen Realismus und will auf keine weitere Konfrontation mit Moskau setzen. Das offizielle Berlin aber unterstützt Kiew nach wie vor bedingungslos. Warum das so ist, erklärte Reinhard Lauterbach im Gespräch mit RT Deutsch.
"Die Bundesrepublik ist noch da": Ukraineexperte Reinhard Lauterbach zur Reise Gabriels nach KiewQuelle: Reuters

Der Bundesaußenminister Sigmar Gabriel weilte für zwei Tage in Kiew. Was hat er dort tatsächlich bezweckt?

Deutschland hat bekanntlich den Machtwechsel in Februar 2014 in Kiew politisch und diplomatisch unterstützt. Jetzt geht es darum, ab und zu symbolische Zeichen der Unterstützung zu setzen. Aber der Machtwechsel ist damals nicht so abgelaufen, wie es die Bundesrepublik in Gestalt des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier geplant und gemeinsam mit Frankreich und Polen vermittelt hatte: als ausgehandelte Übergabe in Form einer vorgezogenen Präsidentenwahl. Stattdessen haben die Maidan-Aktivisten mit amerikanischer Unterstützung auf den gewaltsamen und sofortigen Machtwechsel gesetzt und sich durchgesetzt. Jetzt versucht der Außenminister Sigmar Gabriel in Kiew zu demonstrieren, dass die Bundesrepublik noch da ist.

Hat er sein Ziel erreicht?

Er hat eine klassisch deutsche Kompromisslösung vorgeschlagen, die de facto die ukrainische Position unterstützt. Gabriel beharrte in Kiew auf der Entsendung von UN-Truppen in das komplette Gebiet der international nicht anerkannten Donbass-Republiken. Das ist einerseits auf der formalen Ebene ein Zugehen auf die russische Ausgangsposition: Wladimir Putin hatte im Herbst eine von der UNO mandatierte Friedenstruppe vorgeschlagen. Inhaltlich aber teilte Gabriel die ukrainische Haltung, das Mandatsgebiet auf das gesamte nicht von der Ukraine kontrollierte Gebiet auszudehnen. Der Unterschied ist der, dass nach Gabriels Vorschlag Russland zwar einem solchen UNO-Mandat zustimmen müsste, aber einem, das inhaltlich seinen bisher geäußerten Interessen zuwiderläuft. Deshalb gehe ich davon aus, dass das so, wie es Gabriel formuliert hat, nicht kommt.  

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Das einzige, was man zu Gabriels Gunsten sagen kann: er hat wenigstens einen gewissen politischen Realismus an den Tag gelegt: Eine Friedensregelung im Donbass ist ohne Russland nicht denkbar - gegen Moskau erst recht nicht.

Wieviel Wahrheit steckt in der ukrainischen Behauptung, die hierzulande von vielen Medien gerne übernommen wird, nämlich wonach Russland in der Ukraine Krieg führe.  

Bislang ist es nicht wirklich bewiesen, dass Russland im Donbass reguläre Streitkräfte einsetzt. Es hat wahrscheinlich russische Instrukteure gegeben, aber die waren formell zu dem Zeitpunkt ihres Einsatzes im Donbass im Urlaub. Aber unbestritten ist, dass bei der Volkswehr auch russische Freiwillige vorhanden sind. Auch russische private Militärunternehmen entsendeten ihre Kämpfer in das Krisengebiet. Es ist übrigens unklar, wie sich diese Militärunternehmen finanzieren.

Viele in Russland wollen mehr Unterstützung für die selbsterklärten ostukrainischen Republiken, bis hin zu Anerkennung. Von dieser Perspektive aus verhält sich Russland ja moderat gegenüber der Ukraine.

Moskau hat kein Interesse an der politischen Eingliederung dieser Gebiete in das russische Staatswesen. Auch die Existenz zweier neuen Zwergstaaten in Europa, zumal sicher nur von ganz wenigen anerkannt, wenn dies überhaupt der Fall sein sollte, ist nicht im Interesse Russlands. Es sieht den aufständischen Donbass nach wie vor als eine Art Faustpfand, das beispielsweise die Eingliederung der Ukraine in die NATO verhindern soll. Dass die Ukraine sich in die EU integriert, damit hat sich die Führung in Moskau so gut wie abgefunden. Eine Föderalisierung der Ukraine, obwohl davon jetzt keiner mehr spricht, war ursprünglich das Ziel Moskaus. Mit der Anerkennung der Republiken würde Moskau implizit anerkennen, dass seine bisherige Ukraine-Strategie gescheitert ist. Deren Kernpunkt ist die Anerkennung der aufständischen Kräfte in Donbass als politische Kraft von Seiten Kiews. Auch wirtschaftlich kann Russland nicht daran interessiert sein, den jetzigen Schwebezustand auf unabsehbare Zeit aufrecht zu erhalten. Schon wegen der offiziell nicht ausgewiesenen, aber sicher erheblichen Kosten der Finanzierung der Staatshaushalte der „Volksrepubliken“. Deshalb stellt sich Russland auf den Standpunkt, Kiew solle das Minsker Abkommen, das ja in der Endphase die Rückkehr der Republiken in den ukrainischen Staat vorsieht, von seiner Seite umsetzen. Der Unterschied besteht hier darin, welche Seite Zugeständnisse machen soll. 

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Aber zurück nach Kiew: Die ukrainische Führung hat sicherlich mehr von Berlin erwartet, auch wenn manche deutschen Medien, und damit meinen wir nicht RT Deutsch, von einem Schmusekurs mit einer Regierung schreiben, die korrupt ist und Andersdenkende verfolgt.

Ja, man will im Zweifelsfall immer mehr. Die jetzige ukrainische Führung befürchtet, dass die EU und Deutschland mit Russland über ihre Köpfe verhandeln und wieder zu einer Einigung in wirtschaftlichen und politischen Fragen kommen könnten. Das ist nicht unbegründet, denn es wäre auf jeden Fall im deutschen Interesse, die Krise mit Russland hinter sich zu lassen.

Aber Deutschland hat sicherlich auch in der Ukraine eigene wirtschaftliche Interessen? 

Deutschland hat in der Tat Interesse an den billigen Arbeitskräften aus der Ukraine, beispielsweise in der Pflege: Die allmähliche Liberalisierung der Aufenthaltsregelungen in der EU für ukrainische Bürger spricht dafür. Im Moment aber läuft die Tätigkeit der Ukrainer in Deutschland über polnische Firmen, die in Deutschland wirtschaftlich agieren können. Als Absatzmarkt für deutsche Produkte ist die Ukraine nicht wirklich interessant, denn die Kaufkraft der ukrainischen Bevölkerung ist niedrig. Manche deutschen Unternehmen haben mittlerweile in der Ukraine Fertigungsstätten für arbeitsintensive Tätigkeiten errichtet, aber das sind immer noch Einzelfälle. Der überwiegende Trend bei deutschen und westeuropäischen Unternehmen ist eher der Rückzug aus dem ukrainischen Markt. Man kann also nicht sagen, dass Deutschland in der Ukraine vitale ökonomische Interessen hat.

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Aber Deutschland engagiert sich doch für die Ukraine, für eine antirussische Ukraine wohlbemerkt. Wie soll Russland denn darauf reagieren? Sigmar Gabriel hat die Ukraine zum Tag der Unabhängigkeit mit einem Gruß ukrainischer Nazis beglückwünscht

Für Russland kann ich schwer sprechen. Was diese Begrüßung angeht - da hat wahrscheinlich Gabriel nicht wirklich Ahnung davon gehabt, welchen Kontext dieser Gruß hat. Das hat jemand ihm als gängige Nettigkeit vorgeschlagen. Dass dieser Faschistengruß „Ruhm der Ukraine!“ in der Ukraine heute quasi-offiziellen Status hat, das zeigt zunächst einmal, dass der faschistische Diskurs innerhalb der Ukraine heute quasi-offiziellen Status genießt, das zeigt sich ja auch an der ukrainischen Geschichtspolitik, die die faschistische Miliz UPA glorifiziert. Tatsache ist auf der anderen Seite, dass im Unterschied zu anderen NATO-Staaten im Moment keine Truppen der Bundeswehr in der Ukraine stationiert sind. Deutschland bewegt sich im Korsett der westlichen Politik und diese unterstützt nun mal die Ukraine. Innerhalb des Westens, wo es kriegstreiberische Kräfte gibt - die bevorstehenden US-Waffenlieferungen an Kiew sind ein Beispiel dafür -, setzt Deutschland eher moderate Akzente. Und von den Waffenlieferungen distanziert sich Deutschland. Kann es ja auch - die Lieferung als solche ist garantiert, das machen die USA oder auch Polen.

Das soll eine ernstzunehmende Lieferung sein. Wenn wir bedenken, dass nun auch keine russischen Offiziere als Beobachter im Krisengebiet anwesend sind, dann haben wir bald im Donbass eine ganz neue politische und militärtechnische Realität…

Eben, und auf die kommt es der Ukraine ja auch an. Sie hoffen, eine neue Runde des Krieges unter diesen Bedingungen gewinnen zu können.Daher ist die Ukraine an Vermittlungen einstweilen nicht interessiert. Zu befürchten ist, dass der Wunsch nach Vermittlung in Kiew erst nach einer eventuellen militärischen Niederlage wieder Gehör finden würde. Im Moment stehen die Zeichen in der Ukraine auf Eskalation. Sollte diese tatsächlich geschehen, werden die Karten neu gemischt - so oder anders.

Reinhard Lauterbach, Jahrgang 1955, ist studierter Historiker und Slawist. Nach langer Tätigkeit für den ARD-Hörfunk schreibt er jetzt für die „Junge Welt“ und andere Medien über Osteuropa. In den Jahren 2015 und 2016 veröffentlichte er die Bücher "Das lange Sterben der Sowjetunion" und "Der Bürgerkrieg in der Ukraine".

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