Europa

Frankreich, was nun?

Die Proteste in Frankreich ebben nicht ab; seit Wochen sorgt Staatspräsident Macron mit dem hartnäckigen Festhalten an seinen Renten-"Reform"-Plänen für erhitzte politische Stimmung unter den Franzosen. Die Proteste haben nicht nur eine innerfranzösische sozialpolitische Dimension, sondern auch eine EU-politische.
Frankreich, was nun?Quelle: AFP © Thomas SAMSON / AFP

Von Pierre Lévy

Steht Frankreich am Vorabend eines Aufstandes? Wurde der Staatsbesuch des englischen Königs in Frankreich (und insbesondere in Versailles) verschoben, weil man befürchtete, dass Charles III. ein indirektes Opfer der Volksrache werden könnte, ähnlich wie sein französischer Kollege Ludwig XVI. im Jahr 1793? Ernsthaft: Wird der Monarch-Präsident Emmanuel Macron seine Rentenreform aufgeben müssen?

Denn die Bewegung gegen diese lässt nicht nach. Am neunten Aktionstag, dem 23. März, wurde ein neuer Rekord an Demonstranten auf den Straßen verzeichnet, fast so viele wie am 7. März. Nach Angaben der Polizei oder der Gewerkschaften beliefen sich die Demonstrationszüge in den großen und kleinen Städten auf über eine bis drei Millionen Menschen.

An mehreren Orten errichteten kleine Gruppen (die maskiert waren, in Wirklichkeit aber im Gegensatz zu den Demonstranten eher aus dem gutbürgerlichen Milieu stammten) Barrikaden, versuchten, öffentliche Gebäude (darunter Rathäuser) in Brand zu setzen, und griffen die Sicherheitskräfte an (wobei unter diesen mehr als 400 Personen verletzt wurden). Die Bilder gingen in ganz Europa herum.

Vor allem aber, so die Gewerkschaftsführer, bestätigen Umfragen, dass der Regierungstext bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung auf Ablehnung stößt, die auf über 70 Prozent geschätzt wird. Und das, obwohl das Gesetz zur Anhebung des Renteneintrittsalters um zwei Jahre am 16. März formell verabschiedet wurde, indem ein Verfassungsartikel angewandt wurde, der es der Exekutive ermöglicht, ihr Vorhaben ohne Abstimmung in der Nationalversammlung durchzusetzen, sofern diese im Anschluss daran nicht einen Misstrauensantrag annimmt. Es wurden zwei solcher Anträge eingebracht, einer davon schrammte nur um neun Stimmen an seiner Annahme vorbei ...

Die meisten Beobachter stellten fest, dass dieses knallharte Vorgehen den Volkszorn und die Beteiligung an Demonstrationen verstärkte. Am 28. März findet ein zehnter Aktionstag statt. Viele Kommentatoren – auch regierungsnahe – fragen sich, wie lange die sich abzeichnende politische Krise dauern wird: Wird Premierministerin Elisabeth Borne, der die absolute Mehrheit in der Versammlung fehlt, im Amt bleiben können? Und wie kann die zweite Amtszeit des Staatspräsidenten selbst, die erst in vier Jahren endet, weitergehen?

Es ist immer riskant, die Zukunft einer sozialen Bewegung und ihre Fähigkeit, ihre Forderungen durchzusetzen, mit Sicherheit vorherzusagen. Daher ist Vorsicht geboten. Zwei grundlegende Faktoren deuten jedoch darauf hin, dass der Staatschef auf dem Weg ist, seine Reform erfolgreich durchzusetzen.

Der erste liegt in der Art der Mobilisierung begründet. Natürlich sind die Demonstrationen massiv; natürlich ist die "öffentliche Meinung" nach wie vor weitgehend gegen den großen sozialen Rückschritt, der darin besteht, zwei weitere Jahre zu arbeiten; natürlich werden bestimmte Sektoren besonders stark mobilisiert – das gilt für den Transportsektor, die Raffinerien oder die Müllabfuhr. Das führt oder kann zu spektakulären Folgen führen.

Aber all diese Elemente sind nicht unbedingt ausschlaggebend für das Kräfteverhältnis, verglichen mit dem, was entscheidend wäre, um das umstrittene Projekt zu Fall zu bringen: ein Massenstreik, der sich auf Tausende von Unternehmen, Fabriken und Büros ausdehnen würde – was sehr weit davon entfernt ist, der Fall zu sein. Die Referenzen in diesem Bereich bleiben 1936 (le "Front populaire") oder Mai/Juni 1968.

Als Beispiel wird oft die Bewegung 1995 angeführt, als der lange und massive Streik der Eisenbahner und anderer öffentlicher Dienste zwar die Abschaffung von Rentensonderregelungen ausgesetzt hatte, aber keineswegs eine radikale Reform der Sozialversicherung verhindern konnte. Aus diesem Jahr stammt auch der Ausdruck "Stellvertreterstreik".

Dieses Phänomen tritt heute wieder auf: Millionen von Bürgern sympathisieren zwar mit den Streikenden in einigen bestimmten Sektoren, aber sagen ihnen im Wesentlichen: Macht weiter, euer Kampf ist unser Kampf, wir unterstützen euch. Auf diese Weise kann das Kräfteverhältnis wahrscheinlich nicht kippen. Applaudieren, einem Meinungsforscher antworten, sogar demonstrieren – das hat noch nie eine Massenmobilisierung in den Betrieben ersetzen können.

Der zweite Faktor ist die Blindheit gegenüber den tatsächlichen Verantwortlichkeiten für die Reform. Diese sind in Brüssel zu suchen (was den französischen Präsidenten keineswegs entlastet, da er Mitverfasser der auf europäischer Ebene beschlossenen Leitlinien ist). Blindheit? Oder, schlimmer noch, die absichtliche Verblendung derjenigen, die um jeden Preis versuchen, die Europäische Union zu schonen, in der (absurden) Hoffnung, dass sie "sozialer" wird.

Es gibt zwar keine EU-Richtlinie, die ein einheitliches Rentenalter in allen Mitgliedsländern vorschreibt. Aber es gibt sehr wohl einen vielschichtigen Druck, dieses überall nach oben zu ziehen. Ein Beispiel dafür ist Spanien, wo das Renteneintrittsalter trotz ausgleichender "Gerechtigkeitsmaßnahmen", die von der "linken" Regierung in ihrer jüngsten Reform betont wurden, jetzt bei 66 Jahren liegt und auf 67 Jahre steigen wird.

Der EU-Rat hatte Frankreich am 12. Juli 2022 "empfohlen", das Rentensystem zu reformieren. Dann hatte die Europäische Kommission vor der Vorstellung der Reform durch Emmanuel Macron eine gewisse Ungeduld durchblicken lassen: "Bisher wurden noch keine konkreten Maßnahmen angegeben".

Darüber hinaus strebt der französische Präsident eine führende Rolle in der Union an, muss dafür aber gegenüber seinen Amtskollegen, insbesondere gegenüber Berlin, glaubwürdig sein. Er möchte daher als eifriger Reformer erscheinen.

Und wer noch Zweifel am Tatort und den Tätern hat, sollte sich an den Europäischen Rat von Barcelona erinnern, der vom 15./16. März 2002 datiert. In den Schlussfolgerungen dieses Gipfels steht in aller Deutlichkeit die Anweisung, "bis 2010 eine schrittweise Erhöhung des effektiven Durchschnittsalters, in dem die Erwerbstätigkeit in der Europäischen Union endet, um etwa fünf Jahre anzustreben".

Damals wurde diese Formulierung von Präsident Jacques Chirac (rechts) und Premierminister Lionel Jospin (sozialistisch) abgesegnet. Der (jedoch sehr EU-freundliche) Zentrist François Bayrou (der heute der Mehrheit von Emmanuel Macron angehört) hatte zu dieser Zeit scharf reagiert:

"Jacques Chirac und Lionel Jospin haben eine wichtige Entscheidung über die Verlängerung der Beitragsdauer für die Renten in Europa unterzeichnet. Wer hat darüber diskutiert? Wer hat auch nur ein Wort darüber verloren? Welcher Bürger, welcher Abgeordnete, welcher Parlamentarier wurde zur Vorbereitung dieser wichtigen Entscheidung eingeladen? Niemand".

Heute bestimmt die Verpflichtung von Barcelona weiterhin die aktuelle Politik, im Namen der "rigorosen" Verwaltung der öffentlichen Finanzen ... und zur größten Zufriedenheit der "Finanzmärkte".

Im französischen Parlament gibt es jedoch keine politische Kraft, die eine Befreiung von der EU in Aussicht stellt: natürlich weder die Abgeordneten der Macronisten, noch die der klassischen Rechten oder der traditionellen Linken – aber auch nicht die, die häufig als links- oder rechtsextrem eingestuft werden.

Solange diese Verleugnung anhält, wird die soziale Bewegung, so stark sie auch sein mag, unter einem Handicap leiden, das ihre Erfolgschancen stark einschränkt.

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