Europa

Innenminister Frankreichs wettert gegen "Halal-Regale" und Kommunitarismus

In der aufgeheizten Stimmung in Frankreich trägt der Innenminister zur Eskalation bei. In einem Interview schimpft er auf spezielle Regale im Supermarkt und verwendet negativ konnotierte Begriffe. Ein Regierungssprecher betont, dies sei nur dessen persönliche Meinung.
Innenminister Frankreichs wettert gegen "Halal-Regale" und KommunitarismusQuelle: www.globallookpress.com © Panoramic

Der französische Innenminister Gérald Darmanin sorgte vor Kurzem mit seinen Aussagen zu muslimisch geprägten Auslagen in Supermärkten für Aufregung. In einem Interview mit dem französischen Sender BFM wetterte Darmanin gegen sogenannte "Halal-Regale", die in Supermärkten Essen anpreisen, das nach muslimischen Vorschriften zubereitet wurde.

Im Kontext der Attacke auf den Lehrer Samuel Paty sowie dem rassistischen Angriff auf zwei Frauen nahe dem Eiffelturm am vergangenen Sonntag bleibt offen, inwieweit der Politiker an einer Deeskalation der Zustände in der Bevölkerung interessiert ist. Mit seinen Aussagen zum sogenannten "Kommunitarismus", schiebt er die Schuld an der Spaltung der Gesellschaft und weitere Eskalation auf die angesprochenen Regale, die Produkte anbieten, die als "Halal" gelten. Auch an Regalen, die "koschere" Nahrung anbieten, stört sich der Politiker:

Es hat mich immer schockiert, in einen Supermarkt zu gehen und zu sehen, dass es ein Regal mit kommunitaristischen Produkten gibt", so der Innenminister in dem Interview.

Weiter äußerte er sich: "Was ich bedauere, sind die Regale. (…) Also habe ich die Regale für Muslime, die koscheren Regale und dann alle anderen Regale. (…) Warum bestimmte Regale?"

Der Begriff "Kommunitarismus" ist in Frankreich negativ konnotiert:

Der Philosoph, Politik- und Sprachwissenschaftler Pierre-André Taguieff datiert die erste Erscheinung des französischen Begriffes "communautarisme" auf das Jahr 1980. Damals wollte man mit dem Ausdruck des Kommunitarismus, der von Beginn an eine abwertende Bedeutung hatte, die Legitimität von Minderheiten, erst der Schwulenbewegung und später vor allem des Islam, in Frage stellen.

Der Begriff werde in Frankreich kaum wertneutral benutzt, und der Philosoph und Soziologe Shmuel Trigano stellte fest, dass der Begriff immer "das Gegenteil des Guten" bedeute.

Im französischen Äquivalent zum Wörterbuch Brockhaus, "Le Petit Robert", werde demnach unter "communautarisme" ein System verstanden, das die Entstehung von Gemeinschaften auf Basis von ethnischen, religiösen, kulturellen oder sozialen Gemeinsamkeiten fördere und so die Nation spalten könnte. Die individualistische Dimension stehe bei der Kritik stets im Vordergrund, allerdings tendiere man in Frankreich dazu, den Kommunitarismus mit "Multikulti" gleichzusetzen und beides abzulehnen.

Der französische Philosoph François Jullien geht davon aus, dass der Kommunitarismus von "kulturellen bzw. ethnischen Unternehmern" gefördert werde und im schlimmsten Falle zu einer "Libanisierung" oder "Balkanisierung" des Landes führen könnte. Er geht weiterhin davon aus, dass die kulturellen Gemeinschaften in einem wirtschaftlichen Wettbewerb miteinander stünden und so die Gefahr eines Bürgerkrieges bestehe, ein Gedanke, der sich der Idee des "Clash of Cultures" bedient und der sich in Deutschland unter dem Leitspruch der sogenannten "Islamisierung des Abendlandes" bei Pegida findet.

Allerdings findet man im deutschsprachigen Raum ebenso die sogenannte "Identitäre Bewegung", die wiederum dem französischen Verständnis von Kommunitarismus zuzuordnen wäre: Wie Taguieff beschreibt, könne der Begriff "communautarisme" auch die politische Instrumentalisierung eines "identitären Mythos" sein, der mit einer "Überhöhung der Kollektividentität einhergehe" sowie mit einer Politik, die "ein Recht auf Unterschied" verlange. Dies sei ein ursprünglich linkes Motto, das später durch den "Front National" übernommen wurde.

Kommunitarismus und Multikulturalismus stammten außerdem ursprünglich aus dem angelsächsischen Raum, dies mache sie vielen Franzosen ohnehin verdächtig. Viele Menschen in Frankreich hätten Angst vor einer Amerikanisierung der Gesellschaft, die zudem stets mit in Frankreich negativ konnotierten Begriffen wie Globalisierung und Neoliberalismus assoziiert werde.

Viele Intellektuelle warnten mit offensichtlich religiösem Unterton vor einer nahenden Apokalypse und einem "Selbstmord" Frankreichs durch eine wahrgenommene Verbreitung des Kommunitarismus.

Auch in der französischen Gesetzgebung findet man eine kritische Haltung gegenüber dem Kommunitarismus: Der französische Verfassungsrat beschrieb den Kommunitarismus als eine "Anerkennung besonderer Gruppenrechte für Gruppen mit einem gemeinsamen Ursprung, einer Kultur, einer Sprache oder einem Glauben". Solche Gruppenrechte seien nicht verfassungskonform.

Hier finden sich auch die Gründe finden, weshalb Frankreich sich bisher weigerte, die "Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen" zu ratifizieren.

Der Rechtsspezialist Pierre-Henri Prélot zitiert in diesem Zusammenhang einen Abgeordneten aus der Zeit der Französischen Revolution, Stanislas de Clermont Tonnerre, mit den Worten: "Den Juden als Nation muss man alles verweigern; als Individuen muss man ihnen alles zugestehen." Nach Auffassung von Prélot sollte dieses Prinzip auch für alle heutigen Gemeinschaften gelten.

Selbst erklärte Gegner des Kommunitarismus geben dabei an, die Tatsache, dass bestimmte Gesellschaftsmitglieder ihre kulturellen Besonderheiten in der Öffentlichkeit ausleben, liefere die Grundlage für eine Kategorisierung und somit für Stigmatisierung und Verfolgung liefern: Nach demselben Prinzip wären Frauen an einer Vergewaltigung selbst schuld, falls sie sich "zu leicht" bekleidet in die Öffentlichkeit begeben.

Andere französische Sozial- und Geisteswissenschaftler stehen einem "kulturellen Pluralismus" offener gegenüber: Beispielsweise wird in Anlehnung an den Ethnologen Claude Lévi-Strauss vor der Gefahr eines westlichen Ethnozentrismus gewarnt und von einem "Mittelweg" zwischen einem wahrgenommenen "menschenfressenden Universalismus" und einem "prinzipienlosen Werterelativismus" gesprochen. Dieser Mittelweg werde von manchen als "Pluriversalismus" bezeichnet und ziele darauf ab, eine Möglichkeit zur "Erhaltung der Verschiedenheit trotz Betonung der Universalität" zu erarbeiten.

Bekennende Vertreter des Kommunitarismus sind äußert selten, wie beispielsweise der Ethnopsychoanalytiker Tobie Nathan, der sich für die Berücksichtigung von Ursprungskulturen und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ausspricht. Dies sei auch für die Behandlung psychischer Probleme wichtig. Kritiker sehen allerdings die hierfür vorausgesetzte "Verwurzelung des Einzelnen in eine besondere Kultur" als problematisch bis gefährlich an.

Im Allgemeinen könne festgestellt werden, dass der Begriff "communautarisme" in Frankreich als Projektionsfläche für alles diene, das im Gegensatz zur Aufklärung stehe. In seiner Arbeit zur Klärung des Begriffes schreibt Yves Bizeul:

Das Problem liegt in Wahrheit weniger in der Chimäre des "communautarisme" als im republikanischen Integrationsmodell selbst. Es ist unbefriedigend, und dies nicht nur, weil die Realität in Frankreich oft anders aussieht, als sie nach diesem Konzept sein sollte: Auch in Frankreich findet man immer mehr gettoähnliche Zustände, auch in Frankreich werden Menschen im Alltag aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert und ältere religiöse Gemeinschaften vom Staat besser behandelt als neuere. Außerdem wurde vor allem hier im Laufe der Zeit eine Zwangsnivellierung der Kulturtraditionen zugunsten einer konstruierten ethnischen nationalen Kultur rücksichtslos durchgesetzt, insbesondere im Bereich der Sprache. (…) Die Vorstellung eines neutralen Staates ist in Frankreich und anderswo ein Mythos.

Weiterhin wird Jürgen Habermas' Aussage im Zusammenhang mit dem republikanischen Universalismus zitiert, der dem sogenannten Kommunitarismus gegenübergestellt wird:

Der gleiche Respekt für jedermann erstreckt sich nicht auf Gleichartige, sondern auf die Person des Anderen oder der Anderen in ihrer Andersartigkeit. Und das solidarische Einstehen für den Anderen als einen von uns bezieht sich auf das flexible "Wir" einer Gemeinschaft, die allem Substantiellen widerstrebt und ihre poröse Grenzen immer weiter hinausschiebt.

Nach den Aussagen Darmanins zum Kommunitarismus betonte der Regierungssprecher Gabriel Attal, dies sei lediglich die persönliche Meinung des Innenministers, und die Supermarktregale hätten momentan keine Priorität für die Regierung.

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