Nahost

Studie zu Erdoğan-Regierung: Präsidialsystem doch nur Pyrrhussieg?

Wie geht es weiter in der Türkei? Anscheinend hat Präsident Erdoğan die Macht fest im Griff. Doch eine Studie der deutschen regierungsnahen Stiftung SWP lässt Zweifel aufkommen. Die Etablierung des Präsidialsystem könnte sich als Pyrrhussieg erweisen.
Studie zu Erdoğan-Regierung: Präsidialsystem doch nur Pyrrhussieg?© ZUMAPRESS.com/Panoramic

Die regierungsnahe "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) hat eine Studie veröffentlicht, in der sie die Entwicklungen in der türkischen Politik der letzten Jahre analysiert. Die Studie zeichnet ein anderes Bild der Erdoğan-Präsidentschaft als in den meisten anderen Quellen dargestellt, was auch im Hinblick auf die kommenden Kommunalwahlen in der Türkei am 31. März interessant ist. Denn der Autor der Studie, Günter Seufert, meint, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan habe durch die Einführung des Präsidialsystems letztendlich einen Pyrrhussieg davongetragen.

Zunächst schildert die Studie, dass die Argumentation der Befürworter des Präsidialsystems war, Eingriffe der traditionellen Bürokratie in das Regierungsgeschäft zu unterbinden. Beispielhaft für solche Eingriffe, die teils extreme Ausmaße annahmen, war etwa ein gegen die Regierungspartei AKP selbst gerichtetes Verbotsverfahren. Das Präsidialsystem, wie es in der Türkei nun etabliert wurde, biete dagegen die Möglichkeit, "tief in Bürokratie und Justiz hinein(zu)wirken". Zugleich habe sich Erdoğan davon versprochen, die Regierbarkeit der Türkei insgesamt zu verbessern:

Der direkte Zugriff des in seiner Rolle gestärkten Präsidenten auf alle staatliche Institutionen soll die Bürokratie verschlanken, Entscheidungsprozesse und Befehlsketten verkürzen und so staatliches Handeln effektiver machen.

Erdoğan-Anhänger stellten das überkommene Präsidialsystem als Panoptikum für alle Probleme des Landes dar und versprachen den Wählern, diese zu lösen, sollten sie nur Erdoğan die erweiterte Machtfülle anvertrauen, über die im Referendum für das neue Präsidialsystem abgestimmt wurde. Seufert zufolge erhoffen sich einige Kreise, dass Erdoğan nach den Kommunalwahlen zu einer Reformagenda im Sinne der EU-Staaten zurückkehren wird, da im Anschluss an den 31. März mehrere Jahre lang keine Wahlen geplant sind. Doch die Aussagen in der Studie lassen wenig Hoffnung für diese Möglichkeit übrig.

Die EU-Beitrittsverhandlungen hätten den EU-Staaten die Möglichkeit geboten, auf die Entwicklung der türkischen Politik Einfluss zu nehmen. Doch dieses Instrument sei nun nicht mehr verfügbar, seitdem die Verhandlung mit der EU zum Stillstand gekommen sind. Eine Wiederaufnahme der Verhandlung sei auch gar nicht in Sicht.

Gleichzeitig haben die Konflikte und Kriege im Nahen Osten die Relevanz der Türkei für Europas Sicherheit erhöht, weshalb man auf die Kooperation mit Ankara nicht verzichten will, in der Flüchtlingsfrage ebenso wenig wie im Antiterrorkampf", so die Studie.

Die Verfassungsänderung sei von dem Leitbild einer kulturell homogenen Nation mit einem starken Führungszentrum geprägt:

Sie bündelt die Exekutive in einer Person, sie schwächt die Kontrolle der Exekutive durch das Parlament, sie macht den Präsidenten zum Zentrum einer konkurrierenden Gesetzgebung, und sie erhöht drastisch den Einfluss der Exekutive auf die Judikative.

Ein zentrales Vorhaben von Erdoğan sei es gewesen, den Geheimdienst Milli İstihbarat Teşkilatı (MIT) direkt an sich zu binden. Der türkische Präsident habe öffentlicht erklärt, dass er den MIT auch zur Kontrolle und Überwachung seiner eigenen Partei AKP nutzen wolle.

Im Zuge der Etablierung des Präsidialsystems sei die Rolle, die das Parlament im politischen System der Türkei spielt, wesentlich schwächer geworden. Der Präsident regiere zunehmend per Dekret und umgehe somit die üblichen demokratischen Gesetzgebungsverfahren. Der Ursprung dieser Entwicklung geht auf die Zeit nach dem missglückten Putschversuch im Sommer 2016 zurück, als Erdoğan im Zuge eines Ausnahmezustandes per Notverordnungen regierte. Ein immer größerer Anteil des Haushalts werde intransparent gemacht und der Überprüfung durch das Parlament entzogen. Auch würde die Regierung Anfragen von Parlamentariern kaum noch rechtzeitig und oft gar nicht mehr beantworten.

Die Säuberungen des Staatsapparates von Gülen-Anhängern habe zu einer "weithin gelähmte(n) Bürokratie" geführt. Dies und einige organisatorische Umstrukturierungen von Ministerien und anderen Verwaltungskörpern habe zu einem zunehmenden Unmut unter den Staatsdienern beigetragen, auf die die AKP noch keine Antwort gefunden hätte.

Beamte, die anstelle der aus dem Staatsdienst entfernten Gülen-Anhänger eingestellt wurden, seien nach Kriterien wie "Mitgliedschaft in religiösen Netzwerken oder politischen Parteien und einer davon abgeleiteten sachfremden Loyalität" ausgewählt worden und nicht nach ihrer Fachkompetenz. Dies habe zu einer wachsenden statt sinkenden Ineffizienz des Staates geführt.

Der regierungsnahen Analyse zufolge hatte die AKP bei ihrem Regierungsantritt im Jahr 2003 selbst kaum gut ausgebildete Kader, weshalb sie auf die Gülen-Anhänger - mit denen sie damals ein Bündnis bildete - angewiesen war. Die jetzt "frei" gewordenen Stellen fülle der Kreis um Erdoğan mit "Angehörigen extrem konservativer religiöser Orden und Mitgliedern der MHP in großer Zahl". Die Öffnung des Staatsapparates für die MHP sei Teil des inoffiziellen Abkommens zwischen dieser Partei und der AKP gewesen. Ab Oktober 2016 änderte die MHP-Führung ihren bisherigen oppositionellen Kurs und ermöglichte das Referendum zur Einführung des Präsidialsystems. Als Zünglein an der Wage sei sie nun weit über ihr prozentuales Wahlergebnis hinaus gestärkt worden. Doch es ist eine offene Frage, wie verlässlich diese neue Stütze der AKP tatsächlich auf Dauer ist. Erdoğan sei nun wieder auf eben jene extremnationalistischen Elemente angewiesen, gegen die er nur wenige Jahre zuvor zusammen mit den Gülenisten vorgegangen war.

Politisch habe die AKP keine großen Visionen mehr für das Land, stellt die Studie fest:

Heute ist die Frage, welche inhaltlichen oder gestalterischen Anliegen er verfolgt, vollkommen hinter den Kampf um Machterhalt zurückgetreten.

Auch außenpolitisch backe die Regierung inzwischen "kleinere Brötchen":

Von einer türkischen Politik, die weit in den Nahen Osten ausgreift, ist Ankara heute wieder – wie zu Hochzeiten kemalistischer Herrschaft – auf das eng begrenzte Ziel zurückgeworfen, eine kurdische Selbstverwaltung in den Nachbarstaaten zu verhindern.

Im Zuge der Einführung des Präsidialsystems sei die Hauspartei von Erdoğan, die AKP, abgewertet und "zum Wahlverein degradiert" worden. Alle wichtigen Fragen würden direkt von einem persönlichen Kreis um Erdoğan entschieden. Zudem koppele sich die Regierung von der Regierungspartei ab:

Nur vier der von ihm ernannten 16 Minister hatten zuvor eine Funktion in der Partei, der Rest kommt aus Verwaltung, Privatwirtschaft oder von Universitäten… Von den vier Ministern mit AKP-Vergangenheit gehört wiederum nur einer dem Parteivorstand (MYK) an.

Das führe zu einem Verlust ihrer "Funktion als Kanal für politische Beteiligung" und bremse daher auch die parteiinterne Dynamik.

Die Studie fasst zusammen:

Erdoğan hat damit zwar eine überbordende Machtfülle, doch sind seine Gestaltungsmöglichkeiten deutlich beschnitten. Es ist ihm heute praktisch unmöglich, die außen- und innenpolitischen Ziele aufrechtzuerhalten, die er früher als Vision für die Türkei formulierte. Mehr noch – die Fundamente seiner Macht selbst werden offenbar porös.

Den Staaten der EU empfiehlt Seufert, darüber nachzudenken, den Beitrittsprozess zu beenden. Stattdessen solle sich die Zusammenarbeit, die weiterhin notwendig sei, auf konkretere Projekte fokussieren. Etwa solle der Türkei – im Gegenzug für ein Entgegenkommen seitens der EU-Staaten in der Visa-Frage für türkische Staatsbürger – eine "erweiterte und modernisierte Zollunion" angeboten werden.

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