Nahost

Analyse zur Türkei-Wahl: Sieg für Erdoğan, Rückschlag für AKP

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan konnte eine knappe Mehrheit bei den Wahlen gewinnen. Doch seine islamisch-konservative AKP verlor zugleich viele Stimmen an die Nationalisten. Ein Phyrrus-Sieg?
Analyse zur Türkei-Wahl: Sieg für Erdoğan, Rückschlag für AKPQuelle: www.globallookpress.com © ZUMAPRESS.com/Can Erok

von Hasan Posdnjakow

Recep Tayyip Erdoğan führt seit Anfang der 2000er-Jahre die Türkei, zunächst als Ministerpräsident, seit 2014 als Präsident. Er ging aus fast allen Wahlen und Volksabstimmungen siegreich hervor. Mit über 52 Prozent der Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen am 24. Juni konnte er die Wiederwahl erreichen. Um eine zweite Runde zu vermeiden, benötigte er über 50 Prozent. Der stärkste Oppositionskandidat, der Sozialdemokrat Muharrem İnce, erhielt knapp 31 Prozent.

Mit der Wahlen traten eine Reihe von Verfassungsänderungen in Kraft, die bei einer Volksabstimmung im Jahr zuvor ebenfalls mit einer knappen Mehrheit beschlossen wurden. Dabei hatten viele wichtige Großstädte dagegen gestimmt, unter anderem die größte Stadt Istanbul und die Hauptstadt Ankara. Die Verfassungsreform räumt dem Präsidenten weitreichende Rechte ein, unter anderem, die Regierung ohne Mitwirkung des Parlaments zu gestalten, Erlässe zu verfügen und dem Parlament den Staatshaushalt vorzuschlagen, wobei die Änderungsrechte der Abgeordneten begrenzt wurden.

Während Erdoğan dank eines Wahlbündnisses mit der ultrarechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) seine Wiederwahl sichern konnte, erlitt die AKP teils schwere Verluste an der Urne. Landesweit gingen ihr Stimmanteil von 49,5 Prozent im November 2015 auf 42,6 Prozent zurück. Die AKP verlor also rund sieben Prozent. Damit ging ihre Stärke in etwa auf das Niveau bei den Wahlen im Juni 2015 zurück, als sie knapp 41 Prozent erreichte und somit die absolute Mehrheit verlor. Nach kurzen Koalitionsgesprächen verkündete Erdoğan damals Neuwahlen, die er gewann.

Aufgrund des veränderten Verfassungssystems ist Erdoğan trotz des schlechteren Ergebnisses seiner Partei diesmal nicht auf eine Koalition angewiesen, um die Regierung stellen zu können – als Präsident kann er nun unabhängig vom Parlament sein Kabinett gestalten. Trotz der erweiterten Befugnisse des Staatschefs muss sich die AKP jedoch um die Stimmen der MHP bemühen, um Gesetze im Parlament beschließen zu können. Zudem verfehlte das Bündnis zwischen AKP und MHP die Anzahl der Parlamentssitze, die nötig wäre, um Verfassungsänderungen durchsetzen zu können.

Derzeit laufen noch Verhandlungen zwischen MHP und AKP. Regierungsvertreter erklärten, dass Präsident Erdoğan Ende nächster Woche sein neues Kabinett bekannt geben wird. Hinter den Kulissen wird spekuliert, dass der Staatschef einige bedeutende Posten an die MHP übergeben wird. Somit werden die Nationalisten zum Zünglein an der Waage.

Große Verluste für AKP bei Stammwählerschaft

Schaut man sich die einzelnen lokalen Ergebnisse der AKP an, wird deutlich, wie groß die Verluste der AKP bei ihrer Stammwählerschaft waren. In der islamisch-konservativen Hochburg Konya rutschte sie von fast 74 auf rund 59 Prozent ab. In Rize, der Heimatprovinz Erdoğans, verlor sie mehr als zehn Prozent. In der ländlichen zentralanatolischen Provinz Kırıkkale musste die AKP sogar einen Rückgang von fast 20 Prozent hinnehmen: Hatte sie im November 2015 noch mehr als 62 Prozent der Wähler für sich gewinnen können, waren es bei den letzten Wahlen nur noch rund 44 Prozent.

Auch in den großen Metropolen schnitt die AKP schlechter ab als bei den letzten Wahlen. In Istanbul erhielt sie statt fast 49 Prozent knapp 42 Prozent. In der Hauptstadt Ankara waren die Verluste noch größer. Da rutschte die AKP von ebenfalls 49 Prozent auf rund 40 Prozent ab.

Die meisten türkischen Kommentatoren stimmen darin überein, dass ein Teil der enttäuschten AKP-Wählerschaft bei diesen Wahlen aus Protest für die MHP gestimmt hat. Somit blieben die Wähler zwar innerhalb eines politischen Bündnisses, konnten aber dennoch ihren Unmut über die AKP-Regierung ausdrücken.

Diese Wählerwanderung, die sich allerdings aufgrund mangelnder Untersuchungen im Gegensatz etwa zu Deutschland noch nicht empirisch überprüfen lässt, hatte für die MHP den erfreulichen Effekt, dass ein drohender massiver Stimmverlust aufgrund einer Spaltung nur wenige Monate vor der Wahl abgewendet wurde. Ein bedeutender Teil der MHP-Kader hatte sich im Oktober 2017 nach Auseinandersetzungen um den Pro-Erdoğan-Kurs des MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli abgespalten und die moderatere konservative Partei "İyi Parti" (Gute Partei) gegründet. Sowohl MHP als auch İyi Parti konnten bei den letzten Wahlen jeweils rund elf bzw. zehn Prozent erreichen, womit rein rechnerisch das konservativ-nationalistische Lager auf über 20 Prozent anstieg.

CHP-Kandidat schnitt deutlich besser als seine Partei ab

Die linkskemalistisch-sozialdemokratische Republikanische Volkspartei (CHP) erreichte im Vergleich zu ihrem Präsidentschaftskandidaten ein weitaus niedrigeres Ergebnis – sie verharrte bei etwa 23 Prozent der Stimmen. Viele CHP-Kader möchten nun, dass der amtierende Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu, der in seiner Amtszeit rund zehn Wahlen verloren hat, zurücktritt und seinen Posten an den charismatischen İnce abgibt.

Die linke, prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) erreichte knapp zwölf Prozent der Stimmen. Somit überwand sie zum dritten Mal in Folge die im türkischen Wahlgesetz vorgesehene Sperrklausel von zehn Prozent. Während sie in den kurdischen Gebieten einen Rückgang ihrer Stimmen verzeichnete, konnte sie in den westlichen Gebieten zulegen. Parteisprecher führten dies größtenteils auf vermeintliche Unregelmäßigkeiten sowohl vor als auch während des Wahlgangs zurück. Im Internet etwa kursiert ein Video, das zeigen soll, wie eine Person massenweise Wahlzettel zugunsten der MHP ausfüllt und abgibt – sollte sich dieses Video als wahr erweisen, wäre es ein eklatanter Verstoß gegen das Wahlgesetz.

Die Partei hatte Aktivisten der türkischen sozialistischen Bewegung aussichtsreiche Listenplätze eingeräumt. Während dies zu einem Anstieg ihrer Stimmen in den türkischen Großstädten führte, beklagten einige kurdische Kommentatoren, dass die HDP den Mitgliedern der kurdischen Bewegung zu wenig Platz eingeräumt und somit ihr Profil als "kurdische" Partei abgeschwächt habe.

Wirtschaftskrise lässt Zuspruch für Erdoğan sinken

Das größte drohende Problem für die Erdoğan-Regierung dürfte, jenseits der konkreten politischen Konstellation im Parlament, die wirtschaftliche Situation der Türkei sein. Die türkische Lira hat in den letzten Monaten einen dramatischen Verfall erlebt. Im Vergleich zum US-Dollar verlor sie seit Anfang dieses Jahres etwa 20 Prozent ihres Werts. Auch gegenüber dem Euro verlor sie etwa 17 Prozent.

Zugleich haben türkische Unternehmen enorme Schulden in fremden Währungen angehäuft. Durch den Wechselkursverfall wird es für sie immer schwieriger, diese zurückzuzahlen. Insgesamt beläuft sich der private Schuldenberg auf etwa 450 Milliarden Dollar – rund die Hälfte der jährlichen Wirtschaftsleistung. Der Internationale Währungsfond (IWF) hat schon angekündigt, eine Notgruppe zu bilden für den Fall, dass die türkische Regierung an seine Tür klopft.

Die Türkei importiert auch wesentlich mehr, als sie exportiert. Somit wirkt sich der Wertverlust der Lira besonders dramatisch aus. Hinzu kommen steigende Staatsausgaben sowie eine hohe Inflation und Arbeitslosigkeit. Ausländische Investoren sind sich unsicher, ob Erdoğan eine (aus der Perspektive der westlichen Unternehmen) vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik verfolgen wird. Vor den Wahlen hatte er einige unorthodoxe Ideen zur Zinspolitik verkündet, etwa, dass er die Inflation durch niedrige Zinsen bekämpfen möchte. In der Wirtschaftswissenschaft dagegen wird allgemein akzeptiert, dass niedrige Zinsen geradezu die Inflation befeuern. Der Präsident hatte bereits vor seiner Wiederwahl angekündigt, zukünftig aktiver in die Wirtschaftspolitik eingreifen zu wollen – kein gutes Signal für die ausländischen Investoren.

Nach einer Wirtschaftskrise im Jahr 2001 unter ähnlichen Vorzeichen hatten die türkischen Wähler die drei Parteien der damaligen Koalition aus dem Parlament gejagt. Sieger dieser Wahl und Hoffnungsträger vieler türkischer Bürger war – Erdoğans AKP. Schließt sich jetzt der Kreis, oder kann der türkische Staatschef einen wirtschaftlichen Kollaps abwehren und somit seine Macht auf Jahre sichern? Dies wird die bestimmende Frage der türkischen Politik in den kommenden Monaten sein.

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