Nahost

Exklusiv-Interview mit Kurden-Sprecherin: "USA kennen nur ihre eigenen geopolitischen Interessen"

Im Exklusiv-Interview mit RT Deutsch hat die Sprecherin der Organisation NAV DEM, die zur Organisationsstruktur der PKK in Europa gehört, Dersim Dagdeviren, über die Lage in Afrin, das Verhältnis zur Türkei und die YPG-Allianz mit den USA gesprochen, vor der sie warnte, dass die USA "nur ihre eigenen geostrategischen Interessen" kennen.
Exklusiv-Interview mit Kurden-Sprecherin: "USA kennen nur ihre eigenen geopolitischen Interessen"Quelle: Reuters

Die Türkei hat eine massive Militäroperation im syrischen Afrin gestartet. Was bedeutet der Angriff für die Kurden Nordsyriens, und welche Auswirkungen könnte die Konfrontation für die Zukunft der Region und der Kurden ihrer Meinung nach haben?

Während der sogenannte "Islamische Staat" im Mittleren Osten mittels der Demokratischen Kräfte Syriens, in denen die kurdischen Einheiten der YPG/YPJ einen nicht unerheblichen Teil ausmachen, weitgehend zerschlagen ist, wird durch den völkerrechtswidrigen Angriff des türkischen Militärs auf Afrin unter Zuhilfenahme der FSA – übrigens langjährige Verbündete des Westens – und jihadistischer Milizen ein neuer, umfangreicher Krisenherd in der Region geschaffen. In Afrin, einer von drei Kantonen der Demokratischen Föderation Nordsyrien, leben die Ethnien, Glaubensgemeinschaften und Kulturen demokratischen, ökologischen und gendergerechten Prinzipien gemäß friedlich miteinander. 

Der Angriff der Türkei zielt auf eine demographische Veränderung, gar ethnische Säuberung des Gebietes ab. Zudem richtet er sich gegen die fortschrittlichen Errungenschaften der Völker, allen voran des kurdischen Volkes, welche als Vorbild für die von ethnisch und konfessionell konnotierten Konfliktlinien geprägte Region des Mittleren Ostens fungieren, und unterminiert so auch den Wiederaufbau Syriens. Diese Angriffe stärken das Assad-Regime und bergen zudem die Gefahr, dass islamistische Gesinnung wieder an Boden gewinnt. So wurden jüngst Kräfte der SDF (Demokratische Kräfte Syriens) aus Deir ez-Sor nach Afrin abgezogen. Ein erneutes Erstarken islamistisch-jihadistischer Kräfte ist nicht nur regional eine Gefahr. Wir erinnern an die vielen schrecklichen Anschläge in Europa, die auf das Konto dieser barbarischen Gesinnung gehen.    

Wie bewerten Sie als Ärztin und Aktivistin die humanitäre Lage gegenwärtig in Afrin?

Afrin war Rettungsanker für etwa 400.000 syrische Binnenflüchtlinge. Trotz beschränkter Möglichkeiten der Kantonsverwaltung fanden diese dort Schutz in einem menschenwürdigen Klima. Seit Beginn der türkischen Angriffe wurden hunderte Zivilisten getötet und hunderte verletzt. Auch Gebiete rund um die Flüchtlingslager sowie Hilfskonvois waren Ziel der Angriffe. Vor einigen Tagen starb ein Arzt, als er sich um verwundete Zivilisten kümmerte. Da die Wasserwerke bei den Angriffen der türkischen Armee zerstört wurden, ist die entsprechende Versorgung der Region stark gefährdet. Immer wieder war vom Einsatz chemischer Waffen durch die türkische Armee die Rede. Neue Flüchtlingsströme, diese waren zunächst abgeebbt, sind garantiert. Vor den Augen der schweigenden Weltöffentlichkeit mitsamt aller verantwortlichen institutionellen Strukturen, allen voran den Vereinten Nationen, spielt sich eine humanitäre Katastrophe ab.  

Welche politische Bedeutung spielt Afrin für die Kurden in Syrien?

Afrin ist nicht nur für die Kurden von politischer Bedeutung, sondern für alle Volksgruppen und Glaubensgemeinschaften, primär in Syrien, aber auch im gesamten Mittleren Osten. Afrin bildet gemeinsam mit den Kantonen Cizir und Kobane eine Oase der Demokratie in der von Krieg gezeichneten Region. Die basisdemokratischen Strukturen in allen drei Kantonen gewährleisten nicht nur die Partizipation aller Ethnien und Religionen, sondern sind auch mit der paritätischen Besetzung aller Funktionen und Ämter sowie der Genderquote (keine Frauenquote!) ein wichtiger Meilenstein beim Aufbau einer freiheitlichen Gesellschaft und demokratischen Nation, der er dringend bedarf.

Gibt es Aspekte, die Afrin von den anderen Kurden-Kantonen in Nordsyrien unterscheidet?

Es ist richtig, dass in den drei Kantonen Nordsyriens die Kurden den größten Teil der Bewohner ausmachen. Jedoch leben darüber hinaus in diesen Kantonen zahlreiche weitere Ethnien und Glaubensgemeinschaften, die friedlich und gleichberechtigt, miteinander leben. Afrin ist hierbei der Kanton mit besonderer ethnischer und konfessioneller Pluralität: Alawiten, Christen, Eziden und Sunniten sowie Araber, Armenier, Assyrer, Kurden und Turkmenen leben hier. Zahlreiche dieser Gemeinschaften, wie z. B. die Armenier und Eziden, tragen bereits eine Genoziderfahrung durch den türkischen Staat oder seitens der von diesem unterstützten islamistischen Gruppen. 

Abdullah Öcalan, der Führer der kurdischen PKK, ist ein Kurde aus der Türkei. In Syrien finden sich bei so gut wie allen PYD/YPG-Veranstaltungen das Konterfeit von Öcalan wieder. Welche Beziehungen haben syrische Kurden zu der Persönlichkeit?

Abdullah Öcalan ist eine Führungspersönlichkeit, die sich nicht nur für die Belange und Rechte der Kurden in der Türkei einsetzt. Seine Forderungen, Perspektiven und Lösungskonzepte gelten den Kurden in allen vier Teilen Kurdistans, aber eben auch allen anderen Ethnien, Glaubensgemeinschaften und Kulturen der von ethnisch und konfessionell konnotierten Konflikten gezeichneten Region. Abdullah Öcalan ist der Architekt des Konzeptes des Demokratischen Konföderalismus, das in den autonomen, demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava seinen Ausdruck findet. Dies generiert bereits eine starke Bindung zu Abdullah Öcalan, nicht nur der Kurden in Syrien, sondern in allen vier Teilen Kurdistans sowie von Seiten aller Ethnien und Glaubensgemeinschaften in der Region.

Hinzu kommt, dass Abdullah Öcalan lange Jahre in Syrien gelebt und politisch agiert hat, was sicherlich neben seiner Persönlichkeit und Volksnähe die Verbundenheit der Menschen in Syrien ihm gegenüber verstärkt hat. Auch in anderen Regionen Syriens, z. B. in Minbic, begegnen die Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft und Religion, Abdullah Öcalan mit großem Respekt. Sie wissen, dass er nicht nur den Grundstein für den Widerstand des kurdischen Volkes gegen jahrzehntelange Unterdrückung gelegt hat, sondern auch Initiator und Architekt eines demokratischen Mittleren Ostens ist. Im Übrigen sind die Thesen, Perspektiven und Konzepte von Abdullah Öcalan auch nicht allein auf den Mittleren Osten begrenzt, sondern von globaler Relevanz.

Die syrische Armee hat unter Vermittlung Russlands angeboten, dass sie Afrin gegen die türkische Armee und pro-türkische Rebellen schützen wird. Warum ging die PYD/YPG Ihrer Meinung nach nicht auf das Angebot ein?

Die YPG/YPJ haben die syrische Zentralregierung aufgerufen, syrisches Territorium zu verteidigen. Es geht der syrischen Armee jedoch nicht um den Schutz der Menschen, sondern darum, die Kontrolle über den Kanton Afrin zu übernehmen. So hieß es, dass von der YPG/YPJ u. a. gefordert wurde, die Waffen und die lokale Administration an Damaskus zu übergeben. Eine Machtübernahme durch das Assad-Regime jedoch bedeutet die Abschaffung der dort etablierten demokratischen Strukturen mit fatalen Folgen regional wie international. Die wenigen in das Gebiet entsendeten regimenahen Milizen bzw. Armeeeinheiten konnten den Angriffen der Türkei kaum Stand halten. Ein ernsthaftes Interesse der syrischen Regierung, den Angriff auf Afrin zu stoppen ist nicht erkennbar. Die entsprechende Rolle Russlands ist offenkundig.

Die USA, die die YPG im Rahmen der "Demokratischen Kräfte Syriens" unterstützen, scheinen die YPG gegen die Türkei im Stich gelassen zu haben. Inwieweit herrscht diese Einschätzung auch unter den Kurden vor?

Die Politik der USA, insbesondere im Mittleren Osten, ist eine von geostrategischen Interessen geleitete Politik. Die Unterstützung der Demokratischen Kräfte Syriens und der YPG/YPJ ist in diesem Kontext zu werten. Es geht den USA nicht um Demokratie im Mittleren Osten, sondern um 'stabile' pro-amerikanische Verhältnisse. Den Kurden war und ist dieses bewusst. Vergessen werden darf auch nicht, dass hier nicht nur die USA in der Verantwortung stehen, sondern alle westlichen Staaten. Schließlich ist die Politik des Westens nicht unwesentlich für das Machtvakuum, zunächst im Irak und im Gefolge in Syrien, verantwortlich, das sich beispielsweise der IS zunutze gemacht hat.

Die Türkei ist ein wichtiger NATO-Alliierter von Washington. Gab es überhaupt eine realistische Chance, dass die YPG mit Hilfe westlicher Hilfe dem Fadenkreuz der Türkei entrinnen könnte?

Die Türkei verfügt nach den USA über die zweitstärkste Armee innerhalb der NATO. Sie ist bisher für keines ihrer Kriegsverbrechen von Seiten der NATO gerügt worden. Auch hier sind geostrategische Interessen führend. So verstößt die Türkei eindeutig gegen den Nordatlantikvertrag, gemäß dem sich alle unterzeichnenden Staaten verpflichten, "jeden internationalen Streitfall durch friedliche Mittel in der Weise zu regeln, dass Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit unter den Völkern nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeglicher Drohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die in irgendeiner Weise mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist". Es existiert zwar kein unmittelbarer Mechanismus zum Ausschluss eines Mitgliedes aus dem Bündnis, jedoch sieht Artikel 12 des Nordatlantik-Vertrages vor, dass jedes Mitglied eine Abänderung beantragen kann.  

Mit den tragenden Strukturen der Vereinten Nationen verhält es sich nicht anders. Der UN-Sicherheitsrat wurde zwar auf Initiative des französischen Außenministers Jean-Yves Le Drian angerufen, da die Türkei jedoch NATO-Mitglied ist und sich zugleich Russland wieder angenähert hat, unterblieb eine Verurteilung des türkischen Vorgehens.

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat erhebliche Zweifel, dass die Operation Olivenzweig mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Für das Recht auf Selbstverteidigung fehlt der Beweis, so der Dienst. Vor dem Hintergrund des Einsatzes deutscher Panzer bzw. Waffen im Krieg gegen Afrin und der skandalösen Rüstungsdeals mit der Türkei wird hier eine Kurswende der westlichen Staaten, allen voran der NATO nicht zur erwarten sein. Vergessen wir nicht, dass das Bundesinnenministerium die Türkei "als Aktionsplattform islamistischer Gruppierungen" eingestuft hatte, was de-facto ebenfalls ohne Konsequenzen geblieben ist. An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Türkei seit Jahrzehnten immer wieder Südkurdistan/Nordirak angreift, ohne jegliche internationale Kritik und Konsequenzen.

Nach dem Unabhängigkeitsreferendum der Kurden-Region im Nordirak, den dramatischen Folgen für Erbil und der Erfahrung in Afrin wirft sich die Frage auf, ob der Westen überhaupt ernsthaft eine kurdische Unabhängigkeit befürwortet. Was ist Ihre Erfahrung diesbezüglich?

Der Westen wird gelenkt von geostrategischen, wirtschaftlichen Interessen. Solange die autonome Region im Nordirak ihre Funktion diesbezüglich erfüllt hat, wurde sie geduldet und teilweise unterstützt.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker beinhaltet das Recht auf einen eigenen Staat. Kurdische Unabhängigkeit im Sinne eines eigenen Nationalstaates lehnt die kurdische Bewegung allerdings ab. Denn das Maß der Freiheit wird durch eine Staatsgründung nicht vergrößert. Hier stellt die kurdische Bewegung fest, dass bspw. das auf Nationalstaaten basierende System der Vereinten Nationen ineffizient ist. Die demokratische Nation – ökologisch und gendergerecht – und der demokratische Konföderalismus sind ihr Paradigma.     

Was erwidern Sie Kritikern, die behaupten, dass die Kurden in Syrien und im Irak insbesondere von den USA lediglich zugunsten eigener geopolitischer Ziele instrumentalisiert werden?

Die USA verfolgen ihre eigenen geopolitischen Ziele in der Region. Aber auch die Kurden haben eigenen Interessen und Ziele. Insofern ist insbesondere die Zusammenarbeit mit den USA für die Kurden in Syrien eine strategische bzw. militärische. Im Hinblick auf Südkurdistan, also die Kurden im Irak, gilt dies aus kurdischer Perspektive eher nicht. Während die USA auch hier rein von den eigenen geopolitischen Interessen geleitet sind - dies gilt für die gesamte Region des Mittleren Ostens -, hatte die KRG ein größeres Interesse einer umfassenden, vielseitigen Kooperation mit den USA. Mit den Reaktionen auf das Referendum hat sich die Unzuverlässigkeit der westlichen Mächte noch einmal bestätigt.   

Unter welchen Bedingungen wären Ihrer Meinung nach Kurden, die dem Netzwerk der YPG oder PKK nahestehen, bereit, angesichts mangelnder Rückendeckung aus dem Westen mit den Zentralregierungen in Syrien und Türkei wieder konstruktive Verhandlungen aufzunehmen?

Die kurdische Seite betont stets ihre Bereitschaft zum Dialog, unabhängig von der Rückendeckung irgendwelcher Staaten. Seit 1993 hat sie acht einseitige Waffenstillstände ausgerufen, die jeweils von türkischer Seite mit militärischer und politischer Aggression beantwortet wurden. Auch der Dialog zwischen Abgesandten der türkischen Regierung und dem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan in den Jahren 2014/2015 wurde von Seiten des Staates abgebrochen. Es folgten schwere Kriegsverbrechen in Nordkurdistan mit hunderten getöteten Zivilisten, zahlreichen vollständig zerstörten Stadtteilen und hunderttausenden Binnenflüchtlingen, ganz im Sinne einer demographischen Veränderung bzw. ethnischen Säuberung. Konstruktive Verhandlungen erfordern die Bereitschaft der Staaten für eine Demokratisierung und Befriedung der Region.      

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