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Gegen Dämonisieren der Taliban und das deutsche Hängen am US-Rockzipfel – Afghanistan-Experte

Deutlichen Widerspruch zu den massenmedialen Darstellungen der Ereignisse in Afghanistan übt der deutsche Arzt Reinhard Erös in einem Interview. Er kritisiert aus jahrzehntelanger Kenntnis des Landes den einseitigen Blick auf Kabul ebenso wie das pauschale Urteil über die islamistischen Taliban.
Gegen Dämonisieren der Taliban und das deutsche Hängen am US-Rockzipfel – Afghanistan-ExperteQuelle: AP © Altaf Qadri

Der deutsche Arzt Reinhard Erös hat sich in einem Interview gegen das "totale Dämonisieren der Taliban" ausgesprochen. Gegenüber dem ökumenischen Magazin Weltsichten sagte er:

"Diese Horrormeldungen der letzten Tage vom Flughafen in Kabul haben mit dem Rest von Kabul, wo ja vier Millionen Menschen leben, und vor allem mit dem Leben im Rest von Afghanistan, nichts zu tun."

Das hätten ihm auch die einheimischen Mitarbeiter seiner Stiftung "Kinderhilfe Afghanistan" bestätigt.

"Die Taliban sind keine Heiligen", erklärte Erös. Er würde sich "auch wünschen, dass eine andere politische Gruppe an die Macht käme, die mehr an liberalen Werten und Rechten ausgerichtet ist. Oder eine Gruppe, die wirtschaftlichen Sachverstand mitbringt, denn die Taliban haben den nicht".  

Erös ist Oberstarzt a. D. der Bundeswehr und betreibt seit 1998 zusammen mit seiner Frau Annette und seinen fünf Kindern die "Kinderhilfe Afghanistan". "Die Organisation leistet in den Ostprovinzen Afghanistans humanitäre Hilfe, etwa mit dem Bau von Schulen, Waisen- und Krankenhäusern", berichtet das Magazin.

Er kam 1987, vom Dienst freigestellt, illegal das erste Mal in das Land am Hindukusch, als dort noch die sowjetische Armee Krieg gegen die aufständischen Mudschahedin führte. Seitdem engagiert er sich dort, um den Menschen vor Ort zu helfen. In zwei Büchern ("Tee mit dem Teufel – Als deutscher Militärarzt in Afghanistan", 2002, und "Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen", 2008) hat er über seine Erlebnisse und Erfahrungen berichtet.

"Lage im Osten ruhig"

Gegenüber dem Magazin erklärte er zur Lage in Afghanistan: "Im Osten des Landes ist es ruhig, da herrscht ganz normales Geschäftsleben. Unseren knapp 2.000 einheimischen Mitarbeitern geht es gut, sie arbeiten ganz normal weiter."

Die Stiftung von Erös betreibt seit 2002 im Osten des Landes, der Hochburg der Taliban, zahlreiche Schulen. Er habe die fundamentalistischen Islamisten "mit Logik, Kenntnissen des Islam und vor allem mit meinen paschtunischen Sprachkenntnissen" überzeugt, sagte er dazu. Ohne Kenntnisse der Sprache habe dort niemand von außen eine Chance. Kulturkompetenz, Sprachkompetenz und Glaubwürdigkeit seien notwendig.

"Mir hat außerdem mein persönliches Image geholfen. Ich bin ja seit über 30 Jahren in Afghanistan tätig, ich war dort einer der wenigen Ärzte während des sowjetisch-afghanischen Krieges. Ich war also bekannt vor Ort, ich hatte und habe immer noch eine hohe Glaubwürdigkeit, die Leute vertrauen mir."

Der Arzt erwartet nur wenige Veränderungen nach der Machtübernahme durch die Taliban in Kabul. Die Ereignisse, über die westliche Medien vor allem berichten, seien nur ein kleiner Teil des Lebens in dem Land. In vielen Gebieten, in denen die "Kinderhilfe" Schulen unterstützt, haben nach seinen Worten die Taliban längst das Sagen.

"Hoffentlich ist der Krieg vorbei"

Die Lage im Osten von Afghanistan ist laut Erös "sogar sicherer, weil dort nicht mehr gekämpft wird, weil dort keine amerikanischen Drohnen mehr Bomben abwerfen oder Dörfer beschießen, weil dort keine Minen mehr auf den Straßen verlegt werden und weil dort keine Selbstmordattentäter unterwegs sind". Er fügte hinzu: "Endlich ist hoffentlich der Krieg vorbei. Dort wird die Zukunft, soweit sie vorhersehbar ist, besser sein als die letzten zwanzig Jahre."

Angesprochen auf mögliche Auswirkungen für die Arbeit in den Schulen erinnerte der Arzt daran, die Trennung der Geschlechter habe es auch in der nicht allzu fernen deutschen Vergangenheit gegeben. Es sei Zeit nötig, um das zu verändern. "In Afghanistan gehen die Mädchen aber jetzt immerhin zur Schule, und das wird auch so weitergehen."

Zur Angst vor den Taliban meinte Erös, dass diese zwischen 1996 und 2001 ein Terrorregime errichteten: "Alle Rechte, die wir im Westen für wesentlich halten, haben sie missachtet. Ich hätte dort nicht leben wollen." Dennoch seien damals "nur ein paar Tausend Menschen geflohen, obwohl es möglich war". Dagegen seien nach dem sowjetischen Einmarsch 1979, während des Bürgerkrieges ab 1989 und nach dem westlichen Überfall 2001 Millionen Afghanen geflohen.

"Die Idee vom Paradies, das entstanden ist, seit wir da sind, ist schlicht falsch. In den letzten zwanzig Jahren sind in Afghanistan circa 200.000 bis 300.000 Afghanen bei Kämpfen ums Leben gekommen, während der Talibanzeit viel weniger."

Erös hält das "totale Dämonisieren der Taliban und des Islamismus und andererseits das Glorifizieren der Gegenseite" für falsch. Afghanistan sei nach dem Einmarsch des Westens eines der korruptesten Länder geworden, betonte er gegenüber dem Magazin und erinnerte an Folgendes: "Afghanistan ist laut Verfassung bereits jetzt eine islamische Republik und darin steht zum Beispiel der Paragraph 'Kein Gesetz in Afghanistan und keine Regierungshandlung darf dem Gesetz des Islams widersprechen'."

"Ärgerliche Doppelmoral"

Mit Blick auf die strenge Auslegung der Scharia, des islamischen Rechtes, durch die fundamentalistischen Taliban verwies der Arzt auf die Situation in Saudi-Arabien: "Da köpft jeden Freitag nach dem Gottesdienst der Scharia-Henker den 'Verbrecher der Woche'. Das wird allerdings im Westen nicht thematisiert, weil man zu abhängig von Saudi-Arabien ist." Ihn ärgere diese westliche Doppelmoral.

Er erwarte, dass die hochgebildeten, engagierten und materiell gut gestellten Frauen es in Afghanistan unter den Taliban schwerer haben werden. "Aber man darf nicht vergessen, dass sie wenige Prozent der Frauen in Afghanistan ausmachen. Mir geht es um die 90 oder 95 Prozent Frauen, die auf dem Land außerhalb Kabuls und der anderen Großstädte leben." Die Islamisten hatten allerdings angekündigt, die Rechte der Frauen entsprechend der Scharia achten zu wollen.

Aus der Arbeit seiner Stiftung berichtete Erös, dass "inzwischen Tausende Mädchen" die unterstützten Schulen besuchten und studieren können. In der entlegenen Provinz Laghman sei sogar eine Universität entstanden. Der Arzt geht davon aus, "dass das so weitergeht, schließlich waren die Taliban damals Ende 2011 bei der Grundsteinlegung dabei und haben den Betrieb der Universität wie auch aller Schulen unterstützt". 

Er kritisierte die bundesdeutsche Entwicklungshilfe, die sich zu sehr auf die Hauptstadt Kabul und das Thema Frauenrechte konzentriert habe. Das sei eine falsche Strategie gewesen, die an den Realitäten in Afghanistan vorbeiging. Einen Einblick in die unrealistischen Vorstellungen der Bundespolitik gibt eine Broschüre des Auswärtigen Amtes, damals unter Frank-Walter Steinmeier (SPD), aus dem Jahr 2008. "Unser Ziel ist es, dass Afghanistan sich mittelfristig selbst helfen kann", wurde darin verkündet. "Wir müssen es in die Lage versetzen, seine junge Demokratie aus eigener Kraft gegen die Angriffe seiner Gegner zu verteidigen."

"Afghanen vertrauen Deutschland"

Die aktuellen Ereignisse 13 Jahre später zeigen, wie falsch die westliche Politik seit Jahren die Lage am Hindukusch eingeschätzt hat. Das gilt ungeachtet der Hinweise, dass die US-Führung mit den Taliban die Machtübernahme aushandelte.

Zur Perspektive des Landes sagte der Arzt Erös im Weltsichten-Interview, dass diese unter anderem davon abhängt, was aus den Verhandlungen des Westens mit den Taliban herauskommt. Auch die Frage, ob und an welche Bedingungen die deutsche Entwicklungshilfe geknüpft wird, sei wichtig. Er erinnerte:

"Seit dem Ersten Weltkrieg hat kein anderes Land der Welt in Afghanistan ein so gutes Ansehen und so viel Vertrauen genossen wie Deutschland. Das haben wir in den vergangenen Jahren viel zu wenig genutzt und stattdessen am politischen Rockzipfel der in Afghanistan unbeliebten US-Amerikaner gehangen."

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