Lateinamerika

Wie das Leben so spielt: Wie ein Auftritt der "Toten Hosen" von 2001 noch heute die Kubaner umtreibt

Beim Kuba-Urlaub in Santa Clara trifft ein RT-Redakteur auf Julio. Er ist Physiker und war in seinem früheren Leben ein bekannter Hardrock-Musiker auf der Insel. Beim abendlichen Rum kommt das Gespräch auf die "Toten Hosen" und ein beinahe traumatisches Konzerterlebnis in Havanna.
Wie das Leben so spielt: Wie ein Auftritt der "Toten Hosen" von 2001 noch heute die Kubaner umtreibtQuelle: Reuters

RT Redakteur Florian Warweg reiste kürzlich mit seiner deutsch-argentinischen Familie durch Kuba. In Santa Clara, der Stadt, in der Che Guevara am 29. Dezember 1958 seinen wohl größten militär-strategischen Coup gegen die Armee des US-gestützten Diktators Fulgencio Batista errang, traf er auf Julio Morales und dessen Familie. Julio ist studierter Physiker, arbeitet aber zusammen mit seiner Frau seit einigen Jahren als selbstständiger Informatiker. Eine eher noch seltene Konstellation auf der sozialistischen Karibik-Insel. Die Gespräche kreisen beim gemeinsamen Abendessen zunächst um die allgemeine Lage auf Kuba, die Auswirkungen des US-Embargos, das kubanische Engagement in Angola ab den 1970er Jahren sowie die heutige Bewertung in der Bevölkerung und kommt dann über gemeinsame Kinderhelden wie "Lolek und Bolek" und MZ-Motorräder auf die Situation in Deutschland zu sprechen.

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Zwischen Arroz con leche (typischer kubanischer Nachtisch ähnlich dem deutschen Milchreis) und Rumverköstigung fragt Julio plötzlich: "Sag mal Florian, kennst du die 'Toten Hosen', die kommen doch aus Deutschland, oder?" – "Ja, klar". "Ha, dann habe ich eine Geschichte für dich." Daraufhin erzählt Julio, wie er in den 1990er Jahren ein recht bekannter Heavy-Metal-Sänger auf Kuba wurde und 2001 beim bekanntesten kubanischen Musik-Festival "El Cuba Disco" auf die "Toten Hosen" traf. Und zwar sollte er mit seiner Band nach dem "Toten Hosen"-Auftritt den Abschluss des Konzerts bestreiten. Doch der Auftritt der deutschen "Punk"-Band eskalierte und hinterließ die Bühne als Schlachtfeld, und Julio fand sich plötzlich ohne funktionierende Technik wieder und musste improvisieren. Aus dem Gespräch mit Julio entwickelte sich dann ein spontanes Interview, was wir den RT Deutsch-Lesern nicht vorenthalten wollen, denn es zeigt auch auf, was Kuba und seine Einwohner so besonders macht:

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Julio, kannst du mir kurz deine Laufbahn als Musiker auf Kuba schildern? Wie hieß deine Musikgruppe und welches Genre habt ihr bespielt?  

Also als Musiker habe ich 1992 kurz nach dem Abschluss der Uni angefangen. Mit einer Band, die "Vórtice" (auf Deutsch "Wirbel") hieß, spielten wir eine Art Heavy Metal, das anfangs primitiv war, sich aber allmählich zu etwas Technischerem und Metallenerem entwickelte. Im Jahr 1998 lösten wir uns auf, und ich machte als Bassist bei der Extreme-Metal-Gruppe "Scythe" mit. Später gründete ich mit einem Freund die Band "Grease Toush", in der wir Progressive Metal spielten. All diese Projekte wurden in Placetas in der Provinz Villa Clara verwirklicht.   

Im Jahr 2000 löste sich die Gruppe "K punto K" ("K Punkt K") aus Santa Clara auf, die "Alternative Rock" spielten. Wir gründeten dann mit zwei ihrer Mitglieder und drei aus anderen Gruppen die Gruppe "C-MEN". Wir alle hatten schon eine Laufbahn mit unterschiedlichem Musikgeschmack und Wurzeln. Da wir aber von dem Publikum anerkannt werden wollten, einigten wir uns darauf, New Metal zu spielen, eine Untergattung von Metal, die zu jener Zeit gerade im Aufschwung war und weltweit, einschließlich in Kuba, viele Anhänger hatte. In "C-MEN" spielte ich bis zum Jahr 2007. Ich war zudem Geschäftsführer der Band von 2004 bis 2007.

Wie kam es dazu, dass ihr das Abschlusskonzert des bekannten Festivals "El Cuba Disco" 2001 in Havanna bestreiten solltet?    

"El Cuba Disco" ist das größte Musikfestival in Kuba. Dazu werden Vertreter aller Musikgenres eingeladen, die Aufnahmen bei offiziellen und nicht offiziellen Plattenfirmen vorweisen können und dazu noch an zahlreichen Orten zusammen mit unterschiedlichen Gruppen oder allein mit Konzerten auftreten.

Beim Festival "El Cuba Disco" wurde Rock im Bereich "Alternative Musik" in Balneario Universitario gespielt. Zum Event waren einige Rap-Gruppen, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere, sowie "Viento Solar" (auf Deutsch "Sonnenwind"), "Agonizer" (Death Metal), die "Toten Hosen" (Punk) und unsere Gruppe "C-MEN" (New Metal) geladen worden.                

Obwohl wir als Mitglieder von "C-MEN" bereits große musikalische Erfahrungen gesammelt hatten, war unsere Gruppe erst frisch gegründet. Deswegen waren wir sehr überrascht, dass man uns eingeladen hatte. Wir glaubten inzwischen, dass unser erstes Demo "Shocking" der Grund dafür war, weil es sich unter unseren Fans, über das Radio und ein paar Fernsehprogramme sowie dank Konzerten auf wichtigen Bühnen in der Rockerszene der Insel verbreitet hatte.

Wir machten coole Sachen, indem wir die Modernität von Rift mit der Kraft der Märsche verschmelzten. Das waren einfache und einprägsame Harmonien und eine Art Gesang, der von melodisch über schrill bis hin zu hiphop-mäßig klang. Das i-Tüpfelchen waren unsere Choreografie und Kommunikation auf der Bühne. Im Nachhinein verstanden wir, dass das der Grund für die Einladung war.                  

Kannst du ausführen, was während des Auftritts der "Toten Hosen" beim Konzert am 19. Mai 2001 in Havanna auf der Bühne passierte?

Wir alle waren überrascht, als wir die "Toten Hosen" auf der Teilnehmerliste dieses Konzertes gesehen haben. Dran waren einige Rap-Bands, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere. Aber sie hatten recht viele Anhänger unter dem Publikum. Dann waren eben "Viento Solar", die "Toten Hosen", "C-MEN" und "Agonizer" an der Reihe. Die kubanischen Bands waren damals gewisse technische Probleme gewohnt. Zu unserer Überraschung kamen die "Toten Hosen" in einem Bus und begannen Dutzende Effektmaschinen, Gitarren und andere Dinge auszuladen. Als ob das nicht genug wäre, kam ihr Producer auf einen kubanischen Produzenten zu und teilte ihm mit, dass ihnen noch spezifische Geräte und Bildschirme fehlten, ohne die sie nicht spielen könnten. Keine Ahnung, wie man dieses Zubehör auftrieb und wie viel das kostete, aber es wurde kurz danach tatsächlich geliefert.

Das Konzert begann mit einigen Rap-Bands, die für die richtige Stimmung sorgten. Dann spielte "Viento Solar", eine legendäre Gruppe mit sehr intensiven Gitarrensoli, danach kamen die Stars des Abends – die "Toten Hosen". So etwas hatte es in der kubanischen Musik-Szene noch nie gegeben. Welche Energie! Welche Sound-Klarheit und welche Professionalität! Das Rocker-Publikum tanzte wie verrückt, dazu gesellten sich auch die Rap-Liebhaber, die noch beim Konzert geblieben waren.

Eine Amateur-Aufnahme des "Toten Hosen"-Konzerts in Havanna im Mai 2001 [allerdings im Video zeitlich falsch datiert]

Als das Konzert fast zu Ende war, kletterte Campino im Scheinwerferlicht die seitliche Bühne hoch auf's Dach und riss die Scheinwerfer nieder. Dabei ging das Glas kaputt und ergoss sich über das Publikum. Der Rest der Musiker machte sich derweil an der Ausrüstung zu schaffen, die nicht ihnen gehörte, sondern von den Veranstaltern gestellt war. Das Publikum war total euphorisch. Da die Polizei nicht begriff, was vor sich ging, brach sie das Konzert ab.

Die "Toten Hosen" zogen sich unter dem Beifall von Tausenden zurück, und die verblüfften Polizeibeamten wussten nicht mehr weiter. Die Veranstalter des Konzerts versicherten der Polizei, dass alles in Ordnung war, und das Konzert ging dann wider Erwarten doch weiter …

Und welche Ausrüstung blieb dann für die nächsten Gruppen "C-MEN" und "Agonizer" übrig?

Die Ausrüstung, die die "Toten Hosen" mitgebracht hatten, nahmen sie wieder mit. Unter den Geräten, die nach dem Auftritt der "Toten Hosen" nicht kaputt waren, gab es nur noch einen Audioverstärker für den Saal, ein Schlagzeug in mittelmäßigem Zustand und ein paar Line Arrays mit Mikrofonen. Abgesehen davon waren wir es gewohnt, ohne Bildschirme und ohne einige andere Geräte zu spielen. Die andere Band und auch wir hatten einen echt guten Auftritt an dem Tag. Das Publikum fing wieder Feuer und begleitete uns dann bis zum Tagesanbruch.

In welchem Moment hast du bemerkt, dass die "Toten Hosen" fast die komplette Bühnenausstattung zerstört hatten? Was für Ausrüstungsgegenstände waren das denn?                   

Als Campino die Scheinwerfer niederriss, wurde mir klar, dass dies ein unkontrollierbarer Impuls war und dass nichts heil bleiben würde. Aber nachdem sich die "Toten Hosen" zurückgezogen und wir die Bühne betreten hatten, war mir einfach nur zum Heulen. Ich weiß nicht mehr genau, was kaputt gegangen war, aber auf jeden Fall die Scheinwerfer, Mikrofone und Monitore, zum Teil auch die Bühnentechnik.      

Welche Auswirkung hatte die Zerstörung der technischen Ausrüstung durch die "Toten Hosen" auf euren Auftritt?

Erstens wäre das Konzert beinahe beendet worden. Das passierte zwar schlussendlich doch nicht, aber "C-MEN" und "Agonizer", wir hätten fast nicht mehr spielen können. Dabei waren wir, das heißt "C-MEN", sehr früh am Morgen aus Santa Clara in das 300 Kilometer entfernte Havanna aufgebrochen. Wir hatten den ganzen Tag auf das Konzert gewartet. Und es wäre traurig gewesen, wenn wir nicht gespielt hätten. Zweitens wurde dadurch das schlechte Image der Rocker-Bewegung, das damals in den Medien und in der Polizei herrschte, nur bestätigt. Drittens reist das Rocker-Publikum manchmal quer durch das Land, um sich ein Konzert anzuschauen. Eine Suspendierung hätten die Fans nicht verdient, obwohl es den Rock-Liebhabern in dem Moment gar nicht richtig bewusst war, was auf der Bühne geschehen war.

Würdest du sagen, dass deine Laufbahn als Musiker durch die Bühnenperformance der "Toten Hosen" Schaden genommen hat?

Nein. Wir Kubaner sind sehr charismatisch und können es immer zu etwas Besserem bringen. Ohne Musik machen geht es nicht! Auch wenn lediglich ein Schlagzeug in mittelmäßigem Zustand, ein paar Line Arrays, Mikros und ein Audioverstärker im Betrieb sind, ist das genug, um ein Konzert in Kuba zu geben. Und das Konzert nach den "Toten Hosen" war grandios!

Für uns war das alles andere als traumatisch. Wir hatten die Chance, mit einer der größten Bands zu spielen – mit den "Toten Hosen". Das war uns wichtig, obwohl wir für sie wohl gar keine Bedeutung hatten.

Waren die "Toten Hosen" sich deiner Einschätzung nach dessen bewusst, was sie auf der Bühne angerichtet hatten und welche Auswirkung das auf den Auftritt der auf sie folgenden Bands hatte?

Nein, das war ihnen nicht bewusst. Sie liefen immer mit ihrem großen Ego herum, und wir waren für sie eine Null. Höchstwahrscheinlich wussten sie gar nicht, dass nach ihnen andere Bands auftreten würden. Denn es ist ja eigentlich üblich, dass die Stars am Ende auftreten und ihnen ein Vorprogramm vorausgeht, das eigentlich wir hätten bestreiten sollen.          

Weißt du, ob die "Toten Hosen" die zerstörte Bühnen-Ausrüstung später erstattet haben?

Als das Konzert mit dem Auftritt von "Agonizer" beim Tagesanbruch zu Ende war, kam unser Bus und wir kehrten nach Santa Clara zurück. Ich weiß nicht, was danach passierte … 

Haben sich die "Toten Hosen" bei euch entschuldigt?

Nein. Ich glaube nicht, dass das notwendig war. Wir sind Kubaner und brauchen keine Entschädigung für "schlimme" Dinge, die uns täglich zustoßen. Wir ticken da einfach anders als der Rest der Welt.

Wie bewertest du denn als Musiker den Auftritt der "Toten Hosen"?

Das Konzert an sich war genial – kein Zweifel. Ich glaube, sie waren auf ihren Aufenthalt in Kuba nicht vorbereitet. Denn das ist ein anderer Kontext, und sie wussten es einfach nicht besser. Ich glaube nicht, dass der Schaden vorsätzlich verursacht wurde. Es war ihre übliche Performance.

Wenn du die Möglichkeit hättest, mit den "Toten Hosen" zu sprechen, was würdest du ihnen heute sagen?

Ich würde ihnen die Story von unserem Gesichtspunkt aus erzählen, und wir würden dann gemeinsam ein Bier trinken.Die Welt hat uns immer isoliert. Dass die "Toten Hosen" diese Mauer der Isolierung durchbrachen und auf unsere Insel kamen, dafür bin ich ihnen dankbar. Die kubanische Rocker-Szene bedankt sich bei allen, die unsere Insel besuchen. Gracias, die "Toten Hosen", danke "Sepultura", danke "The Rolling Stones", danke "Audioslave".

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