Lateinamerika

Nicaragua: Eine der letzten Bastionen progressiver Regierungen Lateinamerikas in Gefahr

Nicaragua wird seit sechs Wochen von Unruhen beherrscht, die inzwischen über 140 Tote gefordert haben. Das mittelamerikanische Land mit guten Wirtschaftsdaten und einem international anerkannten Erziehungs- und Sozialsystem findet sich plötzlich im Chaos wieder.
Nicaragua: Eine der letzten Bastionen progressiver Regierungen Lateinamerikas in GefahrQuelle: Reuters

von Maria Müller, Montevideo

Ausgangspunkt des gegenwärtig in Nicaragua aufflammenden Konfliktes war eine Reform der Sozialversicherung, die Präsident Daniel Ortega am 16. April verkündete. Insbesondere Unternehmer und Arbeitgeber wurden zu höheren Beiträgen verpflichtet, wohingegen die Renten um 5 Prozent gekürzt werden sollten, um das schon seit Jahren defizitäre Sozialversicherungssystem zu retten.

Kritiker werfen Ortega vor, seine bisherige, auf einen gesellschaftlichen Dialog gestützte Regierungsweise im Fall des neuen Sozialsystems über Bord geworfen zu haben. Das habe gleich zu Beginn des Konflikts zu einer gesellschaftlichen Konfrontation geführt und für Empörung gesorgt. Denn bei wichtigen Regierungsmaßnahmen hatte es bislang stets Gesprächsrunden zwischen Unternehmern, Gewerkschaften und der katholischen Kirche gegeben.

Der Unternehmerverband COSEP, Gewerkschaften, Rentner sowie unorganisierte Bürger und Studenten führten am 18. April die erste große und friedliche Demonstration durch. Am Ende des Protestmarsches besetzten jedoch Studenten die Universität in der Hauptstadt Managua.

Dort kam es infolge zu ersten gewalttätigen Zusammenstößen. Der Versuch der Polizei, die Besetzer im Gespräch zum Aufgeben zu veranlassen, blieb erfolglos. Anschließend sollen Gruppen der Sandinistischen Jugend das Gebäude gewaltsam gestürmt haben. Schüsse fielen, es gab mehrere Tote. Die sandinistische Jugend gehört der regierenden Partei Frente Sandinista an, weshalb Kritiker die Regierung für den Vorfall verantwortlich machen.

Präsident Ortega nahm nur wenige Tage nach dem Ausbruch der Gewalt die umstrittene Reform der Sozialversicherung wieder zurück. Doch die Zahl der Opfer konnte er damit nicht mehr rückgängig machen, 

Regierung und Opposition machen sich gegenseitig für Gewalt verantwortlich 

Seitdem kommt das Land nicht mehr zur Ruhe. In den darauffolgenden Tagen gab es in mehreren Städten neue massenhafte Protestdemonstrationen, die immer wieder in gewalttätige Auseinandersetzungen ausarteten. Häufig organisierten regierungstreue Kräfte genauso große Massendemonstrationen wie die Opposition. In diesen ersten Tagen der Proteste gab es zehn Tote, eine Woche später soll die Zahl der Opfer bereits auf dreißig gestiegen sein, darunter auch Polizisten. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte spricht inzwischen von 143 Toten.

Der Polizei wird ein unangemessener Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen vorgeworfen, sie soll auch scharfe Munition verwendet haben. Laut einem Bericht der Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) wurden über 400 Personen verhaftet, zudem habe es über 800 Verletzte gegeben. Auch sollen Medien aufgrund der Art und Weise ihrer Berichterstattung über die Ereignisse geschlossen worden sein.

Die Bilder von den Demonstrationen zeigen andererseits Szenen, die an die Straßengewalt in Venezuela erinnern: Barrikaden und Verkehrsblockaden, Autos und Regierungsgebäude in Flammen, ein zerstörter Radiosender, Plünderungen, selbstgefertigte Schusswaffen und Brandflaschen.

Und immer wieder werden neue Todesfälle vermeldet, deren Zahl von Woche zu Woche steigt. Beide Seiten machen sich gegenseitig für die Gewalt verantwortlich, wobei vermummte Akteure dabei fotografiert wurden, wie sie von der Schusswaffe Gebrauch machen. Die Opposition klagt die Sandinistische Jugend an und nennt sie „Paramilitärs“. Die Regierung spricht hingegen von gewalttätigen Stoßtruppen der Opposition, deren einziges Interesse es sei, die mit Ende 2016 mit großer Mehrheit gewählten Sandinisten zu stürzen. Die Todesopfer schaffen einen tiefen Graben zwischen einem wachsenden Teil der Bürger und der Regierung.

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Facebook, Twitter und Co. ermöglichen es, Tausende zu agitieren und zu mobilisieren. Das Ganze erinnert an die Drehbücher für Umstürze im Nahen Osten oder in Venezuela. Der in Nicaragua lebende italienische Journalist Giorgio Trucchibeschrieb die Wirkung der gezielten Desinformation mittels der sozialen Netzwerke so:

Wieder einmal wurde Nicaragua zur Geisel einer fiktiven Realität, die sich im Rhythmus der sozialen Netzwerke bewegt, wo die virtuelle Realität mehr erreicht als die Wirklichkeit. Wo die Opfer töten und die bewaffneten Provokateure friedliche Demonstranten sind. Wo die Masse der Leute, die aus eigener Überzeugung und friedlich für Demokratie auf die Straße geht, zu Kanonenfutter gemacht wird, zum 'Kollateralschaden', um das finale Ziel zu erreichen: die Regierung zu stürzen, koste es was es wolle.

Der Journalist beklagt, dass die Medienplattform #SOS Nicaragua Falschinformationen in Windeseile im ganzen Land und in der Welt verbreitet, ohne den geringsten Beweis dafür zu liefern.

Vermittlungsversuche der katholischen Kirche

Die katholische Kirche versuchte seit Beginn der Auseinandersetzungen als Vermittler zwischen den Fronten aufzutreten. Gesprächstische mit unterschiedlichen Teilnehmerzahlen erbrachten bislang jedoch wenig konkrete Ergebnisse.

Monsignore Carlos Avilés, der Vermittler bei den Gesprächen, erklärte Ende Mai, dass sich die katholische Kirche zurückziehen werde, wenn es keinen Willen zur weiteren Problemlösung gebe. Am 7. Juni traf eine Abordnung der katholischen Bischofskonferenz in Managua mit dem Präsidenten zusammen, um die Möglichkeiten einer Wiederaufnahme des Dialoges zu besprechen.

Bei den Dialog-Runden hatten vor allem Studenten und der Unternehmerverband kompromisslos die Forderungen nach einem Rücktritt der Regierung, nach keiner weiteren Amtszeit des Präsidenten und nach Neuwahlen erhoben. Die mit großer Stimmenmehrheit gewählte Regierung bezeichnete dies als Versuch eines „Staatsstreiches am Verhandlungstisch“ sowie als Verfassungsbruch. Daraufhin blieb Präsident Ortega dem Dialog zeitweise fern, was seinem Ansehen weiter schadete.

Teile der Opposition sind dazu bereit, über Verhandlungen einen Weg aus der schweren Krise zu suchen. Sie sehen in dem nationalen Dialog die einzige Möglichkeit, den Konflikt zu beenden. Ein anderer Teil der Opposition lehnt Gespräche jedoch ab. Dazu gehören ultrakonservative Parteien, ein Teil der katholischen Kirchenhierarchie und der Unternehmer, sowie Studenten und Teile der Bevölkerung, die über die Todesopfer empört sind.

Doch vor allem die immer wieder auftauchenden militanten Straßenkämpfer, deren politische Zugehörigkeit nicht bekannt oder definiert ist, kennen nur ein Ziel: Sie wollen den Rückzug aller sandinistischen Kräfte aus den Staats- und Regierungsfunktionen und fordern Neuwahlen.

Anstehende Entscheidung des US-Kongresses könnte Lage eskalieren lassen 

Bereits vor den vergangenen Wahlen im November 2016 hatten sich die OAS und die sandinistische Regierung auf einen gemeinsamen Arbeitsprozess für Reformen geeinigt. Mögliche Mängel des Wahlsystems und der Gewaltenteilung sowie manche Gesetze sollten überprüft werden. Die Zusammenarbeit verlief bislang konstruktiv, sie wird 2019 abgeschlossen sein.

Trotzdem wurde im letzten Jahr das Gesetz über finanzielle Sanktionen gegen Nicaragua, genannt NICA-Act, dem US-Kongress vorgelegt. Angesichts der aktuellen Zuspitzung im Land soll es nun im Senat zur Abstimmung gebracht werden. Rund 80 Prozent der Bevölkerung Nicaraguas lehnen Sanktionen gegen ihr Land ab. Diese würden vor allem das Wirtschaftswachstum Nicaraguas bremsen.

Die Generalversammlung der OAS appellierte am 5. Juni an Regierung und Opposition, alles Nötige für eine friedliche Lösung in Nicaragua zu tun. Die 34 Mitgliedsstaaten haben die „Erklärung zur Unterstützung des nicaraguanischen Volkes“ einstimmig angenommen. Die Versammlung „verurteilt und fordert die sofortige Einstellung von Gewalttaten, Einschüchterungen und Drohungen gegen die Bevölkerung“, heißt es darin. Alle politischen und gesellschaftlichen Akteure werden zudem aufgefordert, „von der Zerstörung von Eigentum Abstand zu nehmen“.

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