Lateinamerika

Venezuela – Ende der Krise in Sicht?

Ende April legte die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC) neue Schätzungen zum Wirtschaftswachstum der Region vor. Die multilaterale Institution veröffentlichte einen Bericht, der insbesondere die Auswirkungen des Konflikts in der Ukraine berücksichtigt. Darin prognostiziert sie für dieses Jahr ein Top-Wirtschaftswachstum Venezuelas. Es befindet sich damit unter den drei Spitzenreitern der Welt.
Venezuela – Ende der Krise in Sicht?Quelle: AFP © Yuri CORTEZ / AFP

Eine Analyse von Ociel Alí López

Unter großer Berichterstattung wichtiger US-Medien gab die UN-Regionalkommission bekannt, dass das Wachstum Venezuelas für das laufende Jahr auf 5 Prozent geschätzt wird.

Was bedeuten diese Daten?

Dem Bericht zufolge "wird für die Region ein durchschnittliches Wachstum von 1,8 Prozent erwartet (während) die Volkswirtschaften Südamerikas um 1,5 Prozent wachsen werden".

Mit anderen Worten: Man schätzt Venezuelas Erfolg als dreimal so hoch ein wie das durchschnittliche Wachstum Südamerikas. Es gilt als das Land mit den besten Prognosen.

In Bezug auf Lateinamerika wird es nur von Panama (6,3 Prozent) und der Dominikanischen Republik (5,3 Prozent) übertroffen. Aber alle seine Nachbarn, einschließlich Brasilien und Kolumbien, haben dem Bericht zufolge ein geringeres Wachstum. Das verändert die wirtschaftliche Landkarte der Region und ermöglicht uns, wieder an die Ölrolle des Karibikstaates zu denken.

Sein Wachstum wird prozentual sogar die USA (2,8 Prozent) sowie die Europäische Union (2,8 Prozent) übertreffen und China erreichen, das ebenfalls auf fünf Prozent geschätzt wird.

Der regionale Kontext ist hingegen geschwächt

Die Volkswirtschaften Lateinamerikas und der Karibik stehen im Jahr 2022 aufgrund des Krieges zwischen Russland und der Ukraine vor einer komplexen Situation. In dem Dokument der ECLAC heißt es:

"Das schafft neue Unsicherheiten für die Weltwirtschaft und beeinflusst das globale Wachstum negativ, das auf 3,3 Prozent geschätzt wird. Das ist ein Prozentpunkt weniger als vor Beginn der Feindseligkeiten angenommen wurde."

Was sind die Gründe für Venezuelas Aufschwung?

Offensichtlich rechnet man mit einem speziellen Ereignis, das die Wirtschaftsdynamik grundlegend verändert. Womöglich eine Erleichterung der Sanktionen, oder offene Sonderregelungen für internationale Ölunternehmen, um ins venezolanische Ölgeschäft einzusteigen.

Mit anderen Worten: Venezuela würde prozentual 1,7 Prozent mehr wachsen als der Weltdurchschnitt, wenn sich ein solches Szenario bestätigen würde. Diese Zahl überrascht angesichts der bekannten Krise, die das Land seit mindestens acht Jahren aufgrund einer Finanzblockade aus Washington heimsuchte.

Die Schweizer Bank Credit Suisse prognostizierte Anfang April für Venezuela ein Wirtschaftswachstum von 20 Prozent, "eines der höchsten der Welt in diesem Jahr". Nach einer früheren Hochrechnung hatte man 4,5 Prozent geschätzt. Die ECLAC bestätigt, dass sich das Wachstum des Landes nicht, wie zunächst angenommen, etwas verhalten entwickeln wird, sondern deutlich ausgeprägt aufsteigt.

Mit beiden Daten wäre eine Erholung der Wirtschaft bestätigt. Auch der lange Rückgang des BIP könnte damit enden, der im vergangenen Jahrzehnt über mehrere Jahre hinweg einen zweistelligen Rückfall erlitt.

Woher kommt diese Neubewertung?

Der Anstieg des Ölpreises wird wahrscheinlich ein wichtiger Faktor bei der Neuberechnung der Prognosen sein, aber sicherlich nicht der einzige.

In den Vorjahren, insbesondere vor der Pandemie, hatte sich die Preiserholung des Rohstoffs aufgrund der geringen Ölförderung der nationalen Industrie ungünstig auf die Einnahmen Venezuelas ausgewirkt. Für Prognosen muss dieser Faktor ins Auge gefasst werden, obwohl eine Produktionssteigerung noch nicht real bestätigt werden kann. Außerdem stabilisiert sich der Preis jetzt viel höher als vor der Pandemie.

Das Paradox der Wachstumsdaten wird durch den OPEC-Bericht vorgegeben, der besagt, dass das Land seine Ölförderung im März des laufenden Jahres mit einer Tagesproduktion von 728.000 Barrel um 7,6 Prozent verlangsamte. Denn am Ende des Jahres 2021 hatte sich das Volumen einer Million Barrel genähert.

Die Rolle des Ölkonzerns Chevron und das Wahljahr

Der Ölkonzern Chevron übt starken Druck in Washington für eine Beendigung der Sanktionen aus. Sie hindern das Unternehmen daran, die Produktion in Venezuela hochzufahren. Doch weder aus dem Weißen Haus noch aus dem US-Büro für Sanktionskontrollen (Asset Control Office) gibt es bis jetzt grünes Licht für eine definitive Änderung der US-amerikanischen Außenpolitik. Washington hat trotz der Treffen mit der Regierung von Nicolás Maduro in dieser Hinsicht nichts vorangebracht.

Überdies ist 2022 in den USA ein Wahljahr, in dem für die Regierung besondere politische Vorsicht geboten ist. Es scheint also, dass das erwartete Wachstum nicht unbedingt von den US-Entscheidungen hinsichtlich der Sanktionen abhängt. 

Die venezolanische Opposition fordert Biden auf, die Finanzsanktionen einzustellen

Wochen bevor die ECLAC-Schätzungen bekannt wurden, forderte eine Gruppe bekannter Ökonomen und Geschäftsleute aus den Reihen der Opposition in einem an Präsident Joe Biden gerichteten Brief die Einstellung der Sanktionen. Das Schreiben wird in den Medien als "Brief der 25" bezeichnet. In dem Dokument heißt es:

"Obwohl Wirtschaftssanktionen nicht die Ursache der humanitären Notlage in Venezuela sind, haben sie die Bedingungen für den durchschnittlichen Venezolaner ernsthaft verschlechtert."

Die öffentliche Positionsnahme enthüllt den derzeitigen Zerfall der pro-interventionistischen Strategie, wie sie die venezolanische Opposition insbesondere seit der Selbstvereidigung von Juan Guaidó im Jahr 2019 verfolgte. Mit einer neuen Strategie möchte sie sich von der Vormundschaft der Außenpolitik des Donald Trump distanzieren.

Unter den Unterzeichnern des Schreibens sind Ricardo Cusano und Jorge Botti, zwei ehemalige Präsidenten der venezolanischen Arbeitgeberorganisation. Außerdem bekannte Ökonomen wie José Guerra und Rafael Quiroz, die ausgesprochene Oppositionsaktivisten und Gegner der Regierung von Präsident Nicolás Maduro waren.

Nicht nur die Wirtschaft und Politik, sondern auch die Fluggesellschaften

Am 24. April berichtete das US-Medienhaus Bloomberg über die Wiederaufnahme des Flugbetriebs durch die Fluggesellschaft TAP Air Portugal nach Venezuela. Laut der Medienagentur sei der Vorgang Teil einer Reihe von Signalen seitens der internationalen kommerziellen Luftfahrt, um eine neue Phase ihres Flugbetriebs in Venezuela zu eröffnen.

Im Jahr 2019, auf dem Höhepunkt der politischen Konfrontation, beschlossen die wichtigsten Fluggesellschaften wie Lufthansa, Air Canada oder Alitalia, ihren Betrieb einzustellen. Laut Bloomberg denken sie heute möglicherweise daran, ihn wieder aufzunehmen.

Die Reaktivierung der kommerziellen Luftfahrt, die oben genannten Wachstumsprognosen und die Äußerungen von Teilen der venezolanischen Opposition scheinen für eine neue Behandlung der Venezuela-Frage und die erwartete Beendigung der Sanktionspolitik verantwortlich zu sein.

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RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Übersetzt aus dem Spanischen.

Ociel Alí López ist Soziologe, politischer Analyst und Professor an der Universidad Central de Venezuela (UCV; deutsch: Zentraluniversität von Venezuela) in Caracas. Er schreibt für verschiedene Medien in Europa, den Vereinigten Staaten und Lateinamerika.

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