Meinung

Die Liebenden von Salisbury

Zwei Männer schlafen zusammen in einem Hotelzimmer. Sie gehen zusammen spazieren und sehen sich Sehenswürdigkeiten an. Sie arbeiten nicht nur zusammen, sie verbringen auch ihre Freizeit zusammen. Handelt es sich bei den vermeintlichen Agenten am Ende um ein Paar?
Die Liebenden von SalisburyQuelle: Reuters

von Gert Ewen Ungar

Wenn die betreffenden Männer allerdings aus Russland kommen, dann ist diese naheliegende Deutung freilich unmittelbar zu verwerfen. Denn nach westlicher Lesart wird Homosexualität dort grausam unterdrückt. Es gibt sie gar nicht, wenn man dem westlichen Mainstream glaubt. Wenn daher zwei Russen auftauchen, die alles gemeinsam machen, die zusammen in einem Hotelzimmer übernachten, bei allen Gelegenheiten gemeinsam in Erscheinung treten, kann es sich daher nur um Mitarbeiter des Geheimdienstes handeln, die dienstlich aneinander gebunden sind und Schlimmes im Schilde führen.

Zumal dann, wenn sich an dem von ihnen besuchten Ort noch ein Verbrechen ereignet hat, für das man mit einer unglaublich dünnen Beweiskette, dafür aber umso mehr Propaganda Russland verantwortlich macht.

Alexander Petrow und Ruslan Boschirow sind für den Westen mutmaßliche Spione, die mit einer hochwirksamen toxischen Substanz hantiert haben, bei der Vater und Tochter Skripal vergiftet wurden, dies aber überlebten. Dann jedoch wurde einige Wochen später ein Paar mit Vergiftungssymptomen ins Krankenhaus eingeliefert. Obwohl Nowitschok hochgiftig ist, haben Petrow und Boschirow damals beim Präparieren des Hauses der Skripals beim Betätigen des Zerstäubers keine Schäden davongetragen, und das, obwohl es keine Aufnahmen gibt, die sie in besonderer Schutzkleidung zeigt. Das Gift, aufbewahrt in einem einfachen Parfümzerstäuber, warfen sie nach der Tat einfach weg, Charlie Rowley fand es und schenkte es seiner Lebenspartnerin Dawn Sturgess, die es auftrug, ins Koma fiel und schließlich verstarb. Das ist die Geschichte, wie sie im Westen verbreitet wird.

Ganz anders sieht es inzwischen in Russland aus. Das Interview der beiden mit der Chefredakteurin von RT Margarita Simonjan war kaum ausgestrahlt, da ging es auch schon los in den sozialen Netzwerken. Auch in Russland glaubt man, dass es große Lücken im Bericht der beiden gibt, aber die Lücken, die man sieht, deutet man in eine ganz andere Richtung. Denn es wurde im Interview völlig klar, hier handelt es sich um ein homosexuelles Paar. Die Art und Weise, wie Ruslan Boschirow versucht hat, ihr gemeinsames Privatleben zu schützen, gab den Ausschlag.

Margarita Simonjan befragt die beiden, fragt nach, geht ins Detail. Sie stellt fest, man sähe die beiden immer nur zusammen, sie hätten sich überall zusammen aufgehalten, zusammen gewohnt. Und dann stellt sie die entscheidende Frage: "Was hält sie beide zusammen?"

Die unmittelbare Antwort, die Boschirow gibt, ist: "Lassen Sie uns das Privatleben beiseite lassen." Und damit ist das Thema erledigt. Keine Frage nach Frau und Kindern, keine Frage nach den Lebensverhältnissen, denn es ist völlig klar: Boschirow und Petrow sind ein Paar.

Mit anderen Worten, die britischen Behörden präsentieren mit großem Tohuwabohu Bilder von zwei Russen, deren gemeinsames Übernachten, deren ständiges Zusammensein, kurz deren gesamtes Verhalten sie sich nur dadurch erklären können, dass es sich hierbei um Spione handeln müsse. Bei Scotland Yard braucht man offensichtlich dringend ein gutes Diversity-Training.

Auch der Tagesspiegel, sonst immer offen für queere Sichtweisen, der sogar einen eigenen Newsletter herausgibt, der sich nur LGBT-Belangen widmet, übersieht hier das Offensichtliche. Im Gegenteil, er schließt sich sogar den Ermittlungen der Hobbyforensiker Bellingcat an.

Diese wollen Unstimmigkeiten bei der Passerstellung für Alexander Petrow gefunden haben, die sie meinen, dahingehend deuten zu können, dass es sich bei Petrow um einen Geheimdienstmitarbeiter handelt. Die Beweisführung ist allerdings hochgradig spekulativ. Es wirft kein gutes Licht auf den Tagesspiegel, dass er sich dieser wirren Beweiskette anschließt, das LGBT-Thema in der Geschichte jedoch völlig übersieht.

In den sozialen Netzwerken reagierte man unmittelbar. Schon wenige Stunden nach der Ausstrahlung kursierte dieses Meme im Netz:

Man sieht darauf einen Ausschnitt aus dem Film "Brokeback Mountain", in dem es um zwei Cowboys geht, die ihre Liebe zueinander zwar entdecken, sie aber schließlich nicht ausleben können.

Die Unterschrift lautet übersetzt: "Auf geht's nach Salisbury. Ich werde dir dort die Turmspitze zeigen."

Auf telegram, einem beliebten Messengerdienst in Russland, tauchte zeitnah dieses Meme auf. Es ist unterschrieben mit "Aleksander und Ruslan, die Märtyrer von Salisbury".

Aleksander Nekrassow, ein ehemaliger Kremlberater, wird in der britischen Radiokanal Talkradio befragt. Auch er vertritt die These, es handele sich hier einfach um schwule Touristen.

Moderator Dan Wooton hält dagegen, verdeutlicht dabei auch auch das ganze Dilemma des westlichen Journalismus, wenn es um Russland geht: Er hat einfach keine Ahnung und hält die eigene Propaganda für wahr. So behauptet er mit Vehemenz, Homosexualität sei in Russland verboten, was ganz schlicht und ergreifend nicht stimmt.

Das ist zwar ein von westlichen Medien erzeugtes und gepflegtes Bild, aber es hat mit der Realität nichts zu tun. Homosexualität ist in Russland legal. Man kann als Schwuler oder als Lesbe in Russland gut leben.

Dafür muss sich Wooton von Nekrassow hinsichtlich westlicher Werte belehren lassen. Wooton hat Petrow und Boschirow schon abgeurteilt. Für ihn sind es Mörder, überführt von einer vermeintlich stichhaltigen Indizienkette.

Nekrassow verweist auf das Prinzip der Unschuldsvermutung. Sie gelten solange als unschuldig, bis ein Gericht das Gegenteil bewiesen hat.

Der Unschuldsvermutung eingedenk: Wenn die Geschichte von Petrow und Boschirow stimmt, wenn sie wirklich nur einfache Touristen sind, dann ist der ganze Vorfall für die beiden tragisch. Sie wurden in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt, ihr Leben schwer erschüttert. Und das aufgrund einer ausgesprochen dünnen Indizienkette, in der es riesige Lücken gibt und die vor Gericht vermutlich keinen Bestand haben wird. Ihr Leben wurde aus der Bahn geworfen, da britische Behörden und westliche Medien das Offensichtliche nicht sehen, das so manche vermeintliche Ungereimtheit erklären kann: Petrow und Boschirow sind ein Paar. Das macht sie noch nicht automatisch unschuldig, aber es erklärt viele der Verhaltensweisen, die in der westlichen Berichterstattung als das Bild finsterer, russischer Spione interpretiert wurden, wie man es aus dem Kalten Krieg kennt.

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