Meinung

Warten auf Gerechtigkeit aus Russland – Odessa und die Untaten am 2. Mai vor zehn Jahren

Der Zusammenprall von Anhängern des Euromaidan mit ihren Gegnern und die Brandstiftung am Gewerkschaftshaus in Odessa vor zehn Jahren führte zu einem der tragischsten Ereignisse der modernen Geschichte. Die Ereignisse in Odessa stellten einen Wendepunkt für die ganze Ostukraine dar.
Warten auf Gerechtigkeit aus Russland – Odessa und die Untaten am 2. Mai vor zehn JahrenQuelle: www.globallookpress.com © Ministerium für auswärtige Angelegenheiten der Russischen Föderation gepostet auf Twitter.com

Von Andrei Restschikow

Genau zehn Jahre sind seit den tragischen Ereignissen in Odessa vergangen. Am Nachmittag des 2. Mai 2014 planten Euromaidan-Anhänger, einen "Einheitsmarsch der Ukraine" in der Schwarzmeerstadt zu organisieren und versammelten sich im Zentrum von Odessa. Zugleich zogen Antimaidan-Aktivisten in Odessa zum Gretscheskaja-Platz, wo bereits angebliche "Fußball-Ultras" aus Charkow sowie Mitglieder des Euromaidan und nationalistischer Bataillone auf sie warteten. Sechs Menschen starben bereits bei diesem Zusammenprall.

Unter dem Ansturm zogen sich die Antimaidan-Aktivisten zurück und begannen mit dem Barrikadenbau in der Nähe des Einkaufszentrums "Athena", wo sie von Anhängern der neuen Kiewer Regierung blockiert wurden. Beide Seiten bewarfen sich gegenseitig mit Pflastersteinen und Molotowcocktails. Auch lebensgefährliche Waffen wurden eingesetzt.

Später zogen die meisten Euromaidan-Anhänger zum zentralen Platz Kulikowo Pole, wo sich ein Zeltlager der Antimaidan-Aktivisten befand. Im März 2014, während der aktiven Proteste im Süden und Osten der Ukraine, fand auf diesem Platz eine prorussische Demonstration statt, an der Tausende von Menschen teilnahmen, und anschließend entstand ein Lager von Gegnern des in Kiew vollzogenen Putsches gegen die Regierung des Landes.

Eine weitere Massenschlägerei endete somit am selben Nachmittag mit der Zerstörung dieses Zeltlagers und schließlich der Brandstiftung am Gewerkschaftshaus, in dem etwa 400 Antimaidan-Aktivisten Zuflucht gesucht hatten – und glaubten, gefunden zu haben. Ihre Gegner bewarfen das Gebäude mit Molotowcocktails und feuerten aus lebensgefährlichen Waffen. Nachdem der Haupteingang in Brand gesetzt worden war, griff das Feuer auf die oberen Stockwerke des Gebäudes über, aus denen sich noch etwa 350 Menschen retten konnten.

Viele Menschen, denen es gelang, das Gebäude zu verlassen, wurden sodann von den unten wartenden Nationalisten verprügelt. Insgesamt starben 42 Menschen im Gewerkschaftshaus – 31 von ihnen wurden später im Gebäude selbst tot aufgefunden, und weitere 11 starben an ihren Verletzungen, nachdem sie aus dem Fenster gestürzt waren. Mehr als 250 Menschen wurden verletzt.

Die Ermittlungen zu dieser Tragödie wurden von der Hauptermittlungsdirektion des ukrainischen Innenministeriums, der Generalstaatsanwaltschaft und dem Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) durchgeführt. Die Kiewer Behörden beschuldigten die Polizei von Odessa, es versäumt zu haben, den Vorfall rechtzeitig zu verhindern und dabei die Antimaidan-Aktivisten zu "neutralisieren". Sowohl der ehemalige Leiter des Innenministeriums der Region Odessa, Dmitri Futschedshi, als auch der ehemalige Leiter der Odessaer Hauptabteilung des ukrainischen Staatlichen Dienstes für Notfallsituationen, Ruslan Bodelan, gegen die Strafverfahren eingeleitet wurden, verschwanden rechtzeitig ins Ausland.

Die Beobachter der UN-Menschenrechtskommission äußerten sich besorgt darüber, dass die Ermittlungen des ukrainischen Innenministeriums nicht unabhängig und neutral erfolgten. Die Experten der Mission kamen zu dem Schluss, dass die ukrainischen Staatsorgane "kein wirkliches Interesse daran hatten, die Verantwortlichen zur Verantwortung zu ziehen". Jahre später stellten die örtlichen Behörden ihre Ermittlungen gänzlich ein.

Russland will seinerseits alles zur Sicherzustellung tun, dass die Verantwortlichen für den Massenmord in Odessa Anfang Mai 2014 bestraft werden, sagte der Präsident Wladimir Putin im Februar 2022, drei Tage vor dem Beginn einer speziellen Militäroperation in der Ukraine. Nach seinen Worten sind diejenigen in Russland namentlich bekannt, die die Täter waren, und "Russland wird alles tun, um sie zu bestrafen – zu finden und vor Gericht zu stellen".

Die wichtigste Schlussfolgerung aus den tragischen Ereignissen am 2. Mai 2014 sei, dass die Nazi-Ideologie abstoßend sei und zerstört werden müsse, urteilt Alexei Albu, einst Abgeordneter des Regionalrats von Odessa der VI. Legislatur. "Solche Verbrechen dürfen sich in Zukunft nicht wiederholen. Die Einwohner von Odessa zahlten einen wirklich hohen Preis, um ihre Heimatstadt an den Staat zurückzugeben, der sie gründete", meint Albu.

Dieser Massenmord wurde von den neuen ukrainischen Machthabern geplant, um die Odessiten und alle Russen in der Ukraine einzuschüchtern, aber er hatte den gegenteiligen Effekt: "Zehntausende Bürger der ehemaligen Sowjetunion waren von dieser Tragödie so tief berührt, dass sie in den Donbass kamen, um gegen den braunen Abschaum zu kämpfen.  ... Dieser Ausbruch von Sympathie seitens ganz gewöhnlicher Bürger, die nicht in die ukrainische Politik involviert sind, ihre Ehrlichkeit und Freundlichkeit halfen den Menschen in Odessa, den Glauben an die Menschlichkeit nicht zu verlieren", versichert Albu.

Dennoch sei in Odessa in den letzten zehn Jahren eine neue Generation von Menschen herangewachsen, die dazu erzogen wurden, alles Russische zu hassen. "Die ältere Generation verlässt uns leider. An ihre Stelle ist eine große Zahl von Bewohnern der West- und Zentralukraine getreten, die man in Odessa kurzum die "Schurken" nennt. Sie sind tief im gegenwärtigen Machtsystem verwurzelt, haben Unternehmen erworben, Wohnungen gekauft. ... Deshalb müssen wir manchmal diese aggressive Minderheit zur Kenntnis nehmen, die sich als "Odessiten" ausgibt und denkt, dass ganz Odessa so ist. Das ist nicht der Fall", versicherte Albu.

Das echte, alte Odessa lebe, fügt der Sprecher hinzu. Aber dieses Odessa kann nicht offen reden, "weil sein Mund mit nationalistischem Klebeband zugeklebt ist. ... Es kann nicht auf die Straße gehen, um zu protestieren, denn es ist an Händen und Füßen gefesselt. Es bittet Russland um Hilfe und wartet darauf, von denjenigen befreit zu werden, die unsere heimatlichen Straßen umbenennen, unsere Denkmäler und Basreliefs zerstören, die Macht an sich reißen und die Einwohner schikanieren. Und es wird auf jeden Fall warten", meint der ehemalige Abgeordnete.

"Dieses neue 'Chatyn' von Odessa war ein Wendepunkt, nach dem sich die Entstehung der Volksrepubliken im Donbass stark beschleunigte", berichtet der aus Odessa stammende Anatoli Wasserman, Duma-Abgeordneter und Mitglied des Bildungsausschusses.

Die Versuche, diejenigen Antimaidan-Aktivisten, die den Brand im Gewerkschaftshaus überlebt hatten, in Haft zu nehmen, hätten dazu geführt, dass sich am 4. Mai Menschen in der Nähe der regionalen Ermittlungsbehörde versammelt und die Haftentlassung aller Gefangenen gefordert hätten. "Dies führte dazu, dass die Militanten, die dieses Massaker organisiert hatten, durch entsprechend motivierte Sicherheitskräfte verstärkt wurden. Die Verhaftungen begannen erneut, und die Untergrundbewegung wurde nicht nur in Odessa, sondern auch in anderen südlichen Regionen zerschlagen", erinnert der Abgeordnete.

Die Ereignisse des 2. Mai waren ein Wendepunkt nicht nur für die Donbass-Milizen, sondern auch für alle an einem 'Russischen Frühling' in der Ukraine Beteiligten – etwa in den Schwarzmeerregionen und in Charkow, ergänzt Larissa Schesler als die Vorsitzende der "Union der politischen Flüchtlinge und politischen Gefangenen" in der Ukraine. "Wir alle haben damals erkannt, dass es unmöglich ist, mit dem Nazismus in einem Staat zu leben, und dass diese Ideologie früher oder später mit militärischen Mitteln bekämpft werden muss", erklärt Schesler.

Andererseits führten die Ereignisse am 2. Mai objektiv zu einer Schwächung der Kräfte der Euromaidan-Gegner in den Städten von Neurussland – Noworossija –, zu denen auch Nikolajew, Cherson und Saporoschje gehören. Einige Aktivisten aus diesen Städten litten entweder in Odessa oder auf dem Weg von Odessa. Ein anderer Teil der prorussischen Bürger war gezwungen, in den Untergrund zu gehen.

Außerdem bestärkte die Tragödie am 2. Mai die ukrainischen Nationalisten in ihrem Glauben an ihre eigene Straffreiheit, da sie keinerlei angemessene Reaktion auf ihre Taten ernteten. Und für die neuen Machthaber in Kiew seien die Russen in der Ukraine zu Menschen zweiter Klasse geworden,

erklärt Sergei Pantelejew, ein Politikwissenschaftler und der Direktor des Instituts der Russischen Diaspora. "Keiner der Organisatoren dieses Verbrechens erhielt die verdiente Strafe, die Ermittlungsarbeit wurde vernachlässigt, die Ermittlungen wurden insgesamt zur absoluten Farce. Die nach dem Putsch gebildete ukrainische Regierung schützt immer noch echte Nazis und Verbrecher", erklärt der Experte.

Darüber hinaus sind Terrorismus und Extremismus seither fester Bestandteil der Politik dieser ukrainischen Staatsführung gegenüber den Russen geworden – auch wenn sie nicht direkt, sondern indirekt handeln. In diesem Sinne offenbaren die Gemeinsamkeiten zwischen der Tragödie von Odessa und beispielsweise dem "Crocus"-Terroranschlag in Moskau den gleichen Handlungsansatz der Organisatoren: In beiden Fällen wurde Brandstiftung eingesetzt, um die Zahl der Opfer zu maximieren und in den Medien erschreckende Bilder zu vermitteln.

"Nach der Tragödie im Gewerkschaftshaus wurde in der offiziellen ukrainischen Politik die Bandera-Ideologie durchgesetzt, und es begann ein heftiger militärischer Beschuss des Donbass. Dann begannen die Repressionen gegen Andersdenkende. Dann wurde Oles Busina ermordet. All dies geschah im Rahmen der Nazi-Ideologie und wurde vom Westen als Mittel zur Bekämpfung Russlands geschaffen", resümiert Schesler.

Wasserman fügt hinzu, dass eine Woche nach dem Brand im Gewerkschaftshaus "eine Gruppe militanter Nazis unter der Führung des Werchowna-Rada-Abgeordneten Ljaschko auf die Stadtpolizei von Mariupol schoss, weil sie sich weigerte, eine Demonstration von Antimaidan-Aktivisten aufzulösen". "Alle diese Ereignisse zusammengenommen führten dazu, dass in den meisten vom Feind kontrollierten Gebieten der Widerstand gegen den Terror praktisch aufhörte", erklärt der Gesprächspartner.

Die Schuldigen an der Tragödie werden früher oder später bestraft werden, meint Wasserman. Idealerweise sollte der Prozess gegen die Verbrecher in Odessa stattfinden: "Einige derjenigen, die sich im Gewerkschaftshaus besonders 'ausgezeichnet' haben, sind bereits in anderen Situationen gestorben. Sie gehören zu der Kategorie von Personen, die in alle möglichen Schwierigkeiten geraten können. ... Aber einige, wie der derzeitige Abgeordnete der Werchowna Rada [Anm.d.Red.: der in Russland als Extremist und Terrorist gelistete] Alexei Gontscharenko, werden es wahrscheinlich schaffen, noch rechtzeitig zu flüchten".

"Aber ich bin mir absolut sicher, dass alle an diesem Verbrechen Beteiligten vor Gericht stehen müssen – entweder in Anwesenheit oder in Abwesenheit. Dies wird wahrscheinlich nicht in einem separaten Prozess geschehen, sondern als eine der Episoden eines Tribunals über die gesamte ukrainische Führung", glaubt Wasserman.

Die Zeitzeugen erinnerten daran, dass Roman Tschernomas, einer der Organisatoren des Brandanschlags auf das Gewerkschaftshaus, im vergangenen Juni in der Nähe von Artjomowsk liquidiert worden war. Außerdem wurde der ukrainische Militante Alexander Stankow, der an der Brandstiftung und dem Massentod von Menschen am 2. Mai 2014 in Odessa beteiligt war, im vergangenen April liquidiert.

Albu weist darauf hin, dass sich die Auftraggeber und einige Organisatoren der Tragödie vom 2. Mai seit langem außerhalb der Ukraine befinden, und "selbst wenn wir die Kontrolle über Odessa, Charkow und andere Regionen übernehmen, werden wir nur die unmittelbaren Täter, also die untersten Glieder der Kette, bestrafen können. ... Dieser Weg ist ziemlich lang, aber er muss zum Wohle der gesamten Menschheit gegangen werden. Im 21. Jahrhundert darf sich das, was vor zehn Jahren in Odessa geschah, nicht wiederholen. Wir sind auf der richtigen Seite. Also werden wir gewinnen", glaubt Albu.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst publiziert in der Zeitung Wsgljad am 2. Mai 2024.

Mehr zum Thema - Wie ein Jahrhundert politischer Gewalt in der Ukraine mit den Gräueltaten von heute verbunden ist

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.