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Dr. Hacke oder: Soll Deutschland lernen, die Bombe zu lieben?

Seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten geistert die Debatte über die atomare Bewaffnung Deutschlands durch die Medien. Trotz heftiger Kritik kommt sie immer wieder. Wer steckt dahinter und welches Ziel verfolgen die Autoren? Eine Analyse.
Dr. Hacke oder: Soll Deutschland lernen, die Bombe zu lieben?Quelle: Sputnik

Am 6. August 1945 warfen die USA die erste Atombombe auf Hiroshima. Fast auf den Tag genau 73 Jahre später titelte die Online-Ausgabe der Welt: "Eine Nuklearmacht Deutschlands stärkt die Sicherheit des Westens".

Der Artikel schlug hohe Wellen. Innerhalb kürzester Zeit empörten sich zahlreiche Nutzer der sozialen Medien über den Artikel des Politikwissenschaftlers Christan Hacke. Was stand so Skandalöses im Artikel, dass die Welt einige Tage später sogar einen Gegenartikel veröffentlichte? Die erschreckend einfache Botschaft: Deutschland braucht die Atombombe. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges habe Deutschland diese Frage aufgeschoben. Jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, sich der Verantwortung zu stellen.

Die Frage nach der Atombombe wurde während und nach dem Kalten Krieg durch das Konzept der nuklearen Teilhabe gelöst. Deutschland sollte keine Atomwaffen haben, musste aber dennoch gegen die Sowjetunion über ein glaubhaftes Abschreckungspotenzial verfügen. Im Rahmen der gemeinsamen nuklearen Abschreckung der NATO setzten die Vereinigten Staaten die Gravitationsbombe B61 in fünf NATO-Ländern ein: in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei. Deutschland durfte sie im Einsatzfall mit der Erlaubnis der USA abwerfen. Bis über den Mauerfall hinaus versprach die NATO als Schutzschirm Europas Sicherheit vor dem seit einigen Jahren wieder offen als Feind geltenden Russland. Doch dann kam der Trump-Schock: Die NATO sei obsolet, so vermeldete Trump noch als Präsidentschaftskandidat. Als Präsident legte er nach: Europa solle selber für seine Sicherheit sorgen, es koste die USA zu viel.

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Argumentieren für die Atombombe

Der Wahlsieg Trumps, so der Eindruck, war für viele Sicherheitspolitiker, Forscher und Journalisten der Startschuss, um die alte Ordnung stärker in Frage zu stellen, als Trump selbst es täte.

Die Argumente der Befürworter konzentrieren sich auf drei Punkte, die einander bedingen und stützen. Der erste Punkt ist die Unberechenbarkeit Donald Trumps. Die Diskussion kreiste zu Beginn seiner Präsidentschaft vor allem um seine Aussagen über einen NATO-Auflösung und brachte so den Stein überhaupt erst ins Rollen. Seitdem hat sich das Argument mit jeder weiteren Eskapade Trumps weiterentwickelt. Die große Unsicherheit in der NATO-Frage wurde ersetzt durch eine noch größere Unsicherheit aufgrund von Trumps Auftreten auf der Weltbühne und seinen machtpolitischen Flirts mit Kim Jong-un und Wladimir Putin. Deutschland sei, wenn nicht schon der Feind Nummerr eins, so doch ein äußert lästiges Anhängsel, dass es loszuwerden gelte.

Die daraus resultierende Schutzlosigkeit Deutschlands trifft im zweiten Schritt auf die von allen Autoren geteilte unsichere Weltlage (siehe Iran und Nordkorea) und natürlich die Aggressivität Russlands. Nach der langsamen innenpolitischen Stabilisierung seit dem Untergang der Sowjetunion und den katastrophalen Jahren der Jelzin-Ära möchte Russland wieder eine Rolle in der Welt spielen. Wie auf der Krim und in Georgien zu beobachten sei, wolle Moskau sein altes Einflussgebiet wiederherstellen und womöglich gar erweitern. Das Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg auf Assads Bitte hin wird vom Autor als Nachricht an die Welt verstanden, Russland sei wieder da.

Daneben wird auch oft die militärische Doktrin Russlands genannt. Diese schließt einen nuklearen Erstschlag, einen sogenannten "First Use", nicht aus, sofern das Land existenziell militärisch bedroht wird.

Denn, drittens, wenn man die Bombe erst hat, so die Stimmen, kann man sogar sicherer leben. Die Abschreckung, die aus dem Besitz eines Arsenals entspringt, verhüte nicht nur nukleare Konflikte, sondern dämme auch konventionelle Krisen ein, so jedenfalls die Logik der atomaren Spieltheoretiker. Die Lösungsvorschläge schwanken zwischen zwei Alternativen. Einerseits kann könnte Deutschland eine nukleare Partnerschaft mit Frankreich eingehen. Das Nachbarland ist selbst NATO-Mitglied und verfügt über sein eigenes Abschreckungspotenzial. Andererseits könnte Deutschland, das wäre die radikale Lösung, eigene Atomwaffen herstellen. Dies schlägt unter anderem auch Hacke vor.

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Der Realitätscheck

Wie steht es aber mit der Stichhaltigkeit der Argumente? Ist Trump tatsächlich so unberechenbar, wie die Nuklearlobbyisten es uns weismachen wollen? Die Fakten widersprechen den Gerüchten. Nach wie vor werden US-amerikanische Atomwaffen in Deutschland erneuert, die Anzahl der Rotationstruppen an der NATO-Grenze zu Osteuropa wird auf um 4.000 auf 29.000 Soldaten aufgestockt. Die Teilnahme an Übungen stellt einen weiteren wichtigen Stützpfeiler des US-Engagements dar. Die in Polen abgehaltene multinationale Übung "Saber Strike 18" umfasste über 18.000 Soldaten aus 19 Ländern. Am Manöver "Saber Guardian" in Rumänien, Ungarn und Bulgarien nahmen 2017 sogar 25.000 Soldaten teil, davon 14.000 aus den USA.

Auch die fiskalische Seite spricht nicht für einen kurz- oder langfristigen Rückzug aus bestehenden NATO-Strukturen. Die USA waren und bleiben der größte Einzahler in die NATO mit 438 Millionen Euro, dicht gefolgt von Deutschland mit 319 Millionen Euro. Die "European Reassurance Initiative" (ERI), die Obama nach dem Referendum auf der Krim aufgelegt hatte, um Rotationskräfte an der NATO-Ostflanke zu finanzieren, lag 2017 bei 3,4 Milliarden Dollar und stieg 2018 sogar auf 4,7 Milliarden Dollar. Von einem Abschied der USA unter Trump kann also überhaupt keine Rede sein.

Auf der anderen Seite kann man schnell erkennen, dass die russische Bedrohung künstlich aufgebaut werden muss, um die eigene Rüstung zu rechtfertigen. Die Realität des russischen Militärhaushalts kann mit der Paranoia westlicher Falken leider nicht mithalten. Die Budget ist 2017 um 20 Prozent auf 66 Milliarden Dollar gekürzt worden. Das Budget der USA lag 2017 bei 610 Milliarden, das der NATO bei 958 Milliarden. Angesichts dieser Zahlen ist ein Szenario, in dem Russland ein NATO-Land angreift, schwer vorstellbar. Als zweiter Hinweis mag die Ausweitung der NATO bis an die Grenze Russlands genügen, die von westlicher Seite als Selbstverständlichkeit wahrgenommen, von Russland jedoch als falsche Entwicklung einer europäischen Sicherheitsordnung kritisiert wird.

Wer zudem meint, im Erstschlagsbekenntnis Russlands die endgültige Begründung für eine Wiederbewaffnung zu haben, wird auf den zweiten Blick enttäuscht sein. Die "No first use policy" (Verzicht auf den Erstschlag) ist seit den Bombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki ein andauerndes Thema in der strategischen Ausrichtung der Atommächte. Außer China und Indien hat bisher kein Staat, auch nicht die USA, seinen Verzicht auf den Erstschlag verkündet. Auf Russland allein zu blicken und das Land außer Acht zu lassen, das die Atombombe als einziges in Kriegen eingesetzt hat, bedeutete eine einseitige Perspektive.

Doch neben taktischen Problemen wird auch die rechtliche Seite von den Advokaten der nuklearen Option oft außer Acht gelassen. Um eine nukleare Komponente der Verteidigung zu erreichen, müssten auch weitreichende legale Probleme überwunden werden. Das bundesdeutsche Kriegswaffenkontrollgesetz verbietet die Entwicklung von Atomwaffen. Eine weitreichende Gesetzesänderung wäre notwendig. Auf internationaler Ebene ist es noch viel schwieriger.

Deutschland ist Unterzeichner des Vertrags zur Nichtverbreitungsvertrag nuklearer Waffen. Ein Ausstieg würde den Vertrag erheblich schwächen und eventuell andere Länder wie zum Beispiel die Türkei ermutigen, eigene Forschung zu betreiben. Deutschland müsste auch aus den Zwei-plus-vier-Verträgen aussteigen, die ebenfalls die Nutzung von Kernenergie zu militärischen Zwecken untersagen. Das würde einen Affront gegen die Länder bedeuten, die als Schutzmächte die Wiedervereinigung ermöglicht haben. Diese vielfältigen rechtlichen Absicherungen müssten erst überwunden werden. Das Resultat hätte weltweite Konsequenzen.

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Unabhängige Meinungen oder: Wer führt die Debatte?

Als erstes ließ sich Berthold Kohler vernehmen, Deutschland müsse das "ganz und gar Undenkbare denken" und sich nuklear bewaffnen. Gleichzeitig äußerte der CDU-Außenpolitikexperte Roderich Kiesewetter, man müsse die Frage eines europäischen nuklearen Schutzschirms ohne Denkverbote betrachten. Im Nachgang fühlten sich Kohler und Kieswetter missverstanden. Kohler schob Konjunktive vor, bei Kiesewetter hat wohl Merkel Sprechverbote verteilt. In einem Panorama-Beitrag sprach er nur noch von "einmaligem Denkanstoß". Freier redete da schon der Wissenschaftler Maximillian Terhalle im Januar 2017 im Tagesspiegel: Deutschland brauche notwendigerweise Atomwaffen.

In der Zeit diskutierten die Autoren Peter Dausend und Michael Thumann breit das Für und Wider einer vertieften atomaren Beteiligung Deutschlands in Europa, konkret mit Großbritannien oder Frankreich. Christian Hacke hat erst jüngst in der Welt den deutlichsten Vorstoß zur nuklearen Bewaffnung gemacht: Deutschland müsse sich bewaffnen. Regelmäßig lässt die FAZ auch Karl-Heinz Kamp zu Wort kommen, der, wenn auch kein Fürsprecher deutscher Atomwaffen , die weltweite atomare Abrüstung für einen schwerwiegenden Irrtum hält.

Die Beiträge stammen keineswegs von Unbekannten. Die Autoren sind auf dem Gebiet der Sicherheits- und Außenpolitik durchaus bekannt für ihre Arbeit. Kiesewetter ist CDU-Außenexperte und in mehreren Gremien zur Sicherheitspolitik aktiv. Kohler ist einer der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Christian Hacke ist Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP), ebenso wie Kiesewetter und Terhalle. Michael Thumann unter anderem Mitglied in der Transatlantic Academy. Karl-Heinz Kamp ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), in der Kiesewetter auch Mitglied ist. Rein zufällige Bekanntschaften?

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Universalantwort: Aufrüstung

Die DGAP, die BAKS und andere Denkfabriken sind wie ihre angelsächsischen Entsprechungen STRATFOR und Council on Foreign Relations Vereine, Gesellschaften und Stiftungen, die Politiker beraten und über Medien die öffentliche Meinung beeinflussen. Oft werden sie von Regierungen und Konzernen finanziert. Die Airbus Group oder das Auswärtige Amt spendeten jeweils einen sechsstelligen Betrag an die DGAP. Auf Sitzungen und Seminaren treffen sich Politiker, Wirtschaftslenker und Journalisten zum Gedankenaustausch. Das muss nicht automatisch Gleichheit im Denken bedeuten, aber es ergibt sich eine persönliche Nähe, wie am Beispiel Kiesewetter gezeigt wurde.

Allen oben genannten Denkfabriken ist gemein, dass sie auf sicherheitspolitische Fragen generell die gleiche Antwort haben: Aufrüstung. Der Tenor aller Wissenschaftler und Mitglieder läuft auf höhere Ausgaben und erweiterte militärische Verantwortung hinaus. Die Idee von der deutschen Friedensmacht, so reizvoll und idealistisch sie auch gewesen sei, zerschelle an der Wirklichkeit, die militärische Zurückhaltung müsse aufgegeben werden. (Man denke an die Worte des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck zum 50. Jubiläum der Münchner Sicherheitskonferenz!)

Scheindebatte mit festgelegtem Ausgang

Aber man wird jetzt einwenden: Es gebe doch viel und laute Kritik an den Vorschlägen. Und ja: Einseitig ist die Debatte keineswegs. Eine Vielzahl von Gegenstimmen aus Politik und Medien positioniert sich zu gern gegen die atomare Frage. Entweder aus Grundüberzeugung oder aus Opportunismus, denn "der pazifistischen und zunehmend antiamerikanischen Grundstimmung der Bevölkerung entgegenzukommen, ja, sie zu schüren, das macht Stimmung und bringt Stimmen!"

Dies hat Hacke richtig erkannt, und es ist das große Problem der Militaristen. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa von 2016 spricht sich die überwältigende Mehrheit der Deutschen, nämlich 85 Prozent, für den Abzug von Atomwaffen aus Deutschland aus. 93 Prozent befürworten sogar ein weltweites Verbot. 88 Prozent sind gegen die Modernisierung der in Deutschland gelagerten US-amerikanischen Atomwaffen. Der Pazifismus der deutschen Bevölkerung steht der atomaren Bewaffnung im Weg.

Was aber die Öffentlichkeit nicht ahnt: Die Debatte ist in den Denkfabriken längst entschieden. Der Konsens ist, dass Deutschland sich sicherheitspolitisch stärker positionieren und bei diesen Missionen "robuster" auftreten soll, was auch immer das heißen mag, sei es in einem zunehmend autonomen europäischen Umfeld oder innerhalb der NATO-Strukturen. Frankreich, selbst erst seit 2009 wieder Vollmitglied der NATO und bisher eifersüchtiger Hüter seiner nuklearen Autonomie, ist aus deutscher Sicht die erste Wahl. Aus Paris spürt man auch schon die zaghaften Impulse, sich von der nuklearen Unabhängigkeit, die für das Land wichtig, aber auch sehr teuer ist, zu verabschieden. Macron als pragmatischem Europäer wird in einer zukünftigen Nuklearpartnerschaft viel Vertrauen entgegengebracht.

Die deutsche Politik zieht derweil andere Fäden, aber in die gleiche Richtung. Das Rüstungsbudget wurde unter Ursula von der Leyen kräftig aufgestockt. Unter der verschleiernden These von "Ausrüsten statt Aufrüsten" wird die Armee beträchtlich erweitert. Außenpolitisch setzt die Regierung ebenfalls Akzente, indem sie sich einer Vereinbarung zum globalen Nuklearwaffenverbot entzieht. Die Eingreiftruppe PESCO stellt nur den ersten Schritt einer von Analysten lange geforderten Bildung europäischer Streitkräfte dar. Obwohl man einräumt, dass man sowohl in Frankreich als auch in Deutschland noch dicke Bretter bohren muss, um eine nukleare Partnerschaft zu erreichen, so wird doch das Ziel selbst kaum in Frage gestellt.

Meinungsartikel wie von Christian Hacke sollen die Atomfrage im öffentlichen Diskurs verankern, aber sie sollten nicht über die Realität hinwegtäuschen, dass, während an der medialen Oberfläche Debatten und Proteste toben, hinter den Kulissen bereits lange am Richtungswechsel gearbeitet wird. Zum Leidwesen der Bevölkerung, die von der Entwicklung meist nichts mitbekommt.

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